Spezialwissen nicht Teil der Studienverordnung

31.07.1987

Professor Dr. Wolfgang Wild

Bayerischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, München

Die Frage, ob die deutschen Hochschulen praxisgerecht ausbilden, wird recht unterschiedlich beantwortet. In der Öffentlichkeit herrscht die Ansicht vor, daß es mit der Praxistauglichkeit der Universitätsabsolventen nicht zum besten stehe. Demgegenüber möchte ich als "Kronzeugen" Karl Heinz Beckurts zitieren, der bei einem Hearing im Bayerischen Landtag im November 1984 folgendes ausgeführt hat:

"Auf dem Gebiet der technischen und physikalischen Ausbildung - ein Bereich, aus dem sich der technische Führungsnachwuchs des Hauses Siemens ganz überwiegend rekrutiert - ist die deutsche Hochschule besser als ihr Ruf. Ich möchte feststellen, daß wir im Hause Siemens im vergangenen Jahr mehr als 2000 Ingenieure und Naturwissenschaftler eingestellt haben,... und zwar durchwegs sehr tüchtige, sehr gut ausgebildete und sehr gut motivierte junge Nachwuchskräfte."

Ich interpretiere die Äußerung von Herrn Beckurts, der man viele ähnliche Aussagen aus anderen Wirtschaftsbereichen an die Seite stellen könnte, dahingehend, daß es um die Berufstauglichkeit der Absolventen zumindest im Bereich naturwissenschaftlich-technischer Studiengänge so schlecht nicht bestellt ist. Allerdings müssen wir darüber nachdenken, wo und wie wir die Verhältnisse verbessern und Schwachstellen beseitigen können.

So müssen wir damit rechnen, daß sich die Berufsfelder rasch wandeln werden und ein lebenslanges Lernen erfordern. Die in einem Studium erworbenen Spezialkenntnisse werden nicht lange vorhalten, sondern müssen ständig erneuert werden; andererseits muß das Grundwissen so breit sein, daß es den nachträglichen Erwerb von Spezialkenntnissen auch auf Gebieten ermöglicht, die vom Schwerpunkt des ursprünglichen Studiums relativ weit entfert liegen.

Vor allem jedoch muß ein Studium in den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen dazu befähigen, am Fortschritt der Technik aktiv mitzuwirken und darüber hinaus auch die ökonomischen, ökologischen und sozialen Folgewirkungen neuer Technologien zu erfassen.

Da Wissen in Datenbanken gespeichert werden kann, meinte man längere Zeit, man könne auf die Vermittlung eines breiten Grundwissens verzichten und sich auf eine rein exemplarische Stoffdarbietung beschränken. Heute hat man die Bedeutung des Wissens für die Lösung anspruchsvoller Aufgaben wiederentdeckt; man hat erkannt, daß Kreativität und schöpferischer Ideenreichtum nicht aus Spontaneität und fröhlicher Unwissenheit entspringen, sondern aus einem Schatz umfangreichen, gut organisierten Wissens.

Bei der konkreten Gestaltung technischer Studien sollten zwei Zielsetzungen im Vordergrund stehen:

Hochschulstudien müssen ein breitgefächertes Grundwissen vermitteln;

Studiengänge müssen so flexibel sein, daß sie Raum lassen für eigenständige Aktivitäten.

Eine obligatorische Vermittlung von Spezialkenntnissen sollte demgegenüber zurücktreten. Die Beschäftigung mit einem Spezialproblem, das an der Front der Forschung liegt, muß zwar im Verlauf des Studiums zumindest einmal gefordert werden, damit der Student nachweisen kann, daß er in der Lage ist, das erworbene Grundwissen sinnvoll einzusetzen und das benötigte Spezialwissen zusätzlich zu erarbeiten. Im übrigen aber sollte der Erwerb von Spezialkenntnissen nicht Bestandteil der obligatorischen Studienordnung sein, sondern der freiwilligen Initiative des Studenten entspringen. Je nach seinen Fähigkeiten und Neigungen wird er dabei eine mehr oder weniger große Zahl von Themen aufgreifen, wird je nach Veranlagung mehr in die Breite oder mehr in die Tiefe gehen. Die Hochschule sollte für all diese individuellen Bedürfnisse Angebote bereitstellen. Die Professoren sollten sich Mühe geben, ihr Spezialgebiet so attraktiv zu präsentieren, daß es interessierte und motivierte Studenten anzieht, aber nicht darum kämpfen, ihr Spezialgebiet in den obligatorischen Studien- und Prüfungsordnungen zu verankern.

Bestandteil der obligatorischen Prüfungsordnung sollte nur ein Grundwissen sein, das während des gesamten Berufslebens aktuell bleibt. Dieses Grundwissen aber sollte in möglichst großer Breite vermittelt werden, denn die Erfahrung zeigt, daß sich fruchtbare Anwendungsfelder sehr oft auf der Schnittlinie traditoneller Disziplinen bilden.

Das Erlernen des Umgangs mit der modernen Datenverarbeitung muß heute in allen Disziplinen Bestandteil der Grundausbildung sein. Um Platz für den hier zu vermittelnden Stoff zu schaffen, wird man Teile der traditionellen Ausbildung zurückdrängen müssen. So wird beispielsweise die Konstruktion am Zeichenbrett in den Hintergrund treten müssen, weil heute überwiegend am Computer und am Bildschirm konstruiert wird.

Derzeit wