Portale eignen sich nur für Produkte von der Stange

Sprachdienste können Web-Shops aufpeppen

23.06.2000
DÜSSELDORF (hi) - Das Einkaufen via Internet revolutioniert Vertriebs- und Marketing-Strategien der Hersteller. Sprachtechnologien haben jedoch in den Konzepten der meisten Betreiber von Web-Shops noch keinen Platz. Mit Thomas Merten, Vorstandsmitglied der HMP Teleconsult AG in Düsseldorf, sprach CW-Redakteur Jürgen Hill über die Fallstricke vieler E-Commerce-Projekte.

CW: Halten Sie die Euphorie rund um das Thema E-Commerce für angemessen oder sind Sie bezüglich der Aussichten eher skeptisch?

MERTEN: Skeptisch ist nicht ganz der richtige Ausdruck, eher distanziert. Ich habe nämlich den Eindruck, dass sich viele Unternehmen nicht überlegen, wie eine Gesamtlösung aussehen sollte. Ich höre in meiner Praxis als Berater sehr häufig, dass man im Internet einfach auch mit einer E-Commerce-Lösung präsent sein müsse. Dabei machen sich die Unternehmen viele Gedanken über die Einbindung eines Warenwirtschafts- oder Buchungssystems, berücksichtigen aber andere wichtige Aspekte nicht.

CW: Wenn die Backend-Anbindung zu stark betont wird, was wird dann Ihrer Meinung nach vernachlässigt?

MERTEN: In vielen Lösungen werden nur die IT-Probleme gesehen werden, die Telekommunikation im Gesamtkonzept wird aber vergessen.

CW: Sie meinen die Integration von Sprachkommunikation? Bei den klassischen Internet-Angeboten genügen doch wenige Mausklicks bis zur Bestellung.

MERTEN: Ganz pragmatisch betrachtet: Nichts ist leichter, als schnell zum Telefon zu greifen. Bevor der Benutzer sich im Internet eingeloggt hat, steht eine Telefonverbindung bereits. Darüber hinaus kommen Sie in vielen E-Commerce-Lösungen nur bis zu einem gewissen Punkt und müssen dann trotzdem zum Telefonhörer greifen, weil noch Fragen offen sind.

CW: Nennen Sie ein Beispiel.

MERTEN: Nehmen Sie die Touristikbranche. Im Netz kann der Kunde bei fast allen großen Fluggesellschaften zwar einen Flug reservieren, muss dann aber beim Reisebüro anrufen, um die Abwicklung einzuleiten. Das ist ein Medienbruch. Warum bekommt der Kunde kein Feedback aus dem Internet-Angebot heraus, dass die Buchung erfolgreich war und die Tickets nach Hause geschickt werden? Das wäre ein in sich geschlossener Vorgang.

CW: Als IT-Berater würde ich Ihnen entgegnen, dass die Airline ihr Konzept nicht zu Ende gedacht hat. Was liegt näher als eine automatische E-Mail-Rückantwort?

MERTEN: Von der technischen Seite her haben Sie Recht, aber nicht unter organisatorischen Aspekten. Das eigentliche Problem sehe ich nämlich darin, dass Sie online nur Standardlösungen anbieten können: Etwa den Alukoffer als Prämie für Vielflieger, nicht aber eine individuelle Prämienkombi mit Hin- und Rückflug in unterschiedlichen Klassen wie Economy und Business. Kurz ausgedrückt, die Komplexität der Produkte entscheidet über den E-Commerce-Auftritt. Sobald ein Produkt nicht von der Stange ist, hat der Kunde Fragen dazu.

CW: Also geht der Servicegedanke als Wettbewerbsvorteil beim reinen E-Commerce verloren?

MERTEN: Ja, ganzheitlich betrachtet geht er verloren, da die Internet-Lösung nur ein Teil des ganzen Serviceumfeldes sein kann. Was tun wir im Bereich von E-Commerce? Die meisten Internet-Anbieter geben dem Kunden eine Lösung, durch die er sich alleine hangeln muss, um zum Kauf zu kommen. Das kann nicht der Sinn der Sache sein. Warum verbinden wir nicht Sprache und Internet, um so den Kunden individuell zu betreuen?

CW: Das klingt nach der vielzitierten Konvergenz der Sprach- und Datennetze, über die wir seit zwei Jahren diskutieren. In der Praxis finden Sie aber kaum durchgehende Produktlösungen.

MERTEN: Sie sprechen Voice over IP (VoIP) an. Das erfordert aber die Verbreitung von IP bis zu Endgeräten wie dem Telefon. Wenn ich von Lösungen spreche, dann meine ich nicht großartige technische Neuerungen. Heute spreche ich noch von Konvergenz in dem Sinne, dass ich Anwendungen miteinander verknüpfe, aber noch physikalisch voneinander getrennte Netze betreibe.

CW: Wie sollte ein solches Konzept konkret aussehen?

MERTEN: Warum integrieren wir auf den Internet-Seiten nicht häufiger Call-Back-Buttons, die automatisch innerhalb weniger Sekunden einen Rückruf initiieren? Hat der Anwender die Rufnummern-Übermittlung aktiviert, so kann der Rückruf automatisch erfolgen. Ansonsten wäre noch ein Popup-Fenster notwendig, in dem der Benutzer seine Rufnummer einträgt. Zudem könnte der Druck auf den Call-Back-Button im Call-Center die Generierung eines Trouble-Tickets auslösen, so dass der Agent beim Rückruf bereits weiß, wo die E-Commerce-Transaktion unterbrochen wurde. Dies alles ist mit heutiger CTI-Technik realisierbar, es muss nur berücksichtigt werden. Das verstehe ich unter Service, anstelle der einfachen Angabe einer Telefonnummer auf einer Internet-Seite mit dem Hinweis, bei Problemen dort anzu-rufen.

