Stolpersteine auf dem Weg zum virtuellen Unternehmen Corporate Networks verlangen vorab praezise Kostenanalysen

08.04.1994

Von Angelika Schrader*

Corporate Networks und virtuelle Netze versprechen Rationalisierungspotentiale und eroeffnen neue Geschaeftschancen. Doch Anwendern fehlen heute noch verlaessliche Planungshilfen fuer die optimale Loesung.

"Es ist paradox, in welcher Situation sich Anwender in Deutschland befinden", meint Elke Geising, Geschaeftsfuehrerin der Unternehmensberatung Geising International (Koeln, New York). "Deutsche Unternehmen koennen national wie international Datentechnik nach dem neue- sten Stand einsetzen. Doch obwohl Sprache der Hauptbestandteil der gesamten geschaeftlichen Kommunikation ist, sind die Firmen in der Sprachkommunikation auf dem Stand der 70er und 80er Jahre."

Die Folge fuer die Anwender seien Hoechstpreise bei Tarifen und Geraeten, herstellerspezifische Implementierungen statt kompatibler Systeme sowie ein limitiertes Angebot an Diensten und Leistungsmerkmalen.

Der Status quo in der Sprach- und Datenkommunikation in Deutschland macht den Anwendern in der Tat zu schaffen. Nicht im Hinblick auf technische Kriterien, sondern auf die Tarifpolitik der Telekom wuerden solche dualen Netze optimiert, klagte etwa Professor Roland Ruehe, Direktor des Rechenzentrums der Universitaet Stuttgart, anlaesslich einer Veranstaltung ueber Hochgeschwindigkeitsnetze im Januar in Muenchen.

Und diese Planungsgrundlage muss nicht immer die beste Loesung sein; denn Kostenminimierung ist nicht gleichzusetzen mit Nutzenoptimierung. Gerade kritische Anwendungen erfordern die weitsichtige Planung von alternativem Routing, Hardwareredundanzen und besonderem Service.

Seitdem hierzulande die Deregulierung des Telekommunikationsmarkts staerker vorankommt, ergeben sich fuer Anwender endlich neue Planungsspielraeume - und prompt schwierige Entscheidungswege. Die Anpassung der Regelung fuer Sprachtransfer in Corporate Networks (CNs) an geltendes EG-Recht seit dem 1. Januar 1993 hat in Deutschland eine Lawine losgetreten.

Die technischen Grundlagen fuer die Reform der Unternehmenskommunikation bestehen schon lange in Form digitaler ISDN-Telekommunikationsanlagen. Der Anschluss verschiedener Server, zum Beispiel Gebuehrenerfassungs-Computer oder Rechner fuer automatische Anrufverteiler (Automatic Call Distribution = ACD) macht sie zu wertvollen Organisationshilfen in den Unternehmen.

Das Spektrum der neuen Loesungsansaetze fuer die Reorganisation der Sprach- und Datenkommunikation reicht bis zum Outsourcing an darauf spezialisierte Servicefirmen. Waehrend einige Unternehmen Sprache in ihre Datennetze integrieren wollen, gehen andere von der Uebermittlung der Daten in ihren - vielleicht neu zu schaffenden - Sprachnetzen aus.

Nur lohnend bei hohem Kommunikationsbedarf

Es lohnt sich jedoch nicht fuer jedes Unternehmen, die Sprachkommunikation aus der Obhut der Telekom in die eigenen Netze zu ziehen. "Corporate Networks machen nur Sinn bei Unternehmen mit dezentralen Standorten, die einen hohen Kommunikationsbedarf haben", meint Andreas Gerdes, Geschaeftsfuehrer der ABC Consulting Partners, Mervelder Hof. "Ein hoher Anteil an interner Kommunikation ist der kritische Erfolgsfaktor fuer jedes CN in Deutschland."

Diese Rechnung ging bei der Genossenschaftlichen Rechenzentrale Norddeutschland GmbH (GRZ) auf. Dort muessen die Mitarbeiter mit den Kollegen an den Standorten viel telefonieren. Denn die GRZ betreibt Rechenzentren in Oldenburg, Hamburg, Lehrte und Halle. Sie ist trotzdem in puncto Organisation der Arbeitsablaeufe und Serviceangebote fuer ihre Kunden wie ein einziges lokales Unternehmen strukturiert. Es gibt - unterstuetzt durch entsprechende DV-Anwendungen - verteilte Arbeits- und Beratungsschwerpunkte mit besonderen Zustaendigkeiten je Standort.

Telefongebuehren deutlich reduziert

Der Impuls fuer die Integration der Sprach- und Datenkommunikation entstand aus dem Wunsch nach innerbetrieblicher Optimierung. Die Moeglichkeit dazu war durch ISDN-Anlagen gegeben. Heute uebertraegt die GRZ den internen Telefonverkehr zwischen den Standorten ueber ihre Datenleitungen, was im ersten Jahr zu 200 000 Mark weniger Telefongebuehren fuehrte.

Die Standorte Oldenburg, Hamburg und Lehrte sind ueber einen 2- Mbit/s-Ring verbunden, von dem eine Stichleitung nach Halle fuehrt. Auf den Ring haben ueber Siemens-Multiplexer sowohl die Front-end- Rechner IBM 3745 als auch die ISDN-Hicom-Anlagen Zugriff. Fuer den Sprach- und Datenverkehr sind 64-Kbit/s-Kanaele fest zugeordnet. Sollten diese Kapazitaeten nicht ausreichen, wird das oeffentliche ISDN fuer Sprach- oder Datenverkehr genutzt.

