Auf der Suche nach Wegen aus der Personalmisere

Ticket in die IT-Welt für Quereinsteiger

30.10.1998

Handwerker und Lehrer werden Programmierer. Manchen IT-Profis ringen solche Karrieremodelle nur ein müdes Lächeln ab, in den 60er und 70er Jahren waren sie allerdings Realität. "Mein bester Programmierer war zuvor Bäcker", erinnert sich Helmut Volkmann von Siemens, der in den Pionierzeiten der Branche eine DV-Abteilung in Berlin aufbaute.

Vor 30 Jahren wurde die Informatik als Studienfach an den Hochschulen eingeführt, im vergangenen Jahr entließen Deutschlands Universitäten und Fachhochschulen 8000 Informatiker und Wirtschaftsinformatiker. In den Augen der expandierenden Unternehmen sind das viel zu wenige. Selbst wenn man die 14000 Elektrotechnikingenieure, die 1997 ebenfalls ihr Studium abschlossen, noch als Wunschkandidaten der IuK-Branche betrachtet, klafft eine enorme Beschäftigungslücke: So hat der Bundesverband Informations- und Kommunikationssysteme (BVB) hochgerechnet, daß jährlich zwischen 15000 und 25000 mehr "Wissensarbeiter" vergeblich gesucht werden.

"Wir müssen für das Informatikstudium verstärkt an den Schulen werben", forderte Ernst Denert vom Münchner Softwarehaus sd&m auf der Systems. Es könne nicht angehen, daß Informatik für Einserabiturienten gegenüber Jura oder Medizin keine Alternative sei. "Wir brauchen hochqualifizierte Mitarbeiter, und die können nur aus den Hochschulen kommen", so Denert. Das Informatikstudium sei zu Recht so schwer, da auch komplexe Softwaresysteme nicht ganz leicht zu verstehen seien. Dem hielt SiemensMann Volkmann entgegen, daß nicht nur die Hochschulen logisches Denken vermitteln: "Wir wären gut beraten, neue Wege des Lernens zu finden."

Auf die pünktliche Lieferung der Hochschulen können viele Firmen nicht mehr warten. "Der Mangel ist mittlerweile so groß, daß wir es uns nicht mehr leisten können, Stellenanzeigen nur auf Hochschulabsolventen zuzuschneiden", bestätigt Helmut Fleischmann, Geschäftsführer der Brain Force GmbH, Unterschleißheim.

Allein bis Ende 1999 will das mittelständische Beratungshaus 150 weitere Mitarbeiter einstellen. Darum gibt Fleischmann auch Quereinsteigern eine Chance, zumal er weiß, daß lange Erfahrungen in der Branche den Wissensvorsprung durch ein Studium wieder wettmachen.

Dafür ist Jungunternehmer Patrick Gruban das beste Beispiel: Nach dem Abitur wollte er ein Numerus-Clausus-Fach studieren, sein Notendurchschnitt reichte nicht, und so begnügte er sich mit einer Ausbildung zum Kommunikationswirt. Heute ist der 23jährige Münchner gemeinsam mit drei Informatikern Geschäftsführer von Cassiopeia, einem Unternehmen, das sich auf die Entwicklung von Internet-Software spezialisiert hat und im zweiten Geschäftsjahr bereits einen Umsatz im einstelligen Millionenbereich macht. "Das große Problem ist, daß viele meinen, ohne Studium in der Wirtschaft keine Chance zu haben." Auch wenn mehr als jeder Dritte in der Branche einen Hochschulabschluß vorweisen kann - bei mittelständischen Betrieben ist es jeder zweite -, öffnen sich immer mehr Unternehmen auch anderen Zielgruppen.

So kooperiert die Software AG mit dem lokalen Arbeitsamt, um gemeinsam arbeitslose Akademiker und Studienabbrecher zu Anwendungsentwicklern auszubilden. Die Behörde finanziert den Unterhalt der Teilnehmer, und das Darmstädter Softwarehaus stellt Training, Equipment und Dozenten zur Verfügung. "Wir werden einen Großteil der Kandidaten selbst übernehmen", meint Software-AG-Personal-Manager Reiner Fritsch. Sein Unternehmen benötige nicht für jede IT-Tätigkeit einen studierten Informatiker.