CW: Sie haben die Verknüpfung von Internet und Call-Center geschildert. Warum nicht gleich eine reine Call-Center-Lösung, wenn E-Commerce nur für Produkte von der Stange geeignet ist?

MERTEN: Verstehen Sie mich nicht falsch, die Integration der Telekommunikation bedingt nicht zwangsweise ein Call-Center. Wenn ich ein solches betreibe, dann ist die Interaktion hier sicher gut aufgehoben. Ich kann den Service von Sachbearbeitern erledigen lassen und mein Unternehmen als Interaction-Center sehen, bei dem der Kunde im Mittelpunkt steht. Das alles ist technisch kein Problem, sondern eine Frage der Mentalität. Es reicht heute nicht mehr, nur ins Internet zu gehen und später zu optimieren. Wenn der Anwender auf eine Seite trifft, die nicht entsprechend funktioniert, dann wird er Alternativen suchen, und der Kunde ist für das Unternehmen verloren.

CW: Wir haben viel über den B-to-C-Bereich gesprochen, gilt das Gesagte auch für die B-to-B-Beziehungen?

MERTEN: Hier haben wir etwas andere Voraussetzungen. Ein Anbieter, etwa ein Zulieferer der Automobilindustrie, ist deutlich leidensfähiger als ein Consumer. Wenn er über ein Portal mit den Autoherstellern ins Geschäft kommen will, muss er sich zwangsläufig auf ihre Spielregeln einlassen.

CW: Also ist der Mittelständler in letzter Konsequenz gezwungen, die Entwicklung mitzumachen. Wo liegt dann der Vorteil der elektronischen Marktplätze gegenüber EDI und EDIfact?

MERTEN: Der Mittelständler muss sich den Regeln der Portalbetreiber unterwerfen, da er nicht wie ein Privatkunde nach Alternativen suchen kann. Im Gegensatz zu den bisherigen Branchennetzen handelt es sich dabei um offene Lösungen, die auf Standards beruhen. Für den Portalbetreiber hat dies den Vorteil, dass auch neue Anbieter hinzukommen. Im Gegenzug ist für den Anbieter die Einstiegshürde niedriger, da er nicht wie bei EDI oder anderen Branchennetzen erhebliche finanzielle Vorleistungen zu tätigen hat, um überhaupt am elektronischen Handel teilzunehmen.

CW: Sie unterstreichen die Vorzüge offener Systeme. Wie garantiere ich in einem solchen Szenario, dass die Kunden die Personen sind, für die sie sich ausgeben?

MERTEN: Hier sind Lösungen aus dem PKI-Bereich gefordert. Allerdings reicht dies alleine nicht, um einen Missbrauch zu verhindern. In letzter Konsequenz ist wohl eine Zertifizierung der Teilnehmer notwendig. Diese hat jedoch nicht nur unter Sicherheitsaspekten zu erfolgen, sondern sollte auch betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte berücksichtigen. Ist der Anbieter in der Lage, wirklich zu liefern? Stimmt die Qualität? Alles Fragen, die weniger technischer als organisatorischer Natur sind. Ich sehe hier den Portalbetreiber als Zertifizierungsstelle gefordert. Zudem kommt auf ihn wohl die Aufgabe der kaufmännischen Abwicklung zu, und er muss sicherstellen, dass die Informationen von Anbieter A nicht an den Konkurrenten B weitergegeben werden.

CW: Und wer soll diese wichtige, zentrale Rolle des Portalbetreibers übernehmen?

MERTEN: Einen typischen Portalbetreiber wird es nicht geben. In der Regel eignen sich hierzu Leute und Unternehmen, die sowohl auf der Anbieter- als auch der Nachfrageseite Kontakte haben. Schließlich entscheiden Marketing, Organisation und kaufmännische Abwicklung über den Erfolg, da man Netztechnik und Software ja zukaufen kann. Nach meiner Einschätzung stellen sich diese Portalbetreiber unabhängig auf, und ich glaube nicht, dass es die ISPs oder die Hersteller von bestimmten Applikationen sind, weil das nicht deren Kerngeschäft ist. Prädestiniert als Betreiber wären etwa Banken oder Unternehmensberater, denn diese kennen die Marktteilnehmer. Ihre Aufgabe ist es, als Service einen Marktplatz für Anbieter und Nachfrager zu betreiben. Und hier halte ich auch im B-to-B-Bereich eine Verknüpfung von Sprachapplikation und Internet-Marktplatz für erforderlich.

CW: Läuft das auf eine klassische Telefonielösung oder auf VoIP hinaus?

MERTEN: Heute sprechen wir auch hier noch von der traditionellen Telekommunikation. Mittelfristig dürfte aufgrund der Herstellerphilosophien ein Übergang zu VoIP stattfinden, wobei ich unter mittelfristig vier bis fünf Jahre verstehe. Dann verfügt jedes Unternehmen über mehrere Zugänge, und es ist egal, ob ein Kommunikationspartner über das derzeitige Festnetz, über IP oder ein Mobilfunknetz Kontakt aufnimmt. Der ganze Verkehr fließt über eine Plattform, den Kommunikations-Server. Und dieser leitet dann das Gespräch auf ein Endgerät. Ob das unbedingt ein VoIP-Device sein muss, wage ich zu bezweifeln, denn ich kann ja ohne weiteres mit einem Gatekeeper arbeiten.