Positive und negative Erfahrungen mit Teleteaching

Telelerner gefallen sich in der Rolle des Konsumenten

13.06.1997

Schade, daß Carl Spitzweg nicht mehr lebt. Der bekannte Biedermeiermaler hätte seine wahre Freude daran, würde er damit beauftragt, ein Szenario der künftigen virtuellen Welt des Lernens und Lehrens auf die Leinwand zu pinseln: Einsam vor sich hin surfende arme Studenten, nur ausgerüstet mit einem PC, die sich via ISDN wichtige Vorlesungen auf den Bildschirm holen. In Windeseile absolvieren sie ihr Studium, ohne jemals einen Hörsaal von innen gesehen zu haben oder in den Genuß eines Streitgespräches mit Dozenten und Kommilitonen gekommen zu sein, sprach- und kommunikationsgeschädigt, aber voll techniktauglich - Horrorszenario oder Zukunftsmusik?

Das Thema Teleteaching und virtuelle Universität ruft die unterschiedlichsten Reaktionen hervor. Das Spektrum reicht von völliger Ablehnung über Gleichgültigkeit bis hin zur Begeisterung über den effizienteren Einsatz von knappen Ressourcen. Während einige Experten noch angestrengt über Nutzen und Schaden der neuen Lehr- und Lernmöglichkeiten debattieren, ist man an den Universitäten Mannheim und Heidelberg schon einen Schritt weiter.

Seit 1995 erproben die beiden baden-württembergischen Hochschulen gemeinsam den multimedial vernetzten Lehrbetrieb auf der Grundlage eines Kooperationsabkommens.

"Durch Computereinsatz und Teleteaching ist längst eine interaktive und nicht ortsgebundene Form des Lernen und Lehrens möglich. Der Student muß nicht mehr an der Universität sein", beschreibt die Web-Seite des Instituts für Theoretische Physik der Universität Heidelberg die Vorteile von Teleteaching.

Der Wettstreit zwischen den Eliteuniversitäten einschließlich dem europäischen Ausland und Amerika würde über das weltweite Datennetz Internet stattfinden. Heidelberg und Mannheim wollen mit ihren gemeinsamen Televorlesungen an vorderster Front stehen und Maßstäbe in Forschung und Lehre setzen, so der hohe Anspruch.

Die Liaison der benachbarten Universitäten mit unterschiedlichem Profil begann im Sommer 1995. Vorrangiges Ziel: Vorhandenes Lehrpotential gegenseitig zu nutzen.

Die Rektoren beider Universitäten unterzeichneten einen Kooperationsvertrag, demzufolge Studierende die Angebote beider Universitäten nutzen können und ihre Studienleistungen und Prüfungen wechselseitig anerkannt werden.

Dabei sollte das Teleteaching "vorhandene Lehr- und Lernmethoden ergänzen, nicht ersetzen", so Wolfgang Effelsberg, Leiter des Lehrstuhls für praktische Informatik, Multimedia und Rechnernetze an der Universität Mannheim und Initiator und Leiter des Projekts Teleteaching Heidelberg/Mannheim.

Konkreter Anlaß zum Einsatz der multimedialen Lehrmittel an beiden Hochschulen war ein Mangel an Lehrangeboten. Die Universität Mannheim hatte den neuen Studiengang "Technische Informatik" eingeführt. Für diesen Studiengang brauchte sie Physikvorlesungen, mit denen die Heidelberger Universität gut ausgestattet war. Umgekehrt hatten die Heidelberger einen Bedarf an Informatikvorlesungen, die dort als Nebenfach in vielen anderen Fachrichtungen benötigt wurden.

Gute Akzeptanz bei den Studenten

Die Studierenden sollten nicht zwischen den Hochschulen hin- und herpendeln müssen, sondern visuell, akustisch und interaktiv die Vorlesungen und Seminare am Bildschirm verfolgen können. Ende 1995 wurden die ersten Geräte angeschafft. Die Probevorlesungen begannen Anfang 1996, und im Sommersemester 1996 lief schließlich die erste Vorlesung komplett und regelmäßig als Televorlesung ab. Von Hörsaal zu Hörsaal wurde das Videobild des Dozenten und des entfernten Auditoriums einschließlich des Tons übermittelt. Dazu kam das elektronische Tafelbild, das die Funktion der sonst üblichen Folie auf dem Overheadprojektor übernahm.

