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Studie zur Internet-Sucht in Deutschland

17.04.2001
Drei Prozent der deutschen Onliner sind Internet-süchtig, weitere sieben Prozent gefährdet. Das ist das erschreckende Ergebnis einer Pilotstudie der Berliner Humboldt-Universität.

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Das Forschungslabor des Lehrstuhls Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie (PSILab) der Berliner Humboldt-Universität hat die Ergebnisse seiner ersten Pilotstudie zum Thema Internet-Sucht im deutschen Sprachraum veröffentlicht. Dabei kamen die Experten zu einem erschreckenden Ergebnis: Drei Prozent der Teilnehmer mussten sie als Internet-süchtig einstufen (das entspricht hochgerechnet etwa 650.000 deutschen Internetnutzern), weitere sieben Prozent als gefährdet.

Zwischen Sucht und Verweildauer im Netz haben die Forscher einen direkten Zusammenhang ausgemacht: Die Internet-Süchtigen verbringen 34,63 Stunden pro Woche im Netz. Die sieben Prozent Suchtgefährdeten sind im Schnitt 28,58 Stunden online, der "unauffällige" Rest kommt auf durchschnittlich 17,5 Stunden. Allerdings gilt der Umkehrschluss nicht: Nicht jeder der lange online ist, ist auch Internet-süchtig- sonst wären ja beispielsweise alle abhängig, die täglich in Ausbildung oder Beruf mit dem Internet zu tun haben. Die Onlinezeit sei daher kein Kriterium für die Diagnose der Internetabhängigkeit, so das Humboldt-Team.

DEFINITION

Die Berliner Wissenschaftler sprechen von Internet-Sucht, wenn die folgenden fünf Kriterien erfüllt sind:

Einengung des Verhaltensraums: Über längere Zeitspannen wird der größte Teil des Tages zur Internet-Nutzung verausgabt (hierzu zählen auch verhaltensverwandte Aktivitäten wie beispielsweise Optimierungsarbeiten am PC);

Kontrollverlust: Die Person hat die Kontrolle bezüglich des Beginns und der Beendigung ihrer Internet-Nutzung weitgehend verloren. Versuche, das Ausmaß zu reduzieren oder die Nutzung zu unterbrechen, bleiben erfolglos oder werden erst gar nicht unternommen (obwohl das Bewusstsein für dadurch verursachte persönliche oder soziale Probleme vorhanden ist);

Toleranzentwicklung: Im Verlauf wird zunehmend mehr Zeit für internetbezogene Aktivitäten verausgabt, das heißt die "Dosis" wird im Sinne von Kriterium 1 gesteigert (dynamisches Verlaufsmerkmal);

Entzugserscheinungen: Bei zeitweiliger, längerer Unterbrechung der Internetnutzung treten psychische Beeinträchtigungen auf (Nervosität, Gereiztheit, Aggressivität) und ein psychisches Verlangen zur Wiederaufnahme der Internet-Aktivitäten, sowie

Negative soziale und personale Konsequenzen: Wegen der Internet-Aktivitäten stellen sich insbesondere in den Bereichen "soziale Beziehungen" (zum Beispiel Ärger mit Freunden) sowie "Arbeit und Leistung" negative Konsequenzen ein.

Die Auswertung der Fragebögen hat ergeben, dass die Internet-Sucht vorwiegend Jugendliche unter 20 Jahren betrifft, wobei der Anteil der Männer überwiegt. Je älter die Befragten, desto geringer ist der Anteil der Süchtigen. Frauen unter 20 sind weniger betroffen als gleichaltrige Männer. Ab Mitte 20 dreht sich das Verhältnis jedoch um, die Frauen scheinen dann stärker gefährdet als die Männer. Für das weibliche Geschlecht zeige sich auch keine mit zunehmendem Alter abnehmende Tendenz, so die Forscher.