Auch andere Unternehmen haben sich fuer Corporate Networks entschieden, darunter die R+V-Versicherung, die Hamburger Datev oder Ford of Europe. Wann ist eine solche Entscheidung richtig, wann ist ein virtuelles privates Netz die bessere Loesung, und wann ist es Zeit fuer Outsourcing?

Als Corporate Networks bezeichnet man Netze, die der Regelung vom 1. Januar 1993 entsprechen: Sowohl Sprache als auch Daten duerfen in "geschlossenen Benutzergruppen" in einem unternehmensweiten Netz, wie dem der GRZ, uebertragen werden. Ein virtuelles privates Netz (VPN) ist im Grund der Teil eines oeffentlichen Sprach- und Datennetzes, der nur fuer einen bestimmten Kunden zugaenglich ist und sich fuer ihn als sein privates Netz darstellt.

Auf der Basis der Erfahrungen an deregulierten Maerkten gehen Experten davon aus, dass ein Unternehmen bei einem CN die Qualitaet des Netzes, die Zuverlaessigkeit und die Ueberwachbarkeit aller Anwendungen im Netz selbst bestimmen kann. Bei einem VPN bestimmt im wesentlichen die Telekom diese Kriterien.

Im Falle des VPN trifft der Kunde also eine Entscheidung auf Basis von technischen Attributen, die er selbst kaum kontrollieren kann. Ein CN hingegen erlaubt es ihm, zum Beispiel alternatives Routing flexibel einzusetzen oder Hardware redundant auszulegen. Unterm Strich - so die Expertenmeinung - bringt ein CN mehr Selbstbestimmung fuer ein Unternehmen.

Corporate Network oder virtuelles privates Netz?

Wie geht ein Anwender nun aber vor, wenn es um die Frage Corporate Network oder VPN geht? "Diese Entscheidung kann man in vier wesentliche Schritte unterteilen", meint Elke Geising. "Zunaechst muss das Verkehrsaufkommen, muessen dessen Muster und Stroeme analysiert werden. Dann wird die Kostenstruktur einschliesslich aller Kosten, die an Carrier zu zahlen sind, aller Personalkosten fuer den Betrieb des Netzes, der Abschreibungen fuer eigenes Equipment und der Kosten fuer administrative Aufgaben wie die Abrechnung ermittelt."

Daran schliesst sich der Entwurf einer CN-Alternative an, der die Beduerfnisse und Prioritaeten des Unternehmens widerspiegelt. Der dritte Schritt ist die Kalkula- tion dieser Alternative und ihre Bewertung in Relation zur vorhandenen Loesung. Ein CN kann abhaengig von der Konfiguration sowie der Menge und dem Verhaeltnis von Sprach- und Datenaufkommen die preiswerteste Alternative sein. Es bietet durch individuelle Server-Loesungen bessere Moeglichkeiten der Kostenkontrolle. Und es erlaubt die Zurechnung der Kosten auf die Verursacher im Unternehmen.

Aufgrund ihrer Funktionalitaet bezeichnet Andreas Gerdes bereits jede digitale Telefonanlage als ein kleines Corporate Network. Damit wirft er ein Schlaglicht auf die Perspektive, Corporate Networks um mobile Technik zu ergaenzen.

Antriebskraft fuer die Verbreitung von CNs in Deutschland ist fuer ihn auch die Option Tele-Arbeit: Die konjunkturelle Lage verlangt neue Arbeitszeitmodelle, und die Ausbreitung von CNs ins Zuhause der Mitarbeiter bietet sie. Mit der Vermutung, dass rund 30 Prozent aller Arbeitskraefte zu Hause arbeiten koennten, ist der Jungunternehmer der realen Situation in deutschen Unternehmen allerdings um einige phantasievolle Laengen voraus.

Dort geht es um viel bodenstaendigere Probleme - zum Beispiel im organisatorischen Bereich: Die Wirtschaftlichkeitsrechnung fuer ein CN basiert auf gemessenen Verkehrsstroemen zwischen Abteilungen oder Standorten. Bei haeufigen internen Umzuegen - was bei grossen Unternehmen die Regel ist - aendert sich also staendig die Berechnungsgrundlage. Ein Corporate Network muss diesen Aspekt von Anfang an beruecksichtigen und flexibel genug ausgelegt sein.

Ein Stolperstein beim Aufbau von Corporate Networks sind fehlende Standards. In vielen Unternehmen mit dezentralen Standorten gibt es TK-Anlagen unterschiedlicher Hersteller. Dies ist oft sehr bewusst so; denn Herstellerabhaengigkeit ist nach wie vor eine Sackgasse.

Heterogene Systeme benutzen unterschiedliche Protokolle, was in der Regel die Funktionalitaet der vernetzten Systeme einschraenkt. Die Verwendung genormter Signalisierungsprotokolle wie DSS1, DPNSS1, 1TR6 oder QSIG ist Voraussetzung dafuer, dass sich Rufnummern-Haushalte und Leistungsmerkmale im CN einheitlich offerieren lassen. Normierung bildet die Grundlage dafuer, dass Corporate Networks auf PBX-Basis ueberhaupt entstehen koennen.