Die ISIS-Fülle erweist sich als schöner Schein:

Standard als Synonym für Norm noch lange nicht erreicht

03.10.1980

Ein Blick in den ISIS-Katalog vermittelt beim flüchtigen Durchblättern den Eindruck, daß den EDV-Anwendern ein reichhaltiges Angebot standardisierter Software zur Verfügung steht. Außenstehende können meinen, daß selbst noch so komplexe Anwendungen durch Komposition entsprechender Teillösungen zu realisieren sind. Inzwischen hat die Branche nachhaltig erleben müssen, daß diese Hoffnung schlichtweg schöner Schein ist. Es existiert weder softwaretechnische Konfektion, die wie bei industrieller Fertigung durch Normung vereinheitlicht ist, noch sind die als Standardsysteme deklarierten Programme ohne weiteres einsetzbar.

Erinnern wir uns an eine gar nicht so ferne Vergangenheit:

In der Anfangszeit der Datenverarbeitung waren die Kosten zum Betrieb von DV-Systemen nahezu ausschließlich durch die Hardware-Kosten bestimmt. In den 70er Jahren wandelte sich dieses Bild grundlegend. Hardware wurde besser, schneller und vor allem billiger, ohne daß für die Software ähnliche Entwicklungen festzustellen waren oder sind.

Hardware-Hersteller, die früher Software großzügig als Zugabe mitlieferten, können heute nicht mehr die gewaltigen Kosten für die Software-Entwicklung durch ihre Hardware-Umsätze kompensieren. Außerdem wurden die angebotenen Produkte nicht immer den spezifischen Anforderungen der Kunden gerecht. Damit war der Weg frei für Software-Häuser, die mit eigenen Produkten (Standardprogramme) in Konkurrenz oder Ergänzung zu den Hardware-Herstellern mit ihren Produkten den Markt für sich erschließen.

Früher mußten Anwender zwangsläufig ihre Programme selbst entwickeln, wenn sie nicht die vom Hardware-Hersteller mitgelieferten Produkte einsetzen wollten oder konnten. Da aber die Anwender genauso von der Explosion der Software-Kosten betroffen sind wie die Hardware-Hersteller, sind Eigenentwicklungen vielfach kostspielige Investitionen mit häufig unkalkulierbaren Risiken.

Die Kosten für den Einsatz von Standard-Programmen sind fest und kalkulierbar, Kosten für Eigenentwicklungen - und das muß jeder in der Branche immer wieder schmerzhaft erfahren - sind nicht mehr kalkulierbar. Und noch eines bleibt festzustellen: Nachentwicklungen, Fehlersuche und Wartung von Eigenentwicklungen als zwangsläufige Folgekosten verursachen mindestens genauso große Bauchschmerzen und können zum chronischen Leiden führen. Durch den Einsatz von Standardprodukten können diese Fakten schon heute weitgehend in die Rechnung einbezogen werden.

Trotzdem sind die heute angebotenen Standard-Programme noch nicht der Weisheit letzter Schluß. Auch Standardprogramme entstehen nicht nach geheimen Rezepturen. Sie unterliegen den allgemeinen Produktionsrisiken, werden zu spät fertig, enthalten Fehler, haben Performance-Probleme und anderes mehr. Am schwersten aber wiegt ihr Manko, daß der Vorspann Standard vorgaukelt. Standard als Synonym von Norm ist noch lange nicht erreicht; Ansätze hierzu werden bisher nur ganz zaghaft gemacht.

Aus ökonomischen Gründen, nämlich einfach deshalb, weil die durch die Produktion von Software verursachten Kosten langfristig unbezahlbar sind, wird sich hier ein Wandel vollziehen müssen. Die Technologie zur Software-Produktion wird sich grundlegend ändern müssen. Hierfür wird sich früher oder später ein arbeitswilliger Produktionsprozeß durchsetzen; es ist nicht einzusehen, daß die Produktion der Ware Software anderen Prinzipien unterliegen sollte als die anderer Waren. Und auch die Rohstoffe für die Realisierung von Software müssen normiert werden. Die heutigen Versuche der Normung von Software auf der Anwenderseite (KDCS, KDBS, KLDS ...) deuten diese Tendenz an. Sie reichen aber bei weitem nicht aus, die Freiheit der Anwender bei der Realisierung ihrer Systeme aus Normteilen zu erhöhen. Standardisierung und Normung müssen einen Grad erreichen, der sowohl den Produzenten als auch den Anwendern gewährleistet, Produkte einsetzen zu können, ohne sie ausprobieren zu müssen. Diese Perspektiven setzen allerdings auch beim Anwender Wandel voraus. Anwender müssen Normierung zulassen und durch Reduzierung ihrer Ansprüche eine Vereinheitlichung ermöglichen. In anderen Produktionsbereichen ist das längst so: Im Maschinenbau ist die gesamte Produktion auf Halbzeug ausgerichtet. Wird ein Rundstahl in 50 mm Durchrmesser als Normmaß angeboten, so fällt es dort auch niemandem mehr ein, für die Produktion einen Rundstahl von 49 mm zu verwenden. Wer es trotzdem macht, kalkuliert ganz bewußt die daraus resultierenden Konsequenzen. Auch wir Datenverarbeiter werden dementsprechend wegkommen müssen von unserer "genialen Virtuosität" hin zur abgesicherten wirtschaftlichen Produktion.

Günther Meyer ist Systemanalytiker bei der pdv - Unternehmensberatung für Datenverarbeitung GmbH & Co. KG, Bremen.