IT im Tourismus/Von Anfang an: Think big!

Spontaneität als Teil des Business-Plans

10.03.2000
Es war keine Garage im Silicon Valley, in der die Geschäftsidee von Lastminute.com entstand, sondern eine ganz gewöhnliche Couch in der Lobby eines Londoner Hotels. Heute, zwei Jahre danach, zeigt sich, dass hier eine der wohl erstaunlichsten europäischen Startup-Geschichten im Sektor E-Commerce ihren Anfang nahm. Jörg Rensmann* erzählt.

Weder empirische Sozialforschung noch repräsentative demografische Erhebungen führten zur Erkenntnis der beiden wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale des "Homo Internet" und damit des potenziellen Last-Minute-Users, auf deren Bereitschaft, per Internet zu kaufen und zu buchen, letztendlich das Geschäftsmodell der Firma Lastminute.com basiert. Vielmehr bestätigten Eigenanalyse sowie Gespräche mit Freunden und Geschäftspartnern die Vermutung, dass viel beschäftigte Menschen, die gleichzeitig eine hohe Affinität zum Internet aufweisen, ein großes Bedürfnis nach Spontaneität und Abwechslung haben. Die Bereitschaft, Geld für inspirierende Angebote auszugeben, ist vorhanden. Ein echtes Problem hingegen haben "Internet People" mit ihrem Zeitbudget. Schon das Einholen von Informationen über verfügbare Hotels, Flüge, Kurztrips, Reisen, Eintrittskarten für Veranstaltungen oder auch die Suche nach Ideen für kreative Geschenke und Überraschungen strapaziert ihre Geduld. Für den Gang ins Reisebüro oder in ein Einkaufs-Center haben sie erst recht nichts übrig.

Hier will Lastminute ins Spiel kommen: Unter www.lastminute.com hält der Online-Retailer regelmäßig aktualisierte Angebote in den Bereichen Hotels, Flüge, Reisen, Events, Geschenke und Auktionen zu attraktiven Preisen bereit. Diese sind das Ergebnis von Sonderkonditionen, die das Startup-Unternehmen mit zahlreichen Hotelketten, Fluggesellschaften, Reiseveranstaltern und Herstellern aus der Unterhaltungs- und Geschenkindustrie ausgehandelt hat. Dabei wehrt sich Lastminute gegen das Image eines klassischen Billig-Urlaubsanbieters beziehungsweise einer Restplatzbörse: "Unser Geschäftsmodell basiert auf Spontaneität als Lebensgefühl und nicht auf dem Abverkauf von Restposten", erklären Martha Lane Fox, 26, und Brent Hoberman, 31, Gründer von Lastminute. "Wir wollen Menschen dazu ermutigen, sich ihre Träume zu unglaublichen Preisen spontan per Mausklick zu erfüllen."

Der Schlüssel zum Erfolg: eine Crew von mehr als 250 Mitarbeitern, strategische Kooperationen mit führenden Anbietern sowie zahlreiche Investoren.

Bereits in der Anfangsphase investierten Unternehmen wie Arts Alliance, New Media Investors und Innovacom, die Venture-Capital-Gesellschaft der France Télécom, in das Startup. Im Mai 1999 sicherte sich Lastminute weitere zirka zehn Millionen Dollar von der T-Telematik Venture Beteiligungsgesellschaft GmbH, einer Tochtergesellschaft der Deutschen Telekom, ferner von Intel (USA) und von Global Retail Partners aus Carrefour in Frankreich. Im November schloss sich Morgan Stanley Dean Witter an.

Gang an die Börse für März geplantIn der im Januar 2000 abgeschlossenen, vierten Finanzierungsrunde flossen dem Team aus Großbritannien noch einmal 31 Millionen Dollar zu: BAA PLC, einer der größten Flughafenbetreiber, Priceline.com Inc. und die Bass Hotels & Resorts, die unter anderem Marken wie Holiday Inn Hotels, Intercontinental Hotels und Staybridge Suites vertritt, gefolgt von Sony Music Entertainment Inc. sowie Starwood Hotels and Resorts Worldwide Inc. (Vertreter von Marken wie Sheraton, Westin, The Luxury Collection, St. Regis, Ciga und Four Points), Viventures (Venture-Capital-Fonds, gegründet von Vivendi) und Mitsubishi Corporation Finance steuerten ihren Teil dazu bei. Der Gang an die Börse in London und New York ist für Mitte März geplant.

So simpel die Idee, die hinter dem Online-Unternehmen steckt, so komplex war die Realisierung. Sie war mit einem erheblichen technischen und betriebswirtschaftlichen Aufwand verbunden. Die zahlreichen Kooperationen und Allianzen, die die Grundlage des Angebots und somit des wirtschaftlichen Erfolgs der Website darstellen, kamen nur zustande, weil man von Anfang an in großen Zügen gedacht hatte. Hoberman und Lane Fox orientierten sich nämlich an Vorbildern wie Amazon, Yahoo und AOL.

Begonnen hatte alles mit einer einfachen Website, drei Flügen und einer Hand voll Übernachtungsmöglichkeiten. Heute fließen täglich mehrere hundert Angebote aus der ganzen Welt in die Datenbanken des Unternehmens. Parallel arbeiten die Broker bei Lastminute an neuen Bundles, die sie aus den jeweiligen Offerten kreieren.

Es werden Insider aus dem jeweiligen Business beschäftigt, um in Verhandlungen mit den verschiedensten Partnern ein Optimum an interessanten Angeboten zu erzielen: von Tickets für ein Konzert über ausgefallene Geschenke wie signierte Boxhandschuhe bis zum Komplettangebot mit Flug, Hotel und Gondelfahrt zum Valentinstag in Venedig oder einem Flug in einer russischen MIG-29.

