Standarddienstleistungen etablieren sich im Internet Der digitale Kiosk beginnt nun langsam seine Pforten zu oeffnen

23.09.1994

Amerikanische Museen kann man heute schon via Internet besuchen. Und kuenftig soll das Lesen der Zeitung am Bildschirm oder das virtuelle Besichtigen eines Grundstuecks bald zum Alltag gehoeren, glaubt man den Prognosen von Stephan Deutsch* ueber die Perspektiven der elektronischen Kommunikation.

Das Internet wurde aus strategischen Ueberlegungen als nationales Computernetz in den USA gebildet, hat aber ueber die letzten Jahre hinweg eine internationale Kommunikationsstruktur entwickeln koennen, in der die Ideen der Open Systems (X-Open, Posix) ihren Niederschlag fanden.

Geleitet von dem Gedanken, Menschen in einer nicht hierarchischen Struktur ueber Computer miteinander kommunizieren zu lassen, hat sich das Internet schnell zu einem Standard entwickelt. Die Verbreitung von Personalcomputern und Workstations hat den Bedarf nach Konnektivitaet forciert und zur Marktreife von Produkten gefuehrt, die heutzutage beliebige Rechnerarchitekturen in lokalen und Weitverkehrsnetzen verbinden.

Verschiedene Nebeneffekte, die ihren Ursprung in der offenen Konzeption des Internet haben, foerderten die Verbreitung des Netzes und die Bildung eines De-facto-Kommunikationsstandards, der vor allem durch die breite Akzeptanz in allen Bereichen belebt wird. Insbesondere in den Foren und Gruppen des Newssystems, durch deren Anwendung Neuheiten und Meinungen schneller verbreitet werden und die Klaerung von Problemen oft schneller moeglich ist als mit der konventionellen Literaturrecherche, wird der Nutzen dieses Standards fuer den Informationsaustausch deutlich.

Die in den USA uebliche Verfahrensweise, Entwicklungen oeffentlich zu foerdern und die Ergebnisse der Oeffentlichkeit auf breiter Ebene zugaenglich zu machen, bildete eine der wesentlichen Grundlagen fuer den schnellen Aufbau des Internet.

Neue Entwicklungen koennen auf den oeffentlich verfuegbaren Quellen bereits abgeschlossener Projekte aufbauen und redundanter Aufwand ist ueberfluessig. Nur so ist zu erklaeren, weshalb wir in der Bundesrepublik Deutschland und im ganzen europaeischen Raum mitunter wissenschaftliche Defizite haben. Doch auch hier traegt die Verbreitung der TCP/IP-basierten Netze durch Anbieter und Anwender zu einer Verbesserung der Situation bei.

Die Netzlandschaft wird hauptsaechlich durch die zwei offenen Netzwerkarchitekturen des OSI- Schichtenmodells und der Internet- Protokollfamilie gepraegt. Waehrend sich OSI-Netze, bedingt durch den schwerfaelligen Standardisierungsprozess, im wesentlichen um den Dienst X.400 (vergleichbar Electronic Mail) und X.500 (Informationsdienst) gruppieren, ist das Internet in der Lage, schnell und effizient auf die Anforderungen der Anwender zu reagieren. Dies gelingt durch den wesentlich schlankeren Standardisierungsprozess. So ist das Internet im Hinblick auf die Vielfalt der Anwendungen und Produkte weiter entwickelt als vergleichbare OSI-standardisierte Netze. Ein herausragender Aspekt ist die Philosophie des

"Open Networking" mit einer Betonung des gemeinschaftlichen Interesses. Die Verbindung der verschiedenartigsten Netzteilnehmer bildet die Quelle der Vielfalt des Internet.

Anwendungen auf der Basis des OSI- Standards sind noch wenig verbreitet, jedoch werden Einsatzabsichten und Erfahrungen mit grosser Aufmerksamkeit bedacht, da die flaechendeckende Nutzung dieser Produkte in den kommenden Jahren erwartet wird. Gerade der offizielle Charakter der OSI-Protokolle wird zu einer weiten Verbreitung zum Beispiel im Handelsdatenaustausch fuehren.

