Nur eine strategische Unternehmensplanung rechtfertigt integrierte Produktionssysteme:

SW-Entwicklung: Nagelprobe für den mutigen Info-Manager

08.01.1988

Weder Standardpakete noch Rationalisierungstools haben bislang dazu beigetragen, den Anwendungsstau wesentlich abzubauen. Mit integrierten computergestützten Softwareentwicklungsumgebungen könnte dies gelingen. Solche komplexe Systeme sind jedoch nur im Rahmen einer strategischen Unternehmensplanung zu realisieren.

Zwischen 6000 und 8000 Mainframes sind im deutschsprachigen Raum installiert, je nachdem, welcher Statistik man Glauben schenkt. Wenn es stimmt, daß der Rationalisierungseffekt bereits bei Entwicklungsabteilungen mit acht bis zehn Mitarbeitern beim Einsatz von integrierten computergestützten Softwareentwicklungsumgebungen (ICS) von zum Tragen kommt, bedeutet das, daß 4000 bis 5000 Entwicklungsabteilungen heute noch Poppersches "Piece-Meal-Engineering" oder "Muddling-through" im althergebrachten Sinne betreiben. Andererseits wird seit zehn Jahren die Softwarelücke beschworen (siehe nebenstehende Grafik).

Es wird argumentiert mit Anwendungsstaus bedingt durch technischen Wandel, und damit, daß die Anforderungen an neue Systeme immer komplexen und umfassender werden. Gleichzeitig hört man, daß die Wartungsbelastung der Entwicklungsabteilungen zum Teil bei 80 Prozent liegt, und daß dieser circulus vitiosus Neuentwicklungen behindert oder gar verhindert.

Nun hat sich in den letzten Jahren einiges auf dem Markt ereignet, von dem man glauben sollte, daß es zum Abbau des Anwendungsstaus beigetragen hätte: Es gibt qualifizierte Standardsoftware, der Output der Informatikdisziplinen hat sich vervielfacht, es sind zweite und dritte Bildungswege geschaffen worden, und es gibt eine Flut von Rationalisierungstools.

Nicht nur Fachleuten fällt auf, daß es anscheinend andere Gründe geben muß, die dem Abbau des Anwendungsstaus im Wege stehen. Offensichtlich ist, daß diese Gründe alles andere als trivial sind. Es bleibt also zu beleuchten, was der Lösung des Problems im Wege steht.

Seit Jahren bemüht sich die Fachpublizistik auf die Rationalisierungs- und Qualifizierungsfaktoren hinzuweisen, die langfristig zum Abbau des Anwendungsstaus führen und zur Erneuerung und Reorganisation der Altsysteme beitragen können. Auch viele Entwicklungschefs teilen diese Meinung.

Einer dieser Faktoren sind integrierte, computergestützte Softwareentwicklungssysteme. Ganz allgemein wird daher hier noch einmal formuliert, an welchen Anforderungen sich ein derartiges System orientieren sollte:

- Schaffung eines Basisinstruments für die Optimierung der unternehmensspezifischen Infrastrukturen der Entwicklungsabteilung

für Information und Kommunikation über den Horizont von Einzelprojekten hinaus;

- Schaffung eines Rahmensystems, das auf dem vorhandenen Mainframe installiert werden kann,

- Schaffung einer einheitlichen Entwicklungsoberfläche;

- Sicherstellen, daß vorhandene Methoden und Werkzeuge; die effizient und bewährt sind, zusammen mit neuen Vorgehensweisen und Werkzeugen in das Entwicklungssystem einbezogen werden können;

- Unterstützung des Projektmanagements bei der Steuerung, Planung und Überwachung der Projekttätigkeiten;

- Sicherstellung der durchgängigen Dokumentation, insbesondere für die Qualitätssicherung.

Selbstverständlich muß das Rahmensystem basieren auf den "Advanced-Systems" - Technologien.