Als Konkurrenz wird Lastminute von den großen Hotelketten und Fluggesellschaften offenbar (noch) nicht betrachtet, obwohl diese zum Teil ebenfalls im Internet oder direkt vor Ort - zum Beispiel am Flughafen - Restkontingente zu Sonderkonditionen feilbieten. So setzen, um nur einige zu nennen, British Airways, Virgin Atlantic, die Deutsche Lufthansa, Cathay Pacific, Bass Hotels & Resorts mit Holiday Inn und Intercontinental, ferner Starwood Hotels and Resorts Worldwide Inc. - unter anderem mit Sheraton und The Luxury Collection - sowie Sony Music Entertainment auf die Londoner als willkommene Erweiterung ihrer Vertriebskanäle.

Zu speziellen Veranstaltungen wie der Fußball-Europameisterschaft, den Olympischen Spielen oder Feiertagen wie Weihnachten, Ostern und Valentinstag werden die Lastminute-Akquisiteure auch selbst aktiv. Ständig geht es darum, die eingehenden Angebote der Kooperationspartner zu möglichst attraktiven Komplettpaketen zusammenzuschnüren.

"Häufig schafft sich der Surfer das Bundle auch selber", erklärt Hoberman. Wer beispielsweise ein Fußballspiel in München, einen Boxkampf in Manchester erleben oder einfach nur ein Wochenende in Paris verbringen will, dem offeriert die Website vom Flug über Hotels bis zum Ticket alles, was er braucht.

Die kritische Masse an Offerten, die notwendig ist, um von Synergie-Effekten zu profitieren und so klassischen Reisebüros und "traditionellen" Lastminute-Firmen das Leben schwer zu machen, haben die Londoner offenbar erreicht. Doch zielt das Business-Modell auf flexible Kunden ab: "Bei uns muss es halt einfach egal sein, in welchem Fünf-Sterne-Hotel man übernachten wird. Und wenn es keine günstigen Flüge nach Australien gibt, muss man vielleicht nach Neuseeland oder Hongkong ausweichen", erklärt Brent Hoberman den Unterschied.

Neben dem Aufwand für Marketing und Kooperationen verschlingt auch die technische Realisierung jeweils erhebliche Summen und belastet das Jahresergebnis noch nachhaltig. "Jedes Angebot auf der Website ist für unsere Kunden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verfügbar und kann in der Regel sofort gebucht werden", so Hoberman. Enttäuschungen durch Absagen oder Fehlbuchungen soll es nicht geben. Sämtliche Datenbanken sind direkt mit den nationalen und internationalen Buchungs- und Reservierungssystemen gekoppelt.

Die nationalen Standorte sind für die lokale Anpassung des Angebots sowie die Verhandlungen mit den jeweiligen Partnern zuständig und realisieren über ein eigenes Call-Center den Customer-Support. Neben Frankreich und Deutschland verfügt Schweden seit Dezember 99 über eine eigene Website und das zugehörige Back-Office. Spanien, Italien und weitere europäische Standorte befinden sich im Aufbau.

Außerdem arbeitet man in London an einem Relaunch des Web-Auftritts und des Site-Designs, der bis Mitte März abgeschlossen sein soll. Nach anderthalb Jahren sind neben kosmetischen Veränderungen auch technische Updates und Verbesserungen fällig, die unter anderem Ergebnis der bisherigen Erfahrungen und Kundenanregungen sind. So soll das Call-Center neben einer Telefon-Hotline in Zukunft auch per Chat auf der Webpage zu erreichen sein. Zudem kann der Kunde derzeit nur mit seiner Kreditkarte zahlen. Gerade im Hinblick auf das eher konservative Online-Kaufverhalten in Deutschland misst man alternativen Online-Zahlungssystemen eine enorme Bedeutung zu.

Auch, was die Kapazitäten angeht, ist ein Ausbau der bisherigen Server-Technik unumgänglich. Mit derzeit mehr als 800000 registrierten Kunden, die regelmäßig einen Newsletter mit neuen Angeboten per Mail erhalten, und über zehn Millionen Page Impressions täglich spielt Lastminute in der Beliebtheit der Web-Surfer längst in der Liga anderer etablierter Online-Reseller mit.

Neben Online-Werbung auch Offline-KampagnenDie Website soll auch in Zukunft völlig werbefrei bleiben. Banner würden nur irritieren und vom eigentlichen Interesse des Kunden ablenken. Geld verdient Lastminute ausschließlich über Provisionen. Damit soll das Unternehmen langfristig die Gewinnzone erreichen.

"Wer im Internet-Business vorn mitmischen will, muss kräftig die Trommel schlagen", weiß Hoberman. Neben Online-Werbung auf Web-Seiten wie AOL oder Yahoo schaltet man Offline-Kampagnen in Zeitungen und wird künftig auch auf Werbung in Radio und Fernsehen nicht mehr verzichten können. "Wer hier spart, geht unweigerlich in der Anonymität des Internet unter oder wird von einem anderen überholt, der entsprechend viel Geld ausgibt."

So zählt im Online-Business außer Geschäftsidee und Differenzierung vom bestehenden Angebot vor allem eines: der Bekanntheitsgrad. Man muss dafür sorgen, dass die eigene Web-Seite und der eigene Online-Service in aller Munde ist, nur dann hat man Erfolg. Im März 2000 ist als logische Konsequenz der Gang an die Börse geplant. Und auch hier machen die Londoner keine halben Sachen - die Notierungsaufnahme wird als Dual Listing an der London Stock Exchange und der Nasdaq in New York durchgeführt.

* Jörg Rensmann ist freier Journalist in Meppen.