Neben dem Internet und den OSI-basierten Netzwerken existiert eine Vielfalt weiterer elektronischer Kommunikationsmedien. Aus der Sicht kommerzieller Anbieter sind dies zum ueberwiegenden Teil zentralistisch betriebene Mailbox-Netze. Compuserve und Geonet sind als Paradebeispiele zu nennen. Charakteristisch fuer diese Systeme ist, dass sich Benutzer im Gegensatz zum Internet in das Servicesystem einwaehlen muessen, um die angebotenen Dienste von dort aus zu benutzen. Da somit nicht nur der Datenaustausch, sondern auch die Benutzung in den Zeitfaktor einfliesst, koennen durchaus hohe Kosten fuer den Anwender entstehen. Ein weiteres Problem stellt die Vielzahl der Systeme dar, deren Management und Benutzung keine geringen Anforderungen an den Anwender stellt.

Im Gegensatz zum besprochenen Szenario der Mailbox-Netze agiert der Internet-Teilnehmer als aktiver und selbstaendiger Knotenpunkt im Netz. Somit schiebt er dessen Grenzen weiter nach aussen und traegt zu seiner Verbreitung bei. Das Wachstum findet also an der Peripherie des Internet statt. Diese Dezentralisierung foerdert die Entwicklung des Kommunikationsmediums wesentlich.

Durch das breite Spektrum verschiedener Netz- und Organisationsformen ist die Unterscheidung und Zuordnung einzelner Netzwerke und Netzwelten schwierig. So zum Beispiel die Begriffe Usenet und UUCP (Unix-to-Unix Protocol): Das Usenet bezeichnet den Verbund der Teilnehmer der Netzdienstleistungen "News", "Netnews" oder auch "Usenet News". Hierbei handelt es sich um ein weltweit verteiltes Konferenzsystem mit Hunderttausenden von Nutzern und derzeit ueber 3000 Gruppen unterschiedlichster Art. Das monatlich umgeschlagene News-Volumen liegt derzeit bei etwa 2 GByte.

UUCP hingegen steht fuer ein relativ simples Protokoll zur Uebertragung von Daten mit einem Hauch von Remote Job Entry und wird hauptsaechlich zum Austausch von Electronic Mail und News eingesetzt. Das UUCP-Protokoll gehoert seit den 70er Jahren zum Lieferumfang der Unix-Betriebssysteme und hat dadurch eine weite Verbreitung erfahren. Gerne wird mit UUCP auch der Verbund der Netzteilnehmer bezeichnet, die dieses Protokoll verwenden. Es wird derzeit trotz der wachsenden Verbreitung der Internet-Protokolle von den meisten Netzwerk-Dienstleistungsanbietern offeriert.

Wachsende Komplexitaet erhoeht Verwaltungsaufwand

Das Bitnet (in Europa Earn: European Academic Research Network), das den Austausch von Electronic Mail und Remote Job Entry auf Basis von IBM- Protokollen gestattet, war ein in den 80er Jahren bedeutendes Netz. Es wurde ueberwiegend von Rechenzentren der Universitaeten und sonstigen Forschungseinrichtungen benutzt. Seit Anfang der 90er Jahre ist Earn als eigenstaendiges Netz auf dem Rueckzug, und es kommen zunehmend OSI-Protokolle zum Einsatz. Earn als Organisation ist de facto in den nationalen Forschungsnetzen wie dem Verein zur Foerderung des deutschen Forschungsnetzes (DFN) aufgegangen.

Ferner gibt es eine verhaeltnismaessig grosse Gruppe hobbymaessig betriebener Netze, die durchaus international und flaechendeckend, wenn auch naturgemaess mit eingeschraenkter Dienstguete, operieren. Besonders seien hier die unstreitbaren Verdienste des Fidonet und die Pionierarbeit auch in den Entwicklungslaendern genannt.

Die wachsende Komplexitaet der internationalen Vernetzung erhoeht den Aufwand der Koordination und Verwaltung zwischen den beteiligten Einrichtungen. Die traditionell sehr starke Absprache der Netzbetreiber im Internet hat vorwiegend informellen Charakter. Seit Ende der 80er Jahre hat sich ein Ad-hoc-Gremium der Internet-Betreiber in Europa gebildet. Reseaux IP Europeene (Ripe) klaert Fragen der internationalen Zusammenarbeit und vertritt die europaeische Internet-Szene nach aussen.

Eine aehnliche Funktion wird in formellerer Weise von Rare, der europaeischen Dachorganisation fuer OSI-basierte Netze, erfuellt. Seit ihrer zunehmenden Oeffnung gegenueber Nicht-OSI-Protokollen uebernimmt die Organisation gemeinsam mit den Internet-Betreibern in Europa die administrative Unterstuetzung von Ripe.

