Springer-Verlag erprobt Client-Server-Entwicklung

15.10.1993

Innerhalb der kommenden zehn Jahre grosse Bereiche der kommerziellen Informationsverarbeitung umstellen - so lautet das Ziel, das sich die Axel Springer Verlag AG, Hamburg, gesetzt hat. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Ausgliederung des BS2000-Rechenzentrums in ein gemeinsam mit der Debis Systemhaus GmbH gezeugtes Tochterunternehmen (vgl. CW Nr. 20 vom 15. Mai 1992, Seite 1). Veraenderungen gehen aber auch auf der Softwareseite vor sich: Seit anderthalb Jahren loten mehrere Projektgruppen innerhalb der etwa 60 Koepfe zaehlenden Entwicklungsabteilung mit Hilfe des Sybase SQL Server und des 4GL- Werkzeugs Power Builder die Vor- und Nachteile von Client-Server- Strukturen aus.

CW-Bericht, Karin Quack

"Jetzt schreiben Sie bitte nicht, dass der Axel Springer Verlag voll auf Client-Server setzt", daempft Rainer Altenbernd, Leiter des Bereichs DV-Anwendungen, allzu hohe Erwartungen: "Die Mainframerei ist fuer uns nach wie vor strategisch." Wie bei den meisten grossen Anwenderunternehmen haengt auch bei dem Hamburger Verlagshaus die gesamte Verwaltung an einem Grossrechner - in diesem Fall einer BS2000-Maschine von Siemens-Nixdorf. Nach Angaben des Chef-Softwerkers ist denn auch der groessere Teil seiner Mitarbeiter noch mit der Weiterentwicklung von BS2000- Applikationen beschaeftigt. "Wir stehen gerade erst an der Schwelle zum Client-Server-Computing", erlaeutert Altenbernd. Der Startschuss fiel Anfang 1992 mit der Anschaffung des ersten Unix-betriebenen Datenbank-Servers. Die dafuer notwendige Datenbanksoftware lieferte Sybase.

Die naechste Entscheidung, die gefaellt werden musste, betraf die Auswahl eines Werkzeugs fuer die Entwicklung von Anwendungen mit grafischen Benutzeroberflaechen. Hier bogen Altenbernd und seine Mannschaft zunaechst in eine Sackgasse ein: Ein erster Versuch mit dem Smalltalk-basierten GUI-Tool Enfin scheiterte daran, dass das Produkt allzu stark von dem bislang praktizierten Entwicklungsansatz abwich.

