Die Informatik-Gemeinde steht vor einem Systemeinbruch (Teil 2)

Thesen zur Zukunft offener und proprietärer Systeme

10.11.1989

Proprietäre Systeme beherrschen weitgehend auch heute noch die DV-Welt. Immer mehr jedoch werden sie zu Zwangsjacken, spätestens dann, wenn es um die Realisierung unternehmensüberschreitender Lösungen geht. In zehn provokanten Thesen fordert Bernhard R. Bachmann Freiheit für Anwender und Systeme.

1. Die Geschichte der IT ist dadurch gekennzeichnet, daß jeder Hersteller - aus naheliegenden oder zumindest vordergründigen kommerziellen Gründen - versucht hat, seine Kunden in seine proprietären. Architekturen einzusperren. Entwicklungen, die es einem Kunden ermöglicht hätten, ohne allzu großen Aufwand den Hersteller zu wechseln, waren lange Jahre wie Weihwasser für den Teufel. Allerdings wurde dabei, aus Bequemlichkeit, wie ich annehme, übersehen, daß jede Öffnung nicht nur die Gefahr mit sich bringt, daß andere in eigene Gärten eindringen, sondern auch die Chance bringt, in andere Gärten vorstoßen zu können. Dadurch allerdings, daß einige Hersteller damit begannen, selbst mehrere unverträgliche Systemarchitekturen anzubieten, die zu integrieren mindestens soviel Kopfschmerzen bereiteten wie die Integration von Produkten verschiedener Hersteller, wurde diese ganze "Gartenlauben"-Strategie wohl unfreiwillig ad absurdum geführt.

Customer-lock-in-Strategie ist nicht mehr akzeptabel

Der Markt für die Informationstechnik ist als einer der wenigen Markte dadurch gekennzeichnet, daß für einen Benutzer erst nach dem Kauf der Hardware und der Basis-Software die eigentliche Arbeit so recht beginnt, und daß die Investitionen in die Anwendungssoftware die Hardwarekosten bereits heute häufig übersteigen. Der Umstand, daß diese Investitionen bei einem Herstellerwechs de facto wertlos werden hat einen sich selbst stetig verstärkenden Druck auf die Erhaltung bestehender Marktstrukturen ausgeübt und nicht unwesentlich zur äußerst einseitigen Dominanz eines einzigen Herstellers geführt.

Die "Customer-lock-in"-Strategie vieler Hersteller ist in Anbetracht der fundamentalen Bedeutung der IT - einer echten Basistechnik, ohne die heute kaum jemand mehr irgendwelche Marktleistungen erbringen kann, für die Benutzerindustrie als Ganzes schlicht nicht mehr akzeptabel.

2. Offene Systeme sind geeignet, die tradierten Strukturen der Informatikszene langsam und stetig aufzubrechen. Sie ermöglichen es weitsichtigen Benutzern, ihre Informatikprobleme in Teilbereichen weitgehend herstellerunabhängig zu lösen und in der Verbindung von IT-Komponenten, die der Welt der offenen Systeme zugehören, mit eigenständigem Unternehmens spezifischem Mehrwert innovative Produkt-Erneuerungsprozesse anzustoßen und durchzuführen.

Offene Systeme sind allerdings kein Allheilmittel; mit offenen Systemen können keine Wunder vollbracht werden, schon gar nicht über Nacht, und noch weniger "geschenkt"! Die Auseinandersetzung mit den Chancen und Problemen offener Systeme erfordert Sachkompetenz und den Willen, liebgewordene Gewohnheiten und Einkaufsbeziehungen kritisch in Frage zu stellen und deren Stellenwert sehr nüchtern am realen Nutzen für das Unternehmen zu messen. Dies ist nicht so sehr eine technische Frage, sondern eine Herausforderung für die obersten Führungsetagen, die sich bewußt machen müssen, daß die heutige Generation von Informatickadern und -spezialisten in 20 Jahre alten proprietären Strukturen ge- und befangen, nicht ohne weiteres bereit und fähig ist, die offenen Systeme als Chance für das Unternehmen zu begreifen und zu packen. Hier sind kritische Anstöße "top down- wünschenswert und dringend erforderlich.

Unternehmen, die nicht schon lange erkannt haben, daß die Informatik eine zu wichtige Angelegenheit ist, um sie den Spezialisten zu überlassen, werden darunter noch zu leiden haben.

3. "Offene Systeme" eliminieren eine Reihe von Problemen, die bisher der Realisierung komplexer heterogener Systeme im Wege standen. Sie dürfen aber auch nicht überschätzt werden, denn sie erleichtern ausschließlich die "lntegration" im Sinne des technischen Zusammenbaus heterogener Komponenten oder Subsysteme in ein technisch funktionierendes Ganzes.