In der Zeit, als das amerikanische Internet noch vorwiegend Universitaeten und Forschungseinrichtungen miteinander verband, gab es in Europa bereits einige universitaere Backbones, die Internet- Dienstleistungen auch hier anboten. Der Zusammenschluss einiger dieser Betreiberorganisationen fuehrte zum European Unix Computer Network, spaeter Eunet. Heute repraesentiert eine in Irland ansaessige Firma mit den nationalen Dienstleistungsanbietern als Gesellschafter Eunet in Europa und weltweit.

In ueber 27 Laendern mit Eunet kommunizieren

Eunet verbindet ueber seine eigene, unabhaengige Infrastruktur mehr als 27 Laender in Europa, der ehemaligen Sowjetunion, Nordafrika und Vorderasien miteinander. Ueberall dort, wo kommunikative Schwerpunkte zu finden sind, werden lokale Points of Presence (POPs) mit dem Ziel eingerichtet, die Kommunikationskosten fuer den Benutzer so niedrig wie moeglich zu halten. Eunet unterhaelt derzeit in Europa ueber 170 POPs und ist somit einer der groessten Anbieter seiner Art.

Seit es Computernetze gibt, ist der Service, elektronische Briefe zu verschicken, einer der urspruenglichsten. Allerdings hat Electronic Mail in einem offenen Netz wie Eunet kaum noch etwas mit den proprietaeren Postdiensten der Vergangenheit gemein. Es genuegen bereits minimale Kenntnisse des Benutzers, um die E-Mail ans Ziel zu bringen. Da eine Anbindung ueber Eunet nicht nur die Verteilung von elektronischen Nachrichten innerhalb des Internet unterstuetzt, hat der Anwender die Moeglichkeit, auch Teilnehmer anderer Netzwelten ueber Gateways zu erreichen.

Elektronische Distribution als ein lukrativer Dienst

So ist zum Beispiel die Versendung von Briefen an die Compuserve- Mailboxen realisiert. Aber auch die Auslieferung von Electronic Mail als Fax ist im Angebot und erweitert somit die Grenzen der Verfuegbarkeit und der Reichweite dieser Dienstleistung.

Die E-Mail-Dienste beschraenken sich zunehmend nicht mehr nur auf das geschriebene Wort. Standards ermoeglichen die Ergaenzung des elektronischen Briefs um Bild und Ton. So erfreut sich die Voice- Mail auf Grundlage der Electronic Mail dank zunehmender Bandbreite der Netze immer groesserer Beliebtheit. Wegen der grossen Menge an Datenpaketen ist die Uebermittlung bewegter Bilder derzeit noch eine Kostenfrage, aber auch in diesem Bereich wirkt sich das Wachstum des Netzes positiv auf die Anwendungsmoeglichkeiten fuer den Netzteilnehmer aus. Es ist bereits heute abzusehen, dass das Faxgeraet in vielen Bereichen durch einen Electronic-Mail-Anschluss in einem offenen System verdraengt werden wird.

Ob ein elektronischer Brief mit einem Bild oder einer Tonspeicherung als Anlage ueber das Netz versendet wird oder ein komplettes Softwarepaket ueber die Leitung geht, ist technisch nur ein kleiner Unterschied. Organisatorisch jedoch eroeffnen sich neue Klassen von Anwendungen in verschiedensten Bereichen. Das klassische Bild der Softwareverteilung ist nur eine initiale Idee. Kuenftig werden Musik-CDs, Radiosendungen und Buecher ueber die digitale Kommunikationsschiene verteilt werden. Die elektronische Distribution wird somit zu einer lukrativen Grundlage fuer eine Vielzahl heute noch nicht bekannter Dienstleistungen.

Der digitale Kiosk, der die Initiative der elektronischen Informationsvermittlung an den Interessenten delegiert, ist ein naechster Schritt zu neuen Dienstleistungen. Eine Vielzahl von Informationen, die heute noch mit komplizierten Datenbankzugriffen ueber proprietaere Systeme einzuholen sind, werden somit kuenftig ueber einheitliche und intuitive Schnittstellen weltweit oeffentlich zugaenglich sein. Ein gutes Beispiel hierfuer sind die amerikanischen Museen, die sich ueber das World Wide Web (WWW) im Internet in Bild und Ton erreichen lassen.

So wie es moeglich ist, sich einmalige Kunstwerke elektronisch anzusehen, sind Produktinformationen und Marktanalysen aus dem Netz abrufbar. Der neueste Sportwagen oder die letzte Optimierung einer Segelyacht, das Appartment im Tessin oder das Grundstueck in Alaska lassen sich elektronisch im Kiosk von zu Hause aus besichtigen.