Windows-Umgebung als Unternehmensstandard

Folglich sahen sich die Springer-Entwickler nach einem konventionelleren 4GL-Produkt um. K.o.-Kriterium war dabei die Ablauffaehigkeit unter MS-Windows; denn die Microsoft-Umgebung hatte sich bereits als Unternehmensstandard etabliert. Des weiteren sollte das Werkzeug selbstverstaendlich auch in der Lage sein, den Sybase SQL Server als Datenbank-Management-System anzusprechen. Damit war SQLwindows von Gupta aus dem Rennen. Der Anbieter hat es naemlich bislang versaeumt, seine Viertgenerationssprache fuer die Datenbankprodukte von Drittanbietern zu oeffnen. Wegen der engen Integration mit dem Sybase-DBMS entschied sich Altenbernd denn auch fuer Power Builder von Powersoft. Marktbeobachter bestaetigen, dass Powersoft den groessten Teil seines Umsatzes bei Sybase-Kunden macht. Abgesehen davon ist Power Builder vergleichbaren Produkten, so Altenbernd, auch aufgrund seiner Ansaetze fuer ein Konfigurations-Management ueberlegen. Seither haben die Entwickler im Axel Springer Verlag bereits acht Pilotprojekte mit Power Builder auf der Basis von Sybase realisiert. Dabei handelt es sich um Anwendungsbereiche, die auf dem Mainframe bis dato nicht ausreichend unterstuetzt worden waren. Ein Beispiel dafuer ist das Produktionsplanungssystem fuer Druckereien, fuer das die grafische Benutzeroberflaeche eine Conditio sine qua non darstellt. Mit Power Builder entwickelt wurde auch ein Verkaufs- und Informationssystem fuer den Anzeigenmarkt. Da die Mitarbeiter dort bereits mit einer GUI-Anwendung gearbeitet hatten, gab es ohnehin keinen Weg zurueck zu einer zeichenorientierten Applikation. Ein Abrechnungssystem hingegen musste deshalb erneuert werden, weil die Abteilungsrechner, auf denen diese Anwendung liefen, jetzt zur Abloesung anstanden. Auf den Trend zur Standardsoftware angesprochen, zuckt Altenbernd die Achseln: Fuer einige Verlagssegmente sei eine solche Software von der Stange kaum zu finden. Das Produktionsplanungs- und - steuerungssystem fuer die neue Grossdruckerei zum Beispiel benoetige so viele branchenspezifische und technologieabhaengige Funktionen, dass es sich durch ein Standardprodukt nicht sinnvoll abdecken lasse. Auch fuer die Vertriebs- und Anzeigenabwicklung gebe es zur Zeit keine fuer den Verlag befriedigende Loesung am Markt. So zielte Altenbernd bei der Entscheidung fuer Power Builder auch weniger auf den grossen strategischen Ansatz als vielmehr auf den moeglichst schnell erzielbaren Nutzen. "Wir haben uns von pragmatischen Erwaegungen leiten lassen, denn wir sind jetzt zunaechst einmal darauf bedacht, Ergebnisse zu erzielen." Nach Angaben des Software-Entwicklungs-Chefs befinden sich alle Power-Builder-Projekte in der Einfuehrungsphase, wurden also im technischen Sinne erfolgreich abgeschlossen. Darueber, ob die Zukunft in der Entwicklungsabteilung des Axel Springer Verlags Client-Server heissen wird, sei trotzdem noch nicht endgueltig entschieden. Immerhin stelle das Client-Server-Computing hoehere Ansprueche an die Fachbereiche, zum Beispiel in puncto Datensicherung. Auch der Aufwand fuer die Systemverwaltung steige. Nicht zu vernachlaessigen seien zudem die Schwierigkeiten, eine Vielzahl von Lieferanten unter einen Hut zu bringen, deren Hauptsitz und Entwicklungsabteilung noch dazu fast ausnahmslos in den USA ansaessig seien.

