IT im Anlagenbau

Termintreue hat erste Priorität

21.02.1997

Seine allzu lange Zurückhaltung hat bewirkt, daß der Anlagenbau etlichen anderen Industriebranchen in puncto integriertes Informations-Management deutlich hinterherhinkt. Die verantwortlichen Manager befürchteten, daß ein Rechnersystem für die vielen konkurrierenden Interessen und den hohen Improvisationsgrad zu unflexibel sei und deshalb leicht zum Stolperstein werden könnte. Viel lieber setzte man auf Management by Chaos als auf Software. Bei der Starrheit herkömmlicher PPS-Systeme (PPS = Produktionsplanung und -steuerung) war dies durchaus verständlich, denn man mußte die Integration häufig mit der Trägheit hoher Komplexität bezahlen.Doch seit die deutschen Anlagen- und Maschinenbauer international unter Druck geraten sind, ändert sich die Lage. Mehr noch als in anderen Branchen herrscht weltweiter Wettbewerb. Gleichzeitig werden auch hier die Innovationszyklen kürzer, weshalb der Kunde ein schnelleres Time to market fordert. Stärker noch als auf Kosten achtet er darauf, daß der Partner auch komplexeste Anlagen in möglichst kurzer Zeit pünktlich liefern kann. Das Vertrauen in diese Lieferfähigkeit ist meist das entscheidende Kriterium bei der Auftragsvergabe.

Damit mußte sich zwangsläufig auch die Einstellung gegenüber DV-Unterstützung ändern: Immer mehr Anlagenbauer suchen heute nach flexiblen Systemen, die die komplexen Herstellungs- und Montageprozesse ihrer Produkte unterstützen können.

Da der Anlagenbau ein anderes Ziel als die Serienfertigung verfolgt, sind die Lösungen, die man von der Informationsverarbeitung erwartet, entsprechend unterschiedlich. Beim Industriebetrieb, der seine Produkte in Serien fertigt, geht es um die Herstellung großer Mengen in möglichst kurzer Zeit und zu möglichst geringen Kosten. Deshalb stehen im Mittelpunkt die Senkung der Durchlaufzeiten und die Auslastung der Produktionskapazitäten. Die wichtigste Meßgröße sind die Kosten der herzustellenden Produkte.

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

Anders im Anlagenbau: Oberste Priorität hat hier die Termintreue. Wer nicht zum vertraglich vereinbarten Termin liefern kann, muß empfindliche Konventionalstrafen zahlen. Hier gilt also im wahrsten Sinne des Wortes: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Die ABB Daimler-Benz Transportation, kurz Adtranz, beispielsweise hat für die Fertigung der ICE-Lokomotiven ein beispielhaftes Werkstattsteuerungssystem aufgebaut und will damit die Zeit der Auftragsabwicklung deutlich verkürzen. "Am schwierigsten war die Abbildung der komplexen Netzstruktur", erklärt Norbert Stauber, Manager bei der Stuttgarter Sligos Industrie GmbH, die das System lieferte.

Um die Größenordnung zu verdeutlichen: Die Herstellung und Montage einer einzigen Lok bedeutet, daß 10000 Fertigungsaufträge "lebendig" sind. Das heißt, daß rund 180000 Arbeitsaufträge parallel geplant, verfolgt und aufeinander abgestimmt werden müssen. Stauber: "Eine solche Menge sicher in den Griff zu bekommen ist nicht einfach."

Losgröße 1 in der Fertigung bedeutet, daß es im Unterschied zum Serienbau keine fertigen Stücklisten und keine DV-technisch greifbaren Erfahrungswerte gibt. Die Produktion beginnt an vielen Stellen parallel und wächst erst allmählich zusammen.

Täglich müssen Änderungen durchgeführt und neue Entscheidungen getroffen werden, beispielsweise ob die Produktion eines Teils aus Kosten- oder Termingründen besser ausgelagert wird. Aufgabe eines Werkstattsteuerungssystems ist es, eine vorangehende Planung gegen konkurrierende Ressourcenbedarfe, Interessen und Kompetenzen durchzusetzen. Das kann nur über eine transparente, integrierte Darstellung der Fertigungsaufträge und eine extrem hohe Flexibilität des Systems gelingen.

Neuere Produktionsleitsysteme wie das von Sligos (früher Ikoss) entwickelte "Icam +" setzen auf flexibles Ressourcen-Management. Derartige Lösungen schließen die Lücke zwischen PPS-Systemen und der Produktion. Dabei ist es wichtig, daß sämtliche Informationen zu einem Kundenauftrag ganzheitlich betrachtet werden. Das Leitsystem umfaßt alle Funktionen, die zur Produktionssteuerung und -durchführung relevant sind: vom Materialfluß über Fertigungssteuerung und Werkzeugverwaltung bis hin zum Betrieb der DNC-Maschinen (DNC = Distributed Numerial Control). So entsteht eine maximale Transparenz im Fertigungsgeschehen. Sie ist besonders bei komplexen Aufträgen mit einer hohen Teilevielfalt, wie sie im Anlagenbau typisch ist, für eine effiziente Produktion unabdingbar.