Die Moeglichkeit, elektronisch einzukaufen, ist nicht gerade neu. Das gute alte Btx erlebt seine dritte Renaissance, und einige Mailbox-Anbieter leben bereits ganz gut von diesem Service. Allerdings wird die Offenheit der Systeme zu einem anderen Informations- und Marktverhalten fuehren. Vergleichbar mit den regionalen Radio- und Fernsehdiensten, wird das Geschaeft fuer die Serviceanbieter lokal sein. Die Devise "Think global - act local" wird einigen zentralistischen Systemen arge Kopfschmerzen bereiten.

Die wohl groesste Veraenderung einer traditionellen Dienstleistung wird sich durch die offene Kommunikation fuer die Verlage und Printmedien ergeben. Die Infrastruktur und somit die Allgemeinverfuegbarkeit von Informationen im Netz haben bereits dazu gefuehrt, dass erste Zeitschriften elektronisch am Bildschirm zu lesen sind, noch bevor die gedruckte Version erschienen ist. Die Folgen werden jedoch weitreichender sein: Autorenteams schreiben, korrigieren und ergaenzen Buecher gemeinsam. Die Online Publishers Action League (Opal) testet dies gerade mit einigen Hochschulen in den USA und Europa.

Grundlage fuer diese Entwicklung sind kuenftige Standards wie zum Beispiel WWW, das mit Mosaic ein einheitliches Interface auf jedem Computer garantiert und mittels eines Hypertextsystems die globale Vernetzung von Informationen gestattet.

Eine andere Dimension der geschaeftlichen Kommunikation bietet die auf der Infrastruktur des Internet entwickelte Dienstleistung der virtuellen privaten Netzwerke (VPN). Sie schaffen den eigentlichen kommerziellen Nutzen fuer kleine und mittlere Unternehmen. Losgeloest von den Restriktionen und technischen Risiken der derzeit oeffentlichen und proprietaeren Anbieter, ermoeglicht dieser Dienst auf identischen Leitungen offene Kommunikation zwischen einer beliebigen Anzahl von Rechnern und Rechnernetzen zu deutlich guenstigeren Konditionen.

Der Anwender hat die Garantie, dass die komplette Struktur, auf der sein VPN aufsetzt, mit der technologischen Entwicklung mitwaechst, ohne dass er dafuer zusaetzliche Investitionen taetigen muesste. Durch garantierte Bandbreiten und Konnektivitaet in Europa gestattet dies den Ausbau seiner Kommunikationsbasis.

Technische Anforderungen werden staendig sinken

Die Notwendigkeit, eine eigene Infrastruktur zu finanzieren, entfaellt, und eingesparte Kommunikationskosten lassen sich fuer effizientere Endanbindungen oder anderweitig einsetzen. Die Know- how-Anforderungen sind wesentlich geringer als beim Aufbau eines eigenen Inhouse-Netzwerks. Meist ist es sogar moeglich, ein schon bestehendes Kommunikationssystem in das VPN zu integrieren.

Die Arten der Anwendung sind so vielfaeltig wie die Anforderungen der Kunden. Von einfacher Kommunikation zwischen Filialen eines Unternehmens bis zur Warenflusskoordinierung eines Handelsunternehmens, das seinen Gueterverkehr ueber Satellitenanbindungen der Transportmittel wie Schiffe und Flugzeuge regelt, ist fast alles ueber ein VPN realisierbar. Ob Text, Bild oder Ton versendet und empfangen werden - was sich natuerlich auf die Kosten niederschlaegt -, entscheidet der Anwender.

Die Etablierung der Standarddienstleistungen des Internet schreitet schnell voran. Die Realisierung dieser Dienste stellt zunehmend geringere technische Anforderungen an Anbieter und an die Anwender. Somit werden kuenftig solche Services verstaerkt auch von solchen Unternehmen angeboten, die sich nicht im technologischen Spitzenbereich bewegen. Aufgabe der Dienstleistungsanbieter ist es, die Entwicklung der Netzwelt voranzutreiben, neue Dienstleistungen zu schaffen, zu testen und am Markt zu etablieren. Eunet wird deshalb versuchen, der Vorreiterrolle im Netzbereich gerecht zu werden. Diese Forderung umfasst die Sicherung der Servicequalitaet sowie Entwicklung und Integration neuer Kommunikationsdienstleistungen und -medien.