Telework '94: Gute Ansaetze - Warten auf Ergebnisse New Ways to Work auf der Basis weitgehend alter Philosophien

11.11.1994

BERLIN (gh) - Parlamentarier aller Laender, vereinigt euch - zum Wohle einer europaeischen Initiative fuer die Telearbeit! So koennte man sinngemaess die Botschaft zusammenfassen, die von der ersten EU- Konferenz "Telearbeit und neue Wege in die Welt der Arbeit von Morgen" ausging. Der Aufbruch des Alten Kontinents in die neue Informationsgesellschaft darf jedenfalls nach Auffassung vieler Experten nicht nur in einer digitalisierten Fernsehwelt enden, sondern muss und wird nachhaltig die Um- und Arbeitswelt veraendern - und das Teleworking soll dabei eine zentrale Rolle spielen.

Die Foerderung von Telearbeit geniesst "Topprioritaet" bei der Bruesseler EU-Kommission, fasste Michel Carpentier, Chef der Generaldirektion XIII und in dieser Funktion fuer Telekommunikation und IT-Technik zustaendig, das Engagement seiner Behoerde vor den Konferenzteilnehmern zusammen. Ueber 200 europaeische Parlamentarier, Industrie- und Gewerkschaftsvertreter sowie Praktiker in Sachen Telearbeit waren in Berlin unter der Schirmherrschaft der EU zusammengekommen, um Strategien des Uebergangs in die neue Informationsgesellschaft zu diskutieren.

Der Hintergrund, vor dem die "Telework94" stattfand, war klar: Weltweit findet ein Wandel der Produktionssysteme, des Verbraucherverhaltens und der Methoden der Arbeitsorganisation statt, der entscheidend vom rasanten Fortschritt bei den IT- und Kommunikationstechniken mitbestimmt wird. Was indes fehlt, ist eine Art gesellschaftlicher Konsens und eine Koordinierung dessen, was nicht wenige als eine neue industrielle Revolution bezeichnen.

Die Konferenz im Berliner Reichstag wurde durch zwei kuerzlich erschienene politische Dokumente inspiriert: das von Jacques Delors initiierte Weissbuch ueber Wachstum, Wettbewerbsfaehigkeit und Beschaeftigung (Dezember 1993) und den vielzitierten Bangemann- Bericht, der dem Europaeischen Rat im Juni 1994 auf seiner Tagung in Korfu vorgelegt worden war. In beiden EU-Papieren wird bekanntlich zum ersten Mal die Schaffung der Informationsgesellschaft als Schluessel zur Ueberwindung von Rezession und zur Schaffung neuer Arbeitsplaetze bezeichnet. Bei den entsprechenden Beratungen der Regierungschefs beziehungsweise zustaendigen Fachminister wurde insbesondere der Entwicklung der Telearbeit in Verbindung mit anderen Anforderungen an eine moderne Informationsinfrastruktur hohe Prioritaet eingeraeumt.

Bereits im November 1993 hatte die EU-Kommission eine Reihe neuer Aktionen zur Foerderung von Telearbeit beschlossen; der Start der meisten Projekte erfolgte Anfang dieses Jahres. Als Hauptziele der verschiedenen Initiativen, an denen mehr als 150 Organisationen und Unternehmen beteiligt sind, werden in einem offiziellen EU- Dokument genannt: Die Ermutigung von Unternehmen zum Experimentieren beziehungsweise zur Errichtung von Telearbeitsnetzen, die Untersuchung der damit verbundenen praktischen Probleme (insbesondere im Hinblick auf grenzueberschreitende Aspekte innerhalb der EU), die Bewertung, welche neuen technischen Entwicklungen erforderlich sind sowie eine Analyse des Einflusses von Telearbeit auf Unternehmensorganisation, industrielle Wettbewerbsfaehigkeit, Umwelt und Energieverbrauch.

Zu den weiteren Massnahmen im Rahmen dieses Aktionsprogrammes gehoeren unter anderem die Dokumentation aller wichtigen neuen Entwicklungen im Bereich Telearbeit (TELDET), die Einrichtung einer zentralen Kontaktstelle zur Unterstuetzung bei der Loesung transeuropaeischer Probleme sowie die Koordination nationaler und regionaler Initiativen durch das European Telework Forum (ECTF). Darueber hinaus werden gegenwaertig auch sogenannte Praxisregeln fuer den Einsatz von "Telearbeitern" erstellt (PRACTICE). Zwei weitere Projekte, WORKNET und PROLINK, sollen vor allem Grossunternehmen dazu ermuntern, Telearbeitsnetze zur Dezentralisierung ihrer Geschaeftsablaeufe einzusetzen; WORKNET umfasst Telearbeits-Pilotdemonstrationen in italienischen bezeihungsweise franzoesischen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen.