4. "Offene Systeme" werden - während einigen Dezennien - "proprietäre Systeme" nicht er setzen. Die IT-Gemeinde muß sich darauf vorbereiten, während langer Zeit ein reibungsloses Nebeneinander "offener Systeme" und "proprietärer Systeme" zu ermöglichen und alle Facetten dieser Coexistenz-Herausforderung zu beherrschen.

Diese Annahme beruht

- auf dem Bedürfnis, die bereits in proprietäre Systeme getätigten Investitionen zu schützen. (Selbst wenn es sich ein Unternehmen rein finanziell leisten könnte, seine bestehenden proprietären Systeme durch offene zu ersetzen, würde die für eine entsprechende Konversion nötige Arbeitskapazität fehlen). Zusätzlich beruht diese These

- auf der a priori wettbewerbsneutralen Rolle offener Systeme: Sie sind per definitionem stangenfertig und können nicht zur Produktdifferenzierung beitragen.

Deshalb werden wir eine langsame, graduelle Bewegung erleben: von den heutigen total proprietären Systemen zu proprietären Systemen mit offenen Eigenschaften hin zu offenen Systemen mit proprietären Eigenschaften.

5. Die Art und Weise, wie sich Informatik-Produzenten derzeit auf die Welt der offenen Systeme einstellen, ist ein Trauerspiel. Es scheint noch nicht erkannt worden zu sein, daß Kunden und Anwender es sich nicht mehr lange bieten lassen werden, daß Hersteller sich darauf kaprizieren, im Schafspelz vor Einrichtungen wie OSF (Open Software Foundation) aufzutreten, in Wahrheit aber - wohlverstanden auf dem Buckel ihr er Kunden - als Wölfe das Entstehen eines einzigen Standards als Grundlage von offenen Systemen zu hintertreiben oder mindestens zu verlangsamen.

Käuferkartelle werden Standards setzen

Ich prognostiziere - wenn dieses Trauerspiel weitergeht - das Entstehen von Käuferkartellen, die mächtig genug sind, um diesen einen Standard, den wir alle so dringend benötigen, zu setzen. Das Beispiel von General Motors, die im wesentlichen den Standard MAT/TOP allein durchgesetzt haben, soll meine These illustrieren.

6. Es heißt so schön: "Die Lösung eines Problems verändert das Problem..." Das Erscheinen wirklich offener Systeme und deren Kopplung untereinander und mit proprietären Systemen bringt das fundamental neue und bezüglich Größe und Schwierigkeit beängstigende Problem der Beherrschbarkeit solcher Systeme an den Tag.

Was meine ich damit? Die Beherrschbarkeit komplexer Informationssysteme befindet sich bereits heute an der Grenze des Machbaren. Der Verbund proprietärer mit offenen Systemen erhöht die Anforderungen an das Management solcher Systeme ganz wesentlich, und zwar vor allem in den Teilbereichen Software-Entwicklung, Systembetrieb und Sicherheit.

7. Die heute gültigen und im Entstehen begriffenen Standards genügen bei weitem nicht, um den produktiven und sicheren Verbund heterogener Komponenten in integrale Systeme zu unterstützen und um die Führbarkeit: solcher Systeme zu gewährleisten. Alle vorliegenden Standards begnügen sich mit der technischen Verbindbarkeit von Systemen. Hier ist die Rede von der Anwendbarkeit. Diese setzt voraus, daß der "achte" Layer definiert wird. Ich, postuliere - mit allen Vorbehalten gegenüber einer Beinhaltung der heute so modischen Architekturen - eine all diesen Problemkreisen übergeordnete umfassende Systems Management Architecture, die alle wesentlichen Rahmenbedingungen definieren soll, unter denen zukünftige komplexe Informationssysteme entworfen, entwickelt und betrieben werden sollen.

8. Offene und integrale heterogene Systeme implizieren für alle Komponenten weltweit anerkannte und der Öffentlichkeit gehörende Standards.

Standards hemmen den Fortschritt

Es ist eine bekannte Tatsache, daß Standards Kreativität einschränken, gewissermaßen fortschritthemmend sind oder sein können. Es gibt nun aber kein Naturgesetz, gemäß dem dieser Zielkonflikt grundsätzlich zugunsten Kreativität gelöst: werden müßte. In unzähligen Bereichen des Lebens ist es für uns alle selbstverständlich, daß wir die Kreativität oder die Freiheit der Bequemlichkeit, der Produktivität, der Sicherheit et cetera opfern.