Mirko Appel, Human Resource Manager beim Frankfurter Beratungshaus Cambridge Technology Partners, hat gute Erfahrungen mit Seiteneinsteigern gemacht. "Die Zeiten der starren Anforderungen und Auswahlkriterien sind längst vorbei". Wer heute Bewerber nach Noten und Alter auswählt, "macht viel falsch". Ihn interessiere nur der Lebenslauf.

Wenn ein Spezialist in objektorientierter Programmierung zu Cambridge komme, unterhalte sich ein interner Experte mit ihm. Danach folgt das sogenannte "cultural interview", damit die Firma feststellt, "ob die Chemie stimmt". Wenn beide Gespräche positiv verlaufen sind, kann der Bewerber mit einer Festanstellung rechnen. Wenig Verständnis hat Appel für kleine Firmen, die grundsätzlich kein Interesse an Mitarbeitern von Großkonzernen zeigen, wie dies auf der Systems öfters zu hören war. Es sei ein Vorurteil, daß diese Beschäftigten weniger mobil, flexibel und anpassungsfähig sind.

Eine gute Möglichkeit für Quereinsteiger, in der IT-Branche zu starten, ist, sich über eine Zertifizierung wie den Microsoft Certified Systems Engineer (MCSE) zu qualifizieren. "Das ist zur Zeit der Knaller auf dem Markt. Der Einstieg ist garantiert", sagte Werner Brendli vom Münchner Arbeitsamt. Da die Zertifizierung allerdings an Firmen wie Microsoft, Cisco, Oracle oder Compaq gebunden ist, warnt Brendli davor, sie mit einem Informatikstudium gleichzusetzen. Die produktlastige Ausbildung ist nur die Eintrittskarte, die ihren Wert schnell verliert, wenn sich der Mitarbeiter nicht durch die entsprechende Leistung auszeichnet.

Entspannung des überhitzten Marktes erhoffen sich die Unternehmen auch durch die neuen Ausbildungsberufe. Ob nun Fachinformatiker, Kaufmann für informationstechnische Systeme oder Elektroniker - Angebot und Nachfrage steigen. Allein in München haben sich 1998 bereits 360 Jugendliche für die Ausbildung zum Kaufmann für informationstechnische Systeme interessiert, 1997 waren es gerade einmal 27.

Die Deutsche Telekom setzt stark auf ihren IT-Nachwuchs und bildet in den neuen Berufen aus, bietet aber auch Trainingsprogramme für Abiturienten an. Telekom-Ausbildungschef Joachim Kohlhaas ist überzeugt, daß sich die IT-Personallandschaft auf einen Strukturwandel einstellen muß. Das, was in anderen Branchen selbstverständlich sei, werde nun auch in der IT Einzug halten: Es wird ein Unterbau an IT-Sachbearbeitern ohne Studium entstehen, der zu einer Entspannung auf dem Arbeitsmarkt führe. Die Hochschulabsolventen müßten noch besser werden. Denn die IT-Handwerker werden in der Lage sein, Jobs auszuüben, die bisher von Uni-Abgängern besetzt wurden, ist der Telekom-Manager überzeugt.

Wenn mittelfristige Maßnahmen wie die neuen Ausbildungsberufe und die verstärkte Werbung für das Informatikstudium greifen, können die Unternehmen in einigen Jahren aufatmen. Und der IT-Nachwuchs? Der wird sich wärmer anziehen müssen, sagen die einen, während die anderen die Zukunft sogar noch rosiger sehen als die Gegenwart: "Wenn das Jahr 2000 erst einmal vorbei und der Euro da ist, können wir endlich die Projekte anpacken, die Spaß machen", prophezeit Fleischmann von Brain Force. Auch Jürgen Stehle, Geschäftsführer des Schulungsunternehmens CDI, glaubt, daß sich IT-Experten keine größeren Sorgen machen brauchen: "Es werden alle unterkommen, aber sicherlich nicht mehr zu den horrenden Gehältern, wie sie heute gezahlt werden.