Drei unterschiedliche Szenarien der multimedialen Lehre entwickelten Effelsberg und seine Mitarbeiter. Am häufigsten ist die Übertragung von Hörsaal zu Hörsaal. Dazu werden ein hochauflösender, lichtstarker Projektor, ein sogenannter Video-Beamer, eine multimediale Workstation und ein schneller Netzanschluß, im konkreten Fall das digitale ATM-Hochgeschwindigkeitsnetz des Deutschen Forschungsnetzes, benötigt. Sprache, Bilder und Folien werden dann von einem Hörsaal live in den anderen projiziert.

Studierende vor Ort und an der Partneruniversität können bei dieser Form des Teleteachings während der Veranstaltung Fragen stellen und mit den Dozenten interagieren. Beim zweiten Szenario, dem Teleseminar, sitzen die Studierenden ähnlich wie bei einer Videokonferenz in Hufeisenform vor einer Leinwand und einer Workstation und können mit deren Hilfe mit dem Partner auf der anderen Seite diskutieren.

Zukunftsmusik hingegen ist weitgehend die dritte Stufe des virtuellen Lehrens und Lernens: Das Homelearning steckt noch in der Anfangsphase. Es soll die Studierenden direkt am PC zu Hause erreichen. Wenn alles planmäßig verläuft, sollen die Mannheimer und Heidelberger Jungakademiker im kommenden Sommersemester in den Genuß von Homelearning kommen - via ISDN am eigenen PC in der eigenen Studentenbude.

Neben den Fachbereichen Informatik und Physik beteiligten sich am Pilotprojekt von Anfang an der Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften in Mannheim und das Institut für Psychologie in Heidelberg. Parallel dazu fand eine Begleituntersuchung statt, die den Lernerfolg des Teleteaching maß. Vorgesehen war auch die Beratung der Dozenten über den optimalen mediendidaktischen Einsatz der neuen Werkzeuge, was jedoch nicht immer nur auf Gegenliebe stieß. Die Hochschullehrer befürchteten, zum ausführenden Organ der Technik degradiert zu werden.

Hilfe erhält das Projekt auch aus der Wirtschaft. So finanziert IBM eine halbe wissenschaftliche BAT-II-Stelle an dieser "teilvirtuellen Universität" und unterstützt sie mit technischen Geräten. Und der Heidelberger Springer Verlag will gegebenenfalls CD-ROMs und Lehrmaterialien zu dem Projekt herausbringen.

Für die Mannheimer Studierenden sind die virtuellen Kurse so etwas wie eine Pflichtveranstaltung, während die Heidelberger Fernteilnehmer diese in der Regel als Wahlfach nutzen. Bei den Studierenden sei das Angebot sehr gut angekommen, meint Effelsberg. Dies zeigten auch die ersten Ergebnisse der Evaluierung von 1996. So könnten sich die Teilnehmer der Fernvorlesung sehr viel besser konzentrieren, da es meist ruhiger sei als vor Ort in der Universität. Auf die Frage, ob es sie nicht störe, daß die Televorlesung keinen persönlichen Kontakt zu den Dozenten ermögliche, erfolgte die bezeichnende Antwort: Eine individuelle Beziehung gebe es in Großvorlesungen mit über 120 Zuhörern auch nicht.

Einziger Wermutstropfen: Die Studierenden sollten laut Effelsberg eine große Frustrationstoleranz mitbringen, wenn die Technik nicht gleich so gut funktioniert wie erwartet. Die Oberflächen seien leicht zu bedienen, "aber das Ganze ist noch nicht besonders zuverlässig, und die Qualität ist auch nicht immer so gut, wie wir uns das vorstellen", zieht der Mannheimer Professor eine erste Bilanz. Auch hapert es mit der Kommunikation zwischen den Studierenden und den Dozenten. Beobachtet wurde, daß die Studierenden nach den Veranstaltungen meist mit den Evaluatoren das Gespräch suchten und nicht mit den Dozenten.