Diese grundlegende Problematik gilt natürlich auch für die Informatik, besonders dann, wenn es darum geht, einer noch unreifen Technik zu früh die "kirchliche Imprimatur" einer anerkannten Standardorganisation. Aber die Geschichte der Informatik gibt kaum Anlaß zur Befürchtung, daß der Standardisierungsprozeß zu früh einsetzt und unreife Sprößlinge an der weiteren Entfaltung hindert.

Es geht nun bei der Forderung nach offenen Systemen keinesfalls darum, alles und jedes normieren zu wollen. Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, daß alle Probleme der Welt sich mit Standardlösungen erledigen lassen. Es soll aber durchaus der Eindruck erweckt werden, daß es nicht für jedes Problem oder jede Schicht eines Problems einer neuen kreativen Lösung bedarf.

Es ist auch zu bedenken, daß sowohl Standards als auch Kreativität keine Werte an sich sind, jedenfalls nicht in einem wirtschaftlichen Umfeld.

Problemlöser, um sich anzutoben

Offene Systeme sind ein guter und notwendiger Ansatz, der Kreativität der Problemlöser den Freiraum zu schaffen, den sie brauchen, um sich dort, wo es zählt, nämlich bei der Substanz, austoben zu können.

Zum Kern offener Systeme gehören die Schnittstellen zum Betriebssystem, zum Daten-Danksystems die Telekommunikation und gewisse Telekommunikationsdienste, sowie das Man-Machine-Interface, einschließlich dem sogenannten Windowing-System. Hier besteht ein akuter Standardisierungsbedarf An diesen Schnittstellen ist aus Sicht einer produktiven und effizienten Nutzung der Informatik keine Kreativität gefragt, beziehungsweise nur die Kreativität, die Stabilität und Kontinuität bringt, ohne dabei den Fortschritt zu ersticken Und insbesondere müssen diese Schnittstellen der Öffentlichkeit gehören. Es ist inakzeptabel, daß Fundamente der Informationstechnik der Willkür einzelner Marktteilnehmer ausgesetzt bleiben, die sich ausschließlich - allerdings legitimerweist solange sich niemand wehrt - an der eigenen Rentabilität orientieren.

9. Die Produkte der IT-Industrie erhalten mehr und mehr den Charakter von "Commodities". Der Wert dieser Produkte liegt nicht in ihnen selbst, sondern primär bis ausschließlich in deren intelligenter Verwendung Somit besteht gar kein Anlaß mehr, die einzelnen IT-Produkte durch proprietäre Eigenschaften zu differenzieren. Die neue Differenzierung hat durch Eigenschaften wie Preis, Lieferbarkeit. Zuverlässigkeit, Leistung, Integrations-Dienstleistungen et cetera zu erfolgen. Die Informatikhersteller müssen radikal umdenken. Wenn dieser Umdenkprozeß nicht rasch, spontan und fundamental stattfindet, besteht die große Gefahr einer neuen Art von Staatsinterventionen, die weder den Herstellern noch den Benutzern dienen

10. Es ist noch ein weiter Weg von den heutigen überwiegend proprietaren Systemen zu proprietären Systemen mit offenen Eigenschaften hin zu offenen Systemen mit proprietären Eigenschaften und erst recht bis hin zur Definition der postulierten Systems Management Architecture und zur Realisierung kohärenter offener Anwendungen zur Unterstützung der System-Entwicklung, des Systembetriebs und zur Sicherung der Systemsicherheit in komplexen Systemen. Niemand wird diesen Weg im Alleingang schaffen

wird fortgesetzt

Bernhard R. Bachmann ist stellvertretender Direktor und Leiter der Abteilung Neue Technologien bei der Schweizerischen Bankgesellschaft (SBG)

Über die Bedeutung offener Systeme für die Informationswirtschaft trug Bernard R. Bachmann auf dem Kongreß "Strategisches Informationsmanagement - Geschäftserfordernisse und Technik im Februar 1989 gleichnamige Überlegungen vor. Der COMPUTERWOCHE-Beitrag basiert auf diesem Vortrag, der in der Kongreß-Dokumentation - zusammen mit zwölf weiteren Fachbeiträgen - veröffentlicht wurde. Veranstalter war CSE Conferences, Seminars, Education, die Kongreßabteilung der IDG Communications Verlag AG, München.

Informationen: CSE Conferences, Seminars, Education, IDG Communications Verlag AG, Rheinstraße 28, 8000 München 40, Telefon 0 89/3 60 86-1 69