Je höher der Schulabschluss, desto geringer ist den Ergebnissen zufolge die Anzahl der Betroffenen. Unter den Befragungsteilnehmern ohne Schulabschluss befinden sich mit 10,8 Prozent die meisten Internet-Süchtigen. In der Gruppe der Personen mit abgeschlossenem Studium ist der Anteil mit 1,3 Prozent hingegen am geringsten. Diese Unterschiede fänden sich quer durch alle Altersgruppen, so das Forscherteam. Berufstätige sind zudem am wenigsten von der Internet-Sucht betroffen. Unter den Arbeitslosen findet sich dagegen mit zwölf Prozent der größte Anteil an "Netz-Junkies" überhaupt. "Allerdings wissen wir nicht, ob die Internet-Sucht zur Arbeitslosigkeit oder die Arbeitslosigkeit zur Internet-Sucht geführt hat", lautet der etwas hilflose Erklärungsversuch. Da jedoch auch Schüler, Hausfrauen und Rentner stärker betroffen zu sein scheinen als berufstätige Menschen, drängt sich eine simple Logik auf: "Diese Personengruppen sind vielleicht gefährdeter, weil ihnen einfach mehr Zeit zur Verfügung steht sich mit dem Internet zu beschäftigen", konstatieren die Berliner.

Internet-Süchtige oder Gefährdete finden sich unter den Teilnehmern ohne Partner fast doppelt so häufig wie unter den Teilnehmern, die in einer Partnerschaft leben. Allein lebende Menschen sind also gefährdeter als Menschen mit einem festen Partner. "Vielleicht versuchen gerade die allein Lebenden im Internet Kontakte zu knüpfen", mutmaßen die Forscher. Eine fehlende Partnerschaft sei aber sicher nicht der einzige Grund für eine Internet-Abhängigkeit.

Gibt es im Internet Angebote mit hohem Suchtpotenzial? Die Studie weist darauf hin: Die deutlichsten Unterschiede finden sich bei der Nutzung von Chat-Systemen. Während der unauffällige Teilnehmer gerade 18 Prozent seiner gesamten Internetaktivitäten mit chatten verbringt, ist der Anteil eines Internet-Süchtigen mit 35 Prozent fast doppelt so hoch. Am zweithäufigsten beschäftigen sich Internet-Süchtigen mit Online-Spielen, gefolgt von Musik-Downloads. Erst auf Platz vier finden sich Erotik- und Sexangebote - auch diese werden von Internetsüchtigen viel häufiger in Anspruch genommen. Aus Sicht der Wissenschaftler ohne Suchtpotenzial sind bislang Angebote wie Online-Auktionen, Online-Casinos (also Gewinnspiele mit Geldeinsatz) oder Daytrading. Hier seien die Nutzungszahlen insgesamt noch sehr niedrig (kleiner als zwei Prozent), so dass mögliche Unterschiede nicht deutlich werden.

Die den jetzt veröffentlichten Resultaten zugrunde liegende Befragung wurde bereits vor rund zwei Jahren (zwischen Juni und September 1999) online durchgeführt - die Mühlen der Wissenschaft mahlen langsam. Seinerzeit hatten die Forscher durch Pressemitteilungen in rund 30 Tageszeitungen zur Teilnahme an "Stress und Sucht im Internet" aufgerufen (Computerwoche.de berichtete) und auf diese Weise 14.208 Freiwillige gefunden, denen sie auf 30 Seiten bis zu 158 Fragen vorsetzten. 85,8 Prozent der Teilnehmer kamen aus Deutschland; 6,2 Prozent beziehungsweise 4,1 Prozent aus Österreich und der Schweiz. 8266 Menschen füllten alle Fragebögen komplett aus, die Resultate beziehen sich auf 7091 Bundesbürger (die Ergebnisse aus den Nachbarländern waren mangels Menge nicht repräsentativ).

Zu Bedingungen oder Ursachen der Internet-Sucht will die Pilotstudie noch keine Aussagen machen. Soziale oder personenabhängige Bedingungen werden in den nachfolgenden Studien untersucht und sind erst nach Vorliegen der Ergebnisse der Wiederholungsbefragung möglich, die in diesen Tagen begonnen hat.