Dazu gehören beispielsweise relationale Datenbanken, Data-Dictionaries oder die Künstliche Intelligenz. Es müssen Entwicklungstechniken geübt werden, wie das Erstellen von Unternehmens- und Anwendungsdatenmodellen, die Normalisierung, Modellierung und Dokumentation von Daten und Funktionen, sowie Designtechniken, zum Beispiel Prototyping. Darüber hinaus sind organisatorische Maßnahmen zu treffen, wie die Einrichtung einer Datenadministration, einer Methoden/Toolgruppe und einer DB-Administration. Hinzu kommt der Einsatz moderner Hardwarekonzepte in Form von Workstation-Mainframe-Architekturen.

Welche Sicht und welche Erwartungshaltung prägt nun den Benutzer einer Systementwicklungsumgebung? Abbildung 2 zeigt ganz allgemein die Anforderungen an eine integrierte Entwicklungsumgebung innerhalb einer Workstation-Mainframe-Architektur auf. Und sie zeigt die jeweilige Entwicklungsoberfläche aus der Sicht des Designers, des Programmierers und des Support-Mitarbeiters.

Wenn man versucht, die allgemeinen Anforderungen an eine Softwareentwicklungsumgebung einerseits und die verschiedenen Sichtweisen der dabei eingebundenen Mitarbeiter andererseits in einer Anforderungsliste (Quelle: Input) zusammenzufassen, so könnte diese etwa so aussehen:,

- Welche Phasen des Software-Lifecycle werden unterstützt?

- Ist das Reverse-Engineering unterstützt?

- Wird Projekt- und Konfigurationsmanagement unterstützt?

- Sind Prototyping-Tools vorhanden?

- Gibt es automatische Code-Generierung?

- Ist die Entwurfsautomatisierung verbunden mit der Programmautomatisierung?

-Können existierende DBMS und Sprachen der vierten Generation mit eingebunden werden?

-Kann das System kundeneigene Methoden und Vorgehensweisen einbinden?

- Ist es konfigurierbar für wechselnde Entwicklungsanforderungen?

- Unterstützt es Teamarbeit?

- Sind Kommunikationsmöglichkeiten, zum Beispiel Electronic Mails eingebunden?

- Welche Hardware-Konfigurationen benötigt das System?

- Welches Operating-System steht zur Verfügung?

- Ist Ausbildung verfügbar?

- Ist Beratung und Unterstützung für die Implementierung des Systems verfügbar?

Die Herausforderung an den Informations-Manager besteht nun darin, seine Mitarbeiter überzeugend an neue Entwicklungsumgebungen heranzuführen. Informations-Manager müssen sich als Promotoren des technischen Wandels verstehen; müssen also die technologische und organisatorische Innovation mit einbeziehen.

"Neue Führungsaufgaben ergeben sich einmal aus der neuen Dringlichkeit von Qualifikationen, und zum anderen aus der Notwendigkeit, die gewohnte Art der Arbeit zu ändern" sagte Ihmo Schneevoigt, Geschäftsführer IBM Deutschland auf der Analytik ?87 in Hamburg. Und das zeigt genau das Problem auf, in dem der Informations-Manager, der die Zeichen der Zeit begriffen hat, heutzutage steckt.

Auf der Jahreshauptversammlung der IBM-Benutzervereinigung SEAS in Edinburgh ging Ian Sommerville, Professor an der University of Lancaster, so weit, auf die Gefahr für die gesamte Volkswirtschaft hinzuweisen, "welche aus ungenügend entwickelten Programmen der Softwarehersteller erwächst". Er beschwor die Möglichkeit, daß das Wachstum der Industrienationen durch den Mangel an Software gebremst wird.

Info-Manager ist für viele lediglich ein Modebegriff

Der Informations-Manager als Innovationspromotor und als Ausbilder seiner Mitarbeiter im Sinne der Akzeptanz neuer Methoden und Techniken, muß demnach auch der Initiator einer neuen Softwareentwicklungswelt sein.

