VoIP ist reif für die Praxis

Sprache und Daten auf einer Leitung

07.03.2003
Von von Martin

„Die Anwender haben ihre Skepsis gegenüber VoIP abgelegt“, freut sich Harald Bender, Leiter Marketing beim Dortmunder Anbieter Swyx Communications, aus dessen Sicht die IP-Telefonie noch immer „gerade für kleinere und mittlere Unternehmen interessant“ ist.

Der Grund für die gestiegene Resonanz liegt unter anderem darin, dass die IP-Telefonie inzwischen viele ihrer Kinderkrankheiten überwunden hat und mehr als nur eine Alternative zur Hinklassischen TK-Anlage beziehungsweise eine Spielerei für Technikverliebte darstellt. Analysten sind sich sicher: Dem Verfahren gehört die Zukunft. Die Marktforscher von Forrester Research beispielsweise erwarten bereits für dieses Jahr in Europa „erhebliche Zuwächse“ im Bereich der IP-basierenden Nebenstellenanlagen. Nach Einschätzung der Analysten dürften sich allein in diesem Jahr 400 000 entsprechende Lösungen verkaufen lassen - mit weiter steigender Tendenz. Das deckt sich mit Studienergebnissen der Techconsult GmbH. Die Marktbeobachter gehen von einem jährlichen Wachstum des VoIP-Marktes bis 2004 in Höhe von 13,7 Prozent aus. Dabei wird die Technik zurzeit vor allem innerhalb von Unternehmen und zum Teil auch für die Kommunikation zwischen einzelnen Firmenstandorten eingesetzt. Der Großteil der öffentlichen Telefonnetze basiert noch immer auf den herkömmlichen Übertragungswegen. Langfristig werden jedoch auch Carrier nicht umhin können, ihre Infrastruktur umzustellen. Technische Eingriffe sind auch in Unternehmen notwendig, denn es gibt grundlegende Aspekte, in denen sich das klassische Telefonieren von der Sprachübertragung in Datennetzen unterscheidet.

Traditionell wird während der gesamten Dauer der Kommunikation eine Leitung exklusiv zwischen dem Sender und dem Empfänger geschaltet, über die die Sprachsignale übertragen werden. Anders bei VoIP: Zwischen den an das lokale Datennetz angeschlossenen Endgeräten besteht während eines Gesprächs kein dedizierter Kommunikationskanal, die Übermittlung der Signale erfolgt nach dem Umwandeln (Codieren) durch einen Digital Signal Processor (DSP) in Form von Datenpaketen. Der Weg der einzelnen Pakete durchs Netz kann dabei variieren. Am Zielort werden die Informationen gesammelt und wieder in Sprache umgewandelt (decodiert). Der Vorteil dabei ist, dass während der Kommunikation nur so viel Bandbreite belegt wird, wie tatsächlich benötigt wird: In Gesprächspausen beispielsweise wird nichts übertragen.

Komprimierungsverfahren sorgen dafür, dass so wenig Netzkapazität wie möglich beansprucht wird. So ist es etwa mit dem von der International Telecommunication Union (ITU) standardisierten Verfahren G.729 möglich, Sprachsignale so zu verdichten, dass für die Übertragung lediglich 8 Kbit/s benötigt werden. Zum Vergleich: Ein ISDN-Kanal belegt 64 Kbit/s.

Bei starker Auslastung des Netzes können bei der IP-Telefonie jedoch einzelne Pakete verloren gehen, was unter Umständen zu Aussetzern bei der Übertragung führt. Diese störenden Effekte lassen sich durch spezielle Verfahren verringern beziehungsweise ausgleichen. Da Sprachkommunikation in Echtzeit stattfindet, müssen bei VoIP außerdem Verfahren im Netz implementiert werden, um die bevorzugte Behandlung der Sprache sicherzustellen.

Redundanz sichert Verfügbarkeit

Generell unterscheidet man verschiedene Komponenten einer IP-Telefonielösung: Neben der IP-basierenden Nebenstellenanlage werden spezielle IP-fähige Endgeräte benötigt. Gateways sorgen für die korrekte Kommunikation der IP-Anlage mit der klassischen Telefonwelt außerhalb des Unternehmens.

IP-Nebenstellenanlagen basieren auf Standard-Server-Technik. Die Funktionen einer klassischen TK-Anlage werden über eine Software nachgebildet, die auf einem Rechner mit einem handelsüblichen Betriebssystem wie Windows NT, Windows 2000 oder Linux läuft. Die für den Sprachbetrieb erforderliche hohe Ausfallsicherheit kann durch den redundanten Betrieb mehrerer solcher Server realisiert werden. Fällt ein Gerät aus, übernimmt das zweite automatisch dessen Funktion.

Der zentrale Server stellt Verbindungen zwischen den angeschlossenen Endgeräten her und ist für Dinge wie die Rufnummernverwaltung zuständig. Vertraute ISDN-Leistungsmerkmale wie Rückruf bei Besetzt oder Rufweiterleitung stehen auch bei VoIP zur Verfügung. Sofern sie nicht in Standards wie H.323 oder Session Initiation Protocol (SIP) enthalten sind, realisieren die Anbieter sie über Eigenentwicklungen. Hier liegt derzeit noch die Crux der IP-Telefonie: Diese herstellerspezifischen Ergänzungen sind nicht miteinander kompatibel. Unternehmen können ihr VoIP-Equipment also nicht frei wählen und beliebig kombinieren, wenn sie Wert auf zusätzliche Komfortfunktionen legen.

