Migration statt Neuentwicklung

Tools bringen klassische Anwendungen ins Web

30.05.1997

In den vergangenen Jahren haben größere Unternehmen etliche Millionen Mark und viele Mannjahre in die Entwicklung ihrer Missioncritical-Lösungen investiert. Millionen Codezeilen in Cobol, CICS, Visual Basic und C++ sind entstanden. Unternehmen suchen deshalb nach Möglichkeiten, bestehende Applikationen oder zumindest Teile davon ins Web zu migrieren.

Aus diesem Bedürfnis heraus entwickelt sich derzeit ein Markt für Web-Applikations-Deployment-Werkzeuge. Nach Einschätzung der Gartner Group werden hier in diesem Jahr rund 150 Millionen Dollar umgesetzt. Bis zur Jahrtausendwende soll sich diese Zahl verzehnfachen.

Beim momentanen Angebot handelt es sich vor allem um Systeme, die nur solche Applikationen migrieren, die mit den herstellerspezifischen Entwicklungs-Tools erstellt wurden. Dennoch sind die Ergebnisse beachtlich. Bestes und elegantestes Beispiel hierfür ist "Lotus Domino" (www. lotus.com). Der Server übernimmt nahezu reibungslos "Lotus- Notes"-Anwendungen mit ihrer gesamten Funktionalität, erzeugt dynamische HTML-Seiten und stellt sie im Web zur Verfügung. Dieser Schritt erfordert allerdings ein Update von Lotus Notes 4.0 auf Lotus Domino 4.5.

Der Integration von klassischen Anwendungen in Internet-Umgebungen dient auch "Ixpress" von der Software AG (www.softwareag.com). Andere Hersteller haben ähnliche Produkte angekündigt, etwa Sybase den "Powersoft Jaguar Component Transaction Server" (www. sybase.com) oder Nat Systems "Natweb" (www. natsys.com).

Selbstverständlich können Applikationen bei dieser Vorgehensweise mit den vorhandenen Entwicklungs-Tools wie gewohnt verändert oder ergänzt werden.

In größeren Unternehmen und Organisationen werden durchschnittlich rund 20 Werkzeuge und Programmiersprachen genutzt, nur ein Teil davon ist für den Einsatz im Web interessant. Proprietäre Deployment-Tools sind dabei naturgemäß wenig hilfreich; wichtiger wären Werkzeuge, die die Gesamtheit dieser Anwendungen integrieren und ins Web migrieren können.

Es gibt eine Reihe von Newcomern, die sich auf das Web konzentrieren und solche Systeme anbieten. Diese Hersteller offerieren in der Regel jedoch keine reinen Deployment-Tools, sondern Allround-Werkzeuge, in denen eine umfassende Entwicklungsumgebung im Mittelpunkt steht. Haht beispielsweise bietet mit "Haht- site" ein Management-System an, mit dem sowohl Webseiten erstellt, Link- und Resource-Management übernommen als auch eigene Applikationen entwickelt und im Web verteilt werden können (www.haht.com). Darüber hinaus kann "Hahtsite" existierende Applikationslogik über eine spezifische Programmier-Schnittstelle nutzen, falls die Applikation über ein C-Interface verfügt.

Ein ähnliches Konzept verfolgt Bluestone (www.bluestone.com) mit dem Produkt "Sapphire/ Web". Im Kern handelt es sich dabei um eine Entwicklungsumgebung mit der theoretischen Möglichkeit, existierende Applikationen und Scripts wiederzuverwenden - unabhängig von der benutzten Sprache. Das gleiche gilt für "Net Dynamics" vom gleichnamigen Hersteller (www.netdynamics.com), einem Tool, das auch Peoplesoft- und SAP-Applikationen unterstützt.

Auch das Produkt "Autobahn" von der Firma Speedware (www. speedware.com) verbindet Applikationen, die in der eigenen Entwicklungsumgebung erstellt wurden, mit bereits bestehenden Lösungen. Weitere Produkte in diesem Umfeld sind "Wallop Built-In" (www.wallop.com) und "Prolifics", beide von gleichnamigen Herstellern (www. prolifics.com).

Centuras (www. centurasoft. com) "Fore-Site" stellt eine reine Integrationsplattform dar. Entwicklungs- und Web-Tools können unabhängig davon eingesetzt werden. Fore-Site wird im High-end-Bereich positioniert. Die Architektur des Deployment-Tools sieht vor, daß Applikationen über sogenannte System Integration Modules (SIMs) migriert werden. Zentrale Aspekte sind zudem Skalierbarkeit und Fehlertoleranz.

Einen anderen Weg geht Tempest mit dem "Tempest Messenger" (www.tempestsoft.com). Die Middleware arbeitet Message-orientiert, also asynchron, leitet eine Anfrage E-Mail-ähnlich an die Server-Anwendung und übernimmt die Rückgabe der Antwort. Unterstützt werden Entwicklungsumgebungen wie Delphi, Visual Basic, C++, Centura Team Developer oder SQL Windows. Der mehrschichtige Aufbau ist allen Anbietern gemeinsam - er ist die logische Fortführung der Client-Server-Architekturen.

WEB-ANBINDUNG

Das Problem beim Aufbau einer produktiven Web-Umgebung besteht nicht eigentlich in der Anbindung selbst. Schnittstellen dafür existieren. Dasselbe gilt für Firewalls und Web-Seiten-Generatoren. Woran es jedoch fehlt, sind Werkzeuge, die helfen, eine dauerhafte Infrastruktur für gemischte Web-, Server- und Mainframe-Umgebungen aufzubauen, damit die Programmierer nicht bei jeder Änderung, jedem Upgrade wieder von vorn anfangen müssen. Diese Marktlücke ist nun von den Tool-Anbietern entdeckt worden.

*Alain Blaes ist Geschäftsführer von PR-COM in Martinsried bei München.