Mit Ausnahme der angehenden Mathematiker und Physiker wurden die Heidelberger Studierenden kaum über das multimediale Angebot informiert. Auch beklagten sie die widersprüchlichen Aussagen der zuständigen Stellen über Fragen zur Prüfungsrelevanz der Televeranstaltungen.

Erste Ergebnisse der Begleituntersuchung haben den Eindruck vermittelt, daß sich Telestudierende ähnlich wie Fernsehzuschauer verhalten, nämlich in der Regel passiv. Als Konsequenz daraus versuchen Dozenten nun, die Telestudierenden mit Hilfe von Diagrammen und Zeichnungen direkt zum Mitschreiben zu aktivieren und so ihre Konsumhaltung aufzubrechen. Die Messungen haben ergeben, daß der Lernerfolg bei den Fernstudenten mit dem der Präsenzstudenten vergleichbar ist.

Auf Skepsis stoßen die neuen Lehr- und Lernformen hingegen noch bei den Professoren. Sie müssen liebgewonnene Gewohnheiten ablegen, zum Beispiel können sie sich nicht mehr frei im Raum bewegen, während der Vorlesung herumlaufen und etwas an die Tafel schreiben. Die jetzige Technik zwingt sie dazu, während der gesamten Televorlesung vor der Workstation zu sitzen. Gewöhnungsbedürftig ist auch, daß anstelle von Overheadprojektor und Tafel nun Bildschirm, Animationsprogramme und dreidimensionale Modelle eingesetzt werden.

Ein "erhebliches Einsparungspotential" witterte beim Start der Kooperation zwischen Mannheim und Heidelberg Baden-Württembergs Wissenschaftsminister Klaus von Trotha, ganz nach dem Motto: aus eins mach zwei; die Duplizierung der Dozentenstellen durch Teleteaching, ohne die entsprechenden Kosten - eine Vorstellung, die angesichts schrumpfender Etats zunächst jeden Verantwortlichen ins Schwärmen geraten lassen muß.

Weitere Kooperationen sind geplant

Allerdings hat sie zwei kleine Schönheitsfehler: Erstens kostet der Einsatz der neuen Technik zunächst einmal viel Geld: Für eine Multimedia-Workstation, wie sie zur Zeit an den beiden Universitäten genutzt wird, muß man etwa 50 000 Mark, für einen hochauflösenden Beamer zwischen 40 000 und 150 000 Mark auf den Tisch legen. Hinzu kommen Personalkosten für mindestens eine Fachkraft, die sich um die Geräte kümmert, denn noch ist die Technik neu und sehr empfindlich.

Zweitens sind die Einsparpotentiale der Hochschulen schon bis an den Rand ausgeschöpft: Die für 1997 geplanten Kürzungen werden die Universitäten "nahezu handlungsunfähig" machen, erklärten jetzt die Rektoren der Universitäten Mannheim und Heidelberg, Peter Frankenberg und Peter Ulmer. Geht es nach dem Landesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, sollen dieses Jahr 440 Millionen Mark eingespart werden. Allein Heidelberg soll Mittelkürzungen bis zu 20 Prozent gegenüber dem Haushalt von 1995 akzeptieren.

Die gern gehegte Vorstellung, daß Wissensvermittlung nur ex catedra geschehen kann, ist längst überholt. Das andere Extrem, daß man Dozenten einfach beliebig vervielfältigen kann, indem man sie per Video in die Hörsäle anderer Universitäten beamt, die kein Geld mehr für Professorenstellen haben, geht jedoch ebenfalls an der Realität vorbei.

In Mannheim und Heidelberg denkt man trotz alledem über neue Projekte auf dem zukunftsträchtigen Gebiet des Tele- teachings nach: Weitere Kooperationen sind mit den Universitäten Karlsruhe und Freiburg geplant, und im Sommersemester will Freiburg eine Veranstaltung zum Thema "Informatik und Gesellschaft" für alle Universitäten in Baden-Württemberg anbieten.

Weitere Informationen erteilt Wolfgang Effelsberg, Praktische Informatik IV, Universität Mannheim, L15, 16, 68131 Mannheim, Telefon 06 21/292-33 00, Telefax 06 21/292-57 45, E-Mail: effelsbergpi4.informatik.uni-mannheim.d.

*Veronika Renkes ist frei Journalistin in Bonn.