"Nicht der technische Fortschritt fordert mehr Moeglichkeiten zur Telearbeit, sondern die Gesellschaft", skizzierte EU- Generaldirektor Carpentier die Philosophie, die hinter der ehrgeizigen Zielsetzung der Bruesseler Eurokraten steckt. Immerhin ist vorgesehen, bereits bis Ende 1995 in 20 europaeischen Ballungszentren Pilot-Telearbeitszentren fuer mindestens 20 000 Beschaeftigte einzurichten. Ein Jahr spaeter sollen schon zwei Prozent aller Angestellten im Rahmen von Telearbeit ihren Lebensunterhalt verdienen, und bis zum Jahr 2000 will Bruessel rund zehn Millionen Telearbeitsplaetze schaffen.

Der Tatsache, dass es auf dem Weg zu den Arbeitsplaetzen der Zukunft noch so manches Problem zu loesen gibt, mochte sich jedoch auch Carpentier nicht voellig verschliessen. Die Technik zur Telearbeit sei vorhanden und mittlerweile auch erprobt, nun gehe es, so der EU-Spitzenbeamte, um die wirklich spannenden Themen: Wie setzt man sich mit der bei der Telearbeit auftretenden sozialen Isolation auseinander? Werden zunaechst viele Arbeitsplaetze verlorengehen? Wie ist die gesamte Rechts-, Organisations- und Versicherungsproblematik anzupacken? Der Fragenkatalog Carpentiers liess jedenfalls keinen Bezug zur Realitaet vermissen.

Carpentier forderte in diesem Zusammenhang deutlich veraenderte Rahmenbedingungen. So muessten die Schutzvorschriften fuer Beschaeftigte im Arbeits- und Tarifrecht sowie die Wettbewerbsvorschriften fuer Telearbeitsplaetze neu gestaltet und Missbrauchsmoeglichkeiten seitens der Industrie ausgeschlossen werden.

Dass nicht alles Gold ist, was in EU-Papieren voller Hoffnungsschimmer glaenzt, machte auch Hans-Olaf Henkel, Chairman of the Board der IBM World Trade EMEA und kuenftiger Aufsichtsratschef der IBM Deutschland GmbH, deutlich. Man muesse, so Henkels klare Worte an die Kongressteilnehmer, deutlich unterscheiden zwischen dem, was praktisch realisierbar sei und dem, was in Gremien wie der Bangemann-Gruppe "in zehntausend Metern Hoehe argumentiert und diskutiert" werde. Bei der Einfuehrung neuer Berufs- und Arbeitsszenarien gelte es jedenfalls, so der IBM-Manager, mehr denn je, Faktoren wie die Isolation von Vorgesetzten und Kollegen, den Gewerkschaftsanspruch auf Mitbestimmung sowie die drohende Vermischung von Freizeit und Arbeit zu beruecksichtigen. Henkel, selbst Mitglied dieses erlauchten Gremiums ranghoechster europaeischer Industrievertreter, hatte in seinem Unternehmen bereits 1991 ein Telearbeitspilotprojekt in Gang gesetzt, was IBM Deutschland noch im gleichen Jahr den Forschungspreis der deutschen Industrie einbrachte.

Anders als etwa die Automobilindustrie muesse die Telecom-Branche "nicht mehr auf das Fuenf-Liter-Auto warten", die Technik sei da, schlug Henkel in die gleiche Kerbe wie Carpentier. Allerdings fehlten an allen Ecken und Enden die notwendigen Rahmenbedingungen. Dazu gehoerten vor allem privatisierte Netzbetreiber, die Abschaffung aller Monopole sowie deutlich niedrigere Tarife fuer entsprechende Dienstleistungen. Telearbeit sei, so der kuenftige BDI-Praesident, notwendig und unabdingbar - weil man neue Arbeitsplaetze benoetige, kuenftig weniger Geld fuer Bildungseinrichtungen und moderne Verkehrs-Infrastrukturen aufwenden koenne, und weil es darum gehe, Frauen und Behinderten adaequate Berufschancen einzuraeumen.