Entscheidung wird von Zeit zu Zeit ueberdacht

Unter diesen Vorzeichen muss die Entscheidung fuer einen in Deutschland nur durch einen Distributor vertretenen Softwarelieferanten mutig genannt werden. Altenbernd hofft denn auch, dass der Axel Springer Verlag nicht lange der groesste deutsche Power-Builder-Anwender bleiben wird. So oder so will sich der Hamburger die Option offenhalten, "unsere Entscheidung von Zeit zu Zeit zu ueberdenken". Auch die von Sybase fuer das kommende Jahr angekuendigten Momentum-Werkzeuge wird er sich naeher ansehen. Fuer den Wechsel auf ein anderes Produkt muesste allerdings schon ein triftiger Grund vorliegen - zumal Springer bereits eine ganze Reihe von Entwicklern auf Power Builder geschult und Erfahrungen mit diesem Werkzeug gewonnen habe. Eine Schwachstelle des Powersoft-Produkts kann jedoch auch Altenbernd nicht leugnen: Im Vergleich mit anderen 4GL-Werkzeugen mangelt es Power Builder an Repository-Funktionalitaet, was dazu fuehrt, dass Datenmodelle an unterschiedlichen Stellen abgelegt werden muessen. Das gelte allerdings fuer zahlreiche GUI-Tools gleichermassen. Altenbernd weiss, wovon er redet: Auch bei Springer wird fleissig an einem Unternehmensdaten-Modell gearbeitet. Bislang existieren nur Daten-Lexika auf der Ebene einzelner Anwendungen, die "weitestgehend" harmonisiert wurden. "Das ist der Stand der Technik, der in den 80er Jahren erreichbar war", erlaeutert der Chef-Entwickler. Jetzt sei es jedoch unverzichtbar, zumindest die Kern-Entitaeten unternehmensweit verbindlich zu definieren. Ansonsten haben die Springer-Entwickler wenig Erfahrungen mit den grossen CASE-Ansaetzen, wie sie vor wenigen Jahren noch en vogue waren. James Martin, Knowledgeware und Co. haben in der Altenbernd-Abteilung kein Bein auf die Erde bekommen. Im Einsatz ist lediglich das PC-basierte Produkt CASE/4/0 von Microtool. Mit Hilfe dieses Werkzeugs lassen sich Entity-Relationship-Modelle entwickeln, aus denen dann Tabellen fuer das Sybase-DBMS generiert werden koennen. Fuer die Konzeptionstaetigkeiten innerhalb der Anwendungsentwicklung wurde bis dato die Strukturierte Analyse genutzt - quasi von Hand. Als Mittel fuer die Realisierung standen die Drittgenerationssprache Cobol und eine Adabas/Natural-Umgebung zur Verfuegung. Zusaetzlich gab es im Axel Springer Verlag noch vor anderthalb Jahren einige Installationen der damals nur auf Philips-Rechnern ablauffaehigen Softlab-Umgebung PET Maestro. Der fuer PCs und Unix- Maschinen konzipierte Nachfolger Maestro II hatte jedoch keine Chancen mehr. Altenbernd fuehrt dafuer vor allem zwei Gruende an: Zum einen habe Softlab fuer die Entwicklung viel laenger benoetigt, als anfangs vorgesehen war. Zum anderen sei zu bemaengeln, dass aus Nutzersicht das Preis-Leistungs-Verhaeltnis nicht stimme. Darueber hinaus existiere so etwas wie das alleinseligmachende CASE-Tool einfach nicht. Auch Softlab sei hinter seinen eigenen Anspruechen hergerannt und habe versucht, alles selbst zu entwickeln, anstatt auf Standards aufzusetzen. Mittlerweile arbeiten bei Springer alle Entwickler am PC, davon ein Viertel mit Power Builder. Eine Zweiklassengesellschaft will Altenbernd allerdings nicht zulassen: "Wer heute Power Builder macht, muss wissen, dass er morgen wieder Grossrechner-Software entwickeln koennte." Wie Altenbernd ausfuehrt, ist er derzeit damit beschaeftigt, den fuer die Client-Server-Entwicklung notwendigen Aufwand zu quantifizieren - kein leichtes Unterfangen, da ein geeignetes Organisationsmodell fehlt. Erst wenn diese Evaluierung abgeschlossen sei, koenne das Unternehmen darueber entscheiden, ob es diesen Weg weitergehen wolle.

Do-it-yourself-Tools fuer ergaenzende Entwicklungen

Die Chancen stehen gar nicht so schlecht. Hat doch die Client- Server-Entwicklung durchaus ihre positiven Seiten. Altenbernd erwaehnt hier vor allem das Feedback zwischen Entwicklern und Fachbereichen. Mit den gerade erst vorgestellten Enduser-Tools Power Viewer und Power Maker habe Powersoft zudem die von Kundenseite geaeusserte Anregung aufgegriffen, den Endanwendern Werkzeuge fuer eine ergaenzende Do-it-yourself-Entwicklung an die Hand zu geben. Im Augenblick testet Altenbernd, ob diese Moeglichkeit auch im Springer-Verlag praktikabel sei. Zur Bedingung macht er allerdings, dass diese Tools preislich mit anderen PC-Produkten konkurrieren koennten. Das hat der deutsche Powersoft-Distributor Milestone jedoch bereits versprochen.