Nun ist der Begriff Informations-Manager, in den letzten Jahren geprägt, eher ein "Modebegriff", und bis heute noch ohne allgemein anerkannte Aufgabenbeschreibung. Man kann ihn jedoch beschreiben als denjenigen, der Informationen beschafft, gestaltet, speichert und zur Verfügung stellt. Bezogen auf die Unternehmensstruktur ist er auf allen Ebenen - strategisch, taktisch und operational - dafür verantwortlich, bedarfsgerechte Informationssysteme bereitzustellen.

Schaut man sich in der deutschen Systementwicklung um, so wird die Szene allenthalben immer noch durch die klassischen Org./DV-Leiter geprägt. Was unterscheidet denn nun den klassischen Org./DV-Leiter vom Informations-Manager? Bei aller Begriffsunklarheit lassen sich nach Ansicht von Wolfgang König, Rektor der Koblenzer Hochschule für Unternehmensführung, dennoch einige Forderungen aufstellen. Fundiertes betriebswirtschaftliches Wissen und Ergebnisverantwortung sowie Beherrschung derjenigen Informationstechniken, die den Erfolg absichern.

" Also, so König," sind Wirtschaftsinformatik und wichtige Bereiche der Kerninformatik für ihn von Belang. Er sollte. vertraut sein mit Expertensystemen, Endbenutzer- und Kommunikationstechniken sowie Online-Datenbanken. Zusätzlich, und das ist laut König das Neue, muß der Informations-Manager strategische Denkweisen aufbauen und sie mit Methoden in die unternehmerische Praxis umsetzen können, beziehungsweise unternehmerische Erfolgsfaktoren mit dem Einsatz der Informationsverarbeitung verknüpfen.

Trotz des außerordentlichen technisch organisatorischen Wissens, der Erfahrung und der ständigen Bereitschaft, diese zu erneuern, darf der Informations-Manager nicht so sehr die Technologie im Vordergrund sehen, sondern er muß sich ganz intensiv mit seinen eigentlichen Aufgaben befassen, nämlich mit der ständigen Verbesserung der Qualifikationen seiner Mitarbeiter und mit den zu erstellenden Systemen.

Er steht dabei vor der Herausforderung, neue komplexe integrierte Systeme erstellen zu müssen, mit der Chance, die Schere zwischen Applikationsnachfrage und vorhandenen Qualifikationen zu schließen.

Die Widerstandsfaktoren, die seinem Vorhaben entgegenstellen, sind

- die rein menschliche Beharrlichkeit, gewohnte Arbeitstechniken nicht zu ändern;

- die oft zu findende Verständnislücke des Topmanagements in bezug auf forcierte Ausbildung der Mitarbeiter und auf strukturiertes methodisches Denken und Arbeiten;

- das technologische Risiko, das in der langfristigen Investition begründet ist;

- die kleine Anzahl von Mitarbeitern oder Institutionen, die in der Lage sind, derartige Systeme zu installieren und die Kenntnisse "on the job " weiterzuvermitteln;

- der Mangel an Standards, um Produktivität messen zu können.

Dennoch: Wettbewerbsvorteile durch Informationsverarbeitung erlangen, lautet die Devise für zukunftsorientierte Unternehmen. Der Begriff ist abgeleitet von der Porterschen Wertschöpfungsanalyse. Er hat letztlich zum Inhalt, daß die Informationsverarbeitung wie auch die anderen "klassischen" strategischen Einheiten eines Unternehmens zur Erlangung von Wettbewerbsvorteilen eingesetzt werden müssen.

Umstellung kostet viel Zeit und Geld

Nur aus dem strategischen Ansatz heraus lassen sich nämlich die Investitionen für eine computergestützte Entwicklungsoberfläche rechtfertigen. Für den Bewußtseinsänderungsprozeß, der sich bei den Mitarbeitern der Entwicklungsteams abspielen muß, gilt ähnliches. Training, Umstellung der Arbeitstechniken und Akzeptanz, benötigen Zeit. Hohes Führungsengagement und bewußte Steuerung des Wandels des Entwicklungsumfeldes verursachen nicht unerhebliche Kosten. Alle genannten Forderungen im Rahmen einer strategischen Unternehmensplanung umzusetzen, ist die Nagelprobe für einen qualifizierten und mutigen Informations-Manager.