Arbeiten in der Informationsgesellschaft/Wohnen und Arbeiten im vernetzten globalen Dorf

Stadtteil-Infrastruktur muß sich radikal ändern

07.08.1998

Der Stadtteil der Zukunft könnte aus flexibel nutzbaren Wohn- und Bürogebäuden bestehen, die über modernste Informations- und Kommunikations-(IuK-) Technik verfügen. Ein spezielles Modulsystem würde in kürzester Zeit beliebige Erweiterungen erlauben. Es würde für Anwohner und Besucher ein vielfältiges Angebot aus Läden, Cafes, Kindergärten und Fitneßcentern geben, die sich in unmittelbarer Nähe der mit Telearbeitsplätzen ausgestatteten Wohnungen, Nachbarschaftsbüros, Satellitenbüros oder Telecentern befinden würden.

Alle Telearbeiter, ob in Wohnungen oder im Telecenter, hätten Zugang zu modernen Hochgeschwindigkeitsnetzen. Neueste Technologien garantierten optimalen Datentransfer für anspruchsvolle Anwendungen. Und innerhalb des Areals sorgte ein privates Netz für die kostengünstige und reibungslose Kommunikation zwischen Unternehmen, Privathaushalten und öffentlichen Einrichtungen wie Kindergarten, Bibliothek oder Stadtverwaltung. "Just plug in": Anschlüsse ans Intra- oder Internet, Zugänge zu Datenbanken, Zusammenschlüsse zu Local Area Networks (LAN) und Wide Area Networks (WAN) machen es möglich, daß sich Konfigurationen zu attraktiven Konditionen realisieren ließen.

Der Strukturwandel wird sich auf die Anzahl und Qualität der traditionellen Arbeitsplätze, auf Arbeitsbedingungen und Arbeitsmarkt sowie auf das Wohnen und Leben insgesamt auswirken. Selbständigkeit, projektgebundene Arbeitsverhältnisse, flexible Arbeitszeitregelungen und innovative Formen der Arbeitsorganisation wie Telearbeit und -kooperation resultieren daraus.

Zukünftig werden wir wählen können, wo und wann wir arbeiten und vor allem, wo wir leben möchten. Die Nähe zum Arbeitsplatz ist bei der Wahl des Wohnorts dann nicht mehr wichtig, da die Arbeit über die Datenautobahn zu den Menschen gelangt. Die dadurch geschaffenen dezentralen Strukturen gilt es bewußt zu gestalten. Dabei sind technische, wirtschaftliche und rechtliche Aspekte zu beachten. Große Bedeutung kommt aber der Frage zu, in welchem sozialen, kulturellen und räumlichen Umfeld zukünftige Generationen leben wollen. Bevorzugen sie eher überschaubare, abgegrenzte Räume, die ihnen ein verläßliches Gefühl von Heimat bieten, oder begreifen sie sich eher als Weltbürger und nutzen die unbegrenzten Möglichkeiten globaler Vernetzung? Wahrscheinlich lautet die Antwort: beides zugleich!

Nehmen wir Herrn Müller, der im folgenden für den modernen Menschen des 21. Jahrhunderts stehen soll. In seiner Wohnung oder in Wohnungsnähe möchte er flexibel arbeiten, seinen Freizeitaktivitäten nachgehen können und darüber hinaus viel Zeit für seine Familie haben. Durch die moderne Telekommunikations-Infrastruktur kann er für Auftraggeber in aller Welt tätig sein, ohne dafür aufwendige Reisen unternehmen zu müssen. Per Telelernen kann er außerdem regelmäßig an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen.

Telecenter rund um die Uhr besetzt

Seinem persönlichen Biorhythmus folgend, möchte Herr Müller die Möglichkeit haben, um ein Uhr nachts noch ein paar Stunden zu arbeiten, weil er dann besonders kreativ ist. Die Wohnortnähe seines Telearbeitsplatzes in einem Telecenter macht dies möglich. Dort findet er auch um diese Uhrzeit ein angenehmes Arbeitsklima vor. Daß in seinem Viertel durch die Mischung von Wohnen und Arbeiten nicht nur tagsüber Leben herrscht, erhöht außerdem die Sicherheit, jeder kann sich auch im Dunkeln noch auf die Straße trauen.