Telefonieren mit dem PC

Das gilt auch für die IP-Telefone, die es als reine Softwarelösungen oder als dedizierte Tischgeräte gibt. In der preislich attraktiven Soft-Variante macht ein Software-Client aus dem PC des Mitarbeiters (der dafür mit Soundkarte, Lautsprecher und Mikrofon ausgestattet sein muss) ein vollwertiges Endgerät. Die im Vergleich dazu teureren IP-Tischtelefone besitzen ein eigenes Betriebssystem, können aber auch mit dem PC verbunden werden. Sie sind den klassischen Systemtelefonen auch in Bezug auf den Preis sehr ähnlich, werden aber im Gegensatz zu diesen nicht an das Telefonnetz, sondern direkt an das LAN angeschlossen. IP-Apparate benötigen Strom - diesen können sie ganz normal aus der Steckdose oder aber über das Netzkabel beziehen, falls die Infrastruktur hierfür vorbereitet ist.

Gateways stellen die Verbindung zwischen IP-Netzen und der klassischen TK-Welt her. Sie werden benötigt, damit Anrufe von einem IP-Telefon zu einem Gerät außerhalb des Unternehmensnetzes korrekt hergestellt und beendet werden. Sie sind neben der Protokollumsetzung außerdem für die Übermittlung von Signalisierungsinformationen zuständig, die unter anderem für die Abrechnung der Telefonate eine Rolle spielen.

Die Hauptvorteile der IP-basierenden Telefonie gegenüber der klassischen Sprachübertragung liegen in der vereinfachten Administration, verbesserten Funktionen und der höheren Flexibilität. Einsparungen, wie Hersteller sie früher gerne versprachen, sind zwar auch möglich, doch weniger bei den Gesprächskosten als vielmehr im laufenden Betrieb. So gestaltet sich etwa die Administration einer IP-basierenden Telefonanlage um einiges einfacher: Anstatt einen (in der Regel externen) TK-Spezialisten zu bemühen, können die internen IT-Administratoren die Einrichtung der Anschlüsse, die Vergabe der Rufnummern und die Pflege des Systems mit vertretbarem Aufwand selbst in die Hand nehmen.

Das Einsparpotenzial durch Sprach- Daten-Konvergenz ist enorm: Die RAG Informatik aus Gelsenkirchen beispielsweise setzt intern selbst auf IP-Telefonie. Im Jahr 2001 verbuchte der TKDienstleister für Wartung und Betrieb der VoIP-Lösung knapp 20 Prozent weniger Kosten als für ein vergleichbares klassisches Telefoniesystem.

Zusätzlich profitieren Firmen beim Einsatz einer IP-basierenden TK-Anlage von wesentlich mehr Komfort und einer höheren Flexibilität etwa im Hinblick auf Umzüge, Erweiterungen oder Veränderungen - im Fachjargon Moves, Adds and Changes genannt. Während bei klassischen TK-Anlagen immer ein Spezialist benötigt wird, der den alten Anschluss deaktiviert und den neuen freischaltet, schaut es bei IP-basierenden Systemen anders aus: Wechselt ein Mitarbeiter an einen anderen Arbeitsplatz, nimmt er sein vorhandenes Telefon mit und verbindet es im neuen Büro einfach mit dem lokalen Netz - das Gerät meldet sich dann automatisch bei der zentralen IP-Anlage an. Dem Anwender steht danach sofort seine gewohnte Telefonieumgebung inklusive etwaiger persönlicher Voreinstellungen, Verzeichnisse oder Kurzwahllisten zur Verfügung.

Weitere Funktionen können bei den IP-basierenden Lösungen nicht nur von den Herstellern, sondern sogar von Unternehmen selbst entwickelt werden. Bei Systemen von Cisco lassen sich Telefonie und Applikationen über Extensible Markup Language (XML) miteinander verknüpfen. Swyx bietet Anwendern ein Software Development Kit (SDK), das ihnen helfen soll, neue Wege der Interaktion zwischen Sprache und Programmen umzusetzen. Jedes Unternehmen, das den Einsatz einer IP-Telefonie- Lösung erwägt, sollte sein Netz im Vorfeld darauf untersuchen, ob es für die Sprachübertragung geeignet ist. Dabei können Anwender entweder auf eine breite Palette an Tools zurückgreifen oder aber einen Dienstleister wie Datakom oder RAG hinzuziehen, der die Analyse vornimmt und Empfehlungen für die Optimierung gibt. RAG-Mann Ralf Keddigkeit weiß beispielsweise, dass allein schon die richtige Konfiguration von Switches oder anderer Netzkomponenten viel dazu beitragen kann, das Netz für IP-Telefonie vorzubereiten.

Die verfügbare Bandbreite sollte zumindest innerhalb der Unternehmensgrenzen kein allzu großes Problem darstellen, wenn flächendeckend das 100 Mbit/s schnelle Fast Ethernet vorhanden ist. Die zusätzlich anfallenden Sprachpakete können dann ohne Schwierigkeiten zusätzlich zum Datenaufkommen mit übertragen werden. Da Telefonate als Echtzeitanwendungen jedoch empfindlich gegenüber Verzögerungen sind, sollten auf jeden Fall Techniken wie Differentiated Services (Diffserv) oder das Resource Reservation Protocol (RSVP) eingesetzt werden, um dem Sprachverkehr im LAN Vorfahrt einzuräumen. Grundsätzlich gilt, dass das Netz sauber strukturiert und voll geswitcht sein muss. Zudem empfiehlt sich eine logische Trennung des Sprachverkehrs von den Datenübertragungen mit Hilfe von virtuellen LANs (V-LANs).

Risiko begrenzt

Bei sorgfältiger Planung hält sich das Risiko, das in den Köpfen vieler IT-Macher noch immer fest mit dem Thema IP-Telefonie verbunden ist, in Grenzen. Die Technik hat ihre Kinderkrankheiten überwunden. Die Chancen stehen zudem gut, dass die derzeit noch vorhandenen Mängel in Zukunft behoben werden.