Das Risiko, daß bei einer großen Teilevielfalt der Zeit- und Kostenrahmen gesprengt wird, ist enorm hoch. Der Nutzen eines DV-gestützten Ressourcen-Managements liegt in der kontinuierlichen Überwachung der Fortschritte, die der Kundenauftrag macht. Die Verantwortlichen sehen sofort, wo es klemmt, und können gegebenenfalls mit einer Ausweitung der Kapazitäten oder mit Outsourcing reagieren und eventuelle Probleme beseitigen.

Ganz wichtig sind flexible Terminierungsstrategien. Gerade im Anlagenbau muß aufgrund aktueller Änderungen und fehlender Erfahrungswerte oft improvisiert werden. Deshalb sollte das System dem Benutzer vor Ort viel Freiheit lassen bei der Disposition, andererseits aber sicherstellen, daß alle Aktivitäten bereichs- und vielleicht sogar standortübergreifend koordiniert sind. "Der Anlagenbau braucht ein ausgetüfteltes Ressourcen-Management", bringt Stauber die Anforderungen auf den Punkt. "Wichtig ist vor allem, daß die Transparenz genutzt werden kann, um die Produktionsplanung beweglich zu halten."

Was heißt das? Das System muß alle Ressourcen simultan betrachten - von den Kapazitäten bis hin zu Spannskizzen, NC-Code, Werkzeugen, Meß- und Prüfmitteln, Vorrichtungen, Transportmitteln etc.

In jüngster Zeit sind neue konfigurierbare Lastenverteilungs- und Terminierungsfunktionen verfügbar, die die Strategie der autonomen Gruppen und die Koordination über alle Produktionsgruppen oder Segmente hinweg sicherstellen.

Bei der Reihenfolge der Produktionsaufträge suchen moderne Leitsysteme den Dialog mit dem Benutzer. Icam + beispielsweise hat einen Terminierungsautomaten, den der Bediener individuell konfiguriert. Im Hintergrund werden die Fertigungsaufträge auf Machbarkeit überprüft und im Spannungsfeld zwischen Wunschtermin und verfügbaren Kapazitäten eingelastet. Dem Meister in der Werkstatt werden Störungen, Engpässe oder Kollisionen sofort angezeigt. Die Dominanz der Entscheidung bleibt beim Benutzer. Man spricht deshalb auch von Management Executive System (MES). Diese Flexibilität und Benutzerorientierung war für Adtranz ein wesentliches Entscheidungskriterium.

Mit dem Siegeszug integrierter Anwendungssysteme auf Client-Server-Basis werden auch die alten, Host-basierten PPS-Lösungen durch eine neue Generation von Planungs- und Steuerungsprogrammen abgelöst. Die Anbieter produktionsnaher Werkstattlösungen sehen in der neuen Generation von Standardsystemen für die Produktionsplanung und -steuerung jedoch keine Konkurrenz. Bei Adtranz ist für PPS-Aufgaben die R/3-Standardsoftware von SAP eingesetzt. Trotz etlicher Vorteile ist es nicht in der Lage, die Feindisposition zu gewährleisten. Sligos-Manager Stauber: "Je näher wir an die Produktion kommen, desto größer werden die Besonderheiten. Ein integriertes Standardsystem, das all diese Eventualitäten berücksichtigen würde, wäre viel zu schwerfällig. Ich bin überzeugt, daß es für dedizierte Aufgaben auch weiterhin dedizierte Systeme geben wird."

Das Werkstattsteuerungssystem bei Adtranz ist seit einem halben Jahr in Betrieb. "Am wichtigsten", sagt Stauber rückblickend, "ist ein fundiertes Projekt-Management." Wenn das Fachwissen des Anwenders im Projektteam nicht angemessen repräsentiert ist, führt das Vorhaben seiner Erfahrung nach in eine Sackgasse. Das gilt für den Anlagenbau mehr als für andere Industriebereiche, weil es immer um Einzelstücke geht und wenig standardisiertes Wissen vorliegt. Die Partner müssen sich auf einen ständigen Optimierungsprozeß einstellen, bei dem immer wieder neue Funktionalitäten zu ergänzen sind, die sich aus konstruktiven und planerischen Änderungen ergeben. Häufig wird unterschätzt, daß im Anlagenbau die Entscheidung für ein DV-System für das fertigungsnahe Umfeld weitreichende Konsequenzen hat: Es findet ein Wandel bis hin zu einem höheren Organisationsgrad statt. Diese Umsetzung erfordert Kraft und Durchsetzungsvermögen. Doch am Ende zahlen sich die Anstrengungen aus.

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Der Anlagenbau muß sich auf einen ständigen Optimierungsprozeß einstellen, bei dem immer wieder neue Funktionalitäten zu ergänzen sind, die sich aus konstruktiven und planerischen Änderungen ergeben. Eine Festlegung auf ein bestimmtes DV-System hat weitreichende Konsequenzen: Es findet ein Wandel bis hin zu ei- nem höheren Organisationsgrad statt. Ein fundiertes Projekt-Management ist das wichtigste, sagen Praktiker.

*Heidrun Haug ist Fachjournalistin in Tübingen