Am Tag hat Herr Müller relativ viel Zeit für seine Familie, vor allem für die Kinderbetreuung und die Arbeit im Haushalt, die er sich mit seiner Frau teilt. Sein mobiles Büro, das nicht größer als ein Walkman ist, ermöglicht es ihm, im Bedarfsfall zeit- und raumunabhängig mit seinen Geschäftspartnern zu kommunizieren. Nur wenn er seinen Mittagsschlaf hält und wenn er den Hund im nahegelegenen Park ausführt, schaltet er dieses Gerät ganz ab.

In vielen öffentlichen und halböffentlichen Räumen des Viertels ergibt sich für ihn immer wieder die Gelegenheit, den persönlichen Kontakt zu seinen Nachbarn zu pflegen. Für ihn ist es eine willkommene Abwechslung und auch ein wichtiger Kontrapunkt zu seiner abstrakten Arbeit am Computer.

Die Anforderungen von Unternehmen an die Infrastruktur einer Stadt oder einer Region ändern sich ebenso rasant wie die wirtschaftlichen Bedingungen, auf die sie selbst reagieren müssen. Arbeitsformen wie Telearbeit und Telekooperation bis hin zur vollständigen Virtualisierung der Firmenstrukturen gewinnen eine stärkere Bedeutung. Die innovativen Arbeitsformen verlangen aber andere Gebäude- und Stadtteil-Infrastrukturen als bisher. Architekten und Städteplaner müssen im Dialog mit Unternehmen und Arbeitnehmern das Arbeiten und Wohnen im 21. Jahrhundert gestalten.

Wie ist nun vorzugehen, um der sich entwickelnden Informationsgesellschaft gerecht zu werden? Wie sind Flexibilität, Wirtschaftlichkeit, der Anschluß an die Datenautobahn, Familie und Beruf auch durch Städteplanung unter einen Hut zu bringen?

Der Gehirnforscher Wolf Singer schlägt in seinem Aufsatz "Die Architektur des Gehirns als Modell für komplexe Stadtstrukturen" vor, daß sich Städteplaner am menschlichen Gehirn orientieren, das nicht hierarchisch, sondern dezentral und selbstorganisierend arbeitet. Laut Annalee Saxenian, der Autorin des Buchs "Regional Advantage", sind regionale Netzwerke in dezentralen Strukturen das Geheimnis des Erfolgs von Innovations- und Kreativitätszentren wie dem Silicon Valley.

Unternehmen müssen in der Zukunft immer schneller auf den Wandel der Bürostruktur reagieren. Deshalb müssen Satelliten-, Nachbarschaftsbüros sowie Telecenter mit traditionellen Zellen-, Kombi-, und Gruppenbüros kombiniert werden (Flexspace Office).

Günstig sind dabei möglichst nutzungsneutrale Räume. Modular aufgebaute kleinere Einheiten sollten sich bei Bedarf zusammenschließen lassen. Mobile Trennwandsysteme können außerdem sehr schnell neue Raumqualitäten schaffen. Solange allerdings der Bedarf, die Räume für Telearbeit zu nutzen, noch nicht existiert, sollten Telebüros in Mehrfami- lienhäusern alternativ als Wohnraum zur Verfügung stehen.

Durch die Mischung von Arbeiten und Wohnen in multifunk- tionalen Räumen und durch de- ren gute kommunikationstechnische Vernetzung kann das Unternehmen sehr flexibel auf Veränderungen hinsichtlich der Anzahl der Mitarbeiter reagieren. Die Beschäftigten müssen bei Neueinstellungen nicht enger zusammenrücken, und das Gebäude muß auch nicht erweitert werden. Es reicht, benachbarte multifunk- tionale Räume anzumieten und diese mit dem Hauptbüro zu vernetzen.

