Technischer Fortschritt und Beschäftigung

08.01.1988

Dr. Martin Bangemann

Bundesminister für Wirtschaft

Der weltwirtschaftliche Skukturwandel ist ein ständiger Prozeß des Überholens und Überholtwerdens. Auf der Standspur läßt sich in diesem Rennen nicht mithalten. Das gilt insbesondere für die neuen Techniken. Damit soll nicht einer ungezügelten oder verantwortungslosen technologischen Entwicklung das Wort geredet werden. Nicht alles, was technisch machbar ist, liegt im Interesse der Menschen. So sind beispielsweise in der Gen-Forschung Entwicklungen denkbar, die wir nicht verantworten könnten. Das wissenschaftlich Denkbare und technisch Machbare wird um so häufiger an die Grenze des ethisch Vertretbaren stoßen, je tiefer die Forschung in die Geheimnisse von Leben und Materie vordringt. Damit Technik im umfassenden Sinne beherrschbar bleibt, bedarf es immer wieder und für jede Generation neu des rechtzeitigen demokratisch-gesellschaftlichen Dialogs. Die verantwortliche Rolle des einzelnen, des Forschers und Wissenschaftlers im besonderen, ist in diesem Dialog besonders bewußt zu machen. Die Freiheit der Wissenschaft ist ein wichtiger, aber eben nur ein Teil der ganzen Freiheit. Nur wenn sie eigenverantwortlich wahrgenommen und dabei die ethischen Grenzen für das eigene Tun sorgsam beachtet werden, kann sie so erhalten bleiben.

Der Angst vor neuen Technologien das Konzept wissenschaftlich-technischer Abstinenz oder Technikfeindlichkeit entgegenzusetzen, ist keine durchdachte Lösung. Es bedeutet vielmehr, auf Chancen der Technik zu verzichten. Technischer Fortschritt hat immer mitgeholfen, Arbeit humaner zu machen. Die Arbeitszeit, die vor hundert Jahren an 80 Stunden heranreichte, ist heute halbiert.

Technik hat entscheidend zur Wissensverbreitung beigetragen und insoweit aufklärerisch gewirkt. Die großen sozialen Bewegungen wären ohne den Buchdruck überhaupt nicht möglich gewesen.

Auch der Zusammenhang von mehr Umweltschutz und technischem Fortschritt ist heute nicht mehr bestritten. Selbst wer von der Kernenergie weg will oder sie nur als Übergangslösung akzeptieren möchte, darf sich von dieser Hochtechnologie nicht einfach verabschieden. Er muß den Erfindungs- und Forschungswillen der daran arbeitenden Menschen nutzen - für die Sicherung der Technik und für den Übergang zu Neuem. Ein Zurück zum Öl hieße Verteilungskampfe zu Lasten der ärmsten Entwicklungsländer heraufbeschworen. So wichtig die Anstrengungen für weiteres Energiesparen auch sind, der Einsparungsprozeß selbst kann auf Dauer eine ausreichende Energieversorgung der wachsenden Weltbevölkerung nicht gewährleisten. Und selbst das Energiesparen ist ohne technische Weiterentwicklung der Heizsysteme oder der Autos kaum wirkungsvoll.

Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, neue Technologien zu beherrschen. Ein Ausklinken aus der technologischen Entwicklung dürfen wir nicht zulassen. Auch in beschäftigungspolitischer Hinsicht hängt unsere Zukunft von der Verfügbarkeit wichtiger Technologien ab. Wer als Hochlohnland international wettbewerbsfähig bleiben will, muß über moderne und kostengünstige Produktionsverfahren verfügen. Eine Dämpfung des Produktivitätsfortschritts würde zu einem Sinken der Wettbewerbsfähigkeit und damit zum Abbau von Arbeitsplätzen führen.

Durch den vermehrten Einsatz intelligenter Technik wird der Arbeitseinsatz immer produktiver. Die für die Herstellung eines einzelnen Gutes oder Werkstückes benötigte Arbeitszeit wird ständig kurzer. Seit 1960 hat sich die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen, also der auf die einzelne Arbeitskraft umgerechnete Produktionswert, mehr als verdoppelt.

Wozu vor 25 Jahren im Durchschnitt noch zwei Arbeitskräfte gebraucht wurden reicht heute bei kürzerer Arbeitszeit eine. Um dennoch weiterhin beide Arbeitskräfte beschäftigen zu können, muß entweder die Produktionsmenge verdoppelt oder die Arbeitszeit halbiert werden. In der Vergangenheit wurde hier ein mittlerer Weg gegangen: Die Produktion stieg beinahe wie die Produktivität, und die Arbeitszeit nahm um etwa ein Fünftel ab. So blieb die Zahl der Erwerbstätigen mit rund 26 Millionen über die Jahre hinweg ziemlich konstant.

Das Bemühen, die menschliche Arbeit so effizient wie möglich einzusetzen, wird auch in Zukunft den technischen Fortschritt weiter vorantreiben. Schon aus Wettbewerbsgründen kann die deutsche Wirtschaft vorhandene Kostensenkungsspielräume nicht ungenutzt lassen. Jeder einzelne Arbeitsvorgang wird immer wieder darauf zu überprüfen sein, ob er nicht kostengünstiger durchgeführt werden kann. Das wird den Wirkungsgrad der Arbeit weiter steigern.

Immer mehr Verrichtungen werden zunächst mechanisiert und später automatisiert werden. In Industrieerzeugnisse wird so auf den einzelnen Produktionsstufen in der Fertigung immer weniger an Arbeit einfließen. Das ist auch der Sinn des technischen Fortschritts, der uns das Leben erleichtern und nicht erschweren soll.

Arbeit wird dadurch aber nicht etwa überflüssig, sondern vielmehr zur Befriedigung anderer, bisher vernachlässigter Bedürfnisse einsetzbar. Diesen Strukturwandel von der einen in die andere Verwendung zu erleichtern, wird eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben für den Arbeitsmarkt der Zukunft sein.

Auszug aus: "Arbeitsmarkt der Zukunft", Plädoyer für eine offene Gesellschaft; erschienen im Verlag Busse + Seewald GmbH, Herford 1987, ISBN 3-512-00797-X.