Kein Umbau bei Mieterwechsel

Herkömmliche Corporate-Identity-Architektur ist auf ein bestimmtes Unternehmen bezogen und muß bei einem Nutzerwechsel in der Regel aufwendig umgebaut werden. Da der Zeitraum, den ein Unternehmen in einem Bürogebäude verbringt, in Zukunft vermutlich kürzer sein wird, geht der Trend zu Gebäudeformen, die eine auf den Ort statt auf den Erstnutzer bezogene Symbolkraft aufweisen und für viele Nutzer attraktiv sind. Man sollte diese Symbolkraft städtebaulich definieren und aus der besonderen Ausrichtung auf innovative Arbeitsformen wie Telearbeit und der Mischung aus Wohnen und Arbeiten herleiten. Ein System von sichtbaren Knotenpunkten (Anschlußräume, Übergabepunkte) könnte repräsentativ und einprägsam das Gebiet gestalten.

Firmen, die Satellitenbüros und Telecenter nutzen, werden versuchen, die durchschnittliche Bürofläche (einschließlich Nebennutzflächen, Verkehrs-, Funktions- und Konstruktionsflächen) von derzeit 35 Quadratmetern je Mitarbeiter deutlich zu senken. Arbeitsplätze könnten von mehreren Telearbeitern wechselweise genutzt werden. Die Voraussetzungen dazu sind offene Raumstrukturen mit einem großen Anteil an gemeinsam genutzter Telekommunikations-Infrastruktur, Besprechungszonen für Teamarbeit etc. Denkbar ist auch eine Art Schichtarbeit, wie sie im produzierenden Gewerbe schon längst üblich ist.

Die potentiellen Nutzer sind Unternehmen aus dem Medienbereich, die einem steigenden Konkurrenzdruck ausgesetzt sind. Das bedeutet, daß sie Kosten senken und/oder die Produktivität steigern müssen, und zwar unter anderem durch innovative Arbeitsformen.

Komplette Büromodule lassen sich vorfertigen

Dazu müssen bei Büro- und Wohngebäuden die architektonischen und technischen Voraussetzungen für modernste Arbeitsformen stimmen. Als Zielpreis, der den gesamten investiven Aufwand einschließlich Wagnis- und Gewinnzuschlag berücksichtigt, kann der übliche Preis je Quadratmeter Nutzfläche von konventionellen Gebäuden festgelegt werden.

Die Flexibilisierung von Räumen kann sich kostenneutral vollziehen. Die Baukosten werden zwar etwas steigen, doch langfristig reduzieren sich die Ausgaben für Umbaumaßnahmen, weil diese Infrastruktur problemlos geänderten Anforderungen anzupassen ist - etwa bei strukturierter Verkabelung oder drahtloser Datenübertragung. Zudem lassen sie sich durch die Vorfertigung von kompletten Büromodulen ausgleichen.

Die konkreten Baukosten können ermittelt werden, sobald Gebäudeentwürfe für Grundstücke mit bestimmten Randbedingungen und mit Festlegungen bezüglich des Ausbaustandards existieren. Mit welchen Endgeräten die Arbeitsplätze ausgestattet werden, entscheidet der jeweilige Nutzer selbst.

Wann wird es denn nun soweit sein mit der Stadtteil-Infrastruktur der Zukunft? Möglicherweise schon bald. Für eine Stadt in Nordrhein-Westfalen liegen bereits erste konkrete Pläne vor.

Angeklickt

Städteplaner sollten sich beim Bau der Stadtteil-Infrastrukturen von morgen am menschlichen Gehirn orientieren, empfiehlt der Gehirnforscher Wolf Singer in seiner Schrift "Die Architektur des Gehirns als Modell für komlexe Stadtstrukturen". Das Gehirn arbeite nicht hierarchisch, sondern dezentral und selbstorganisierend. Nicht umsonst seien regionale Netzwerke das Geheimns des Erfolgs von Innovations- und Kreativitätszentren wie dem Silicon Valley in Kalifornien.

Diplomingenieur Hans-Ulrich List ist Geschäftsführer der TA Telearbeit GmbH in Geilenkirchen, Luswig Jakoby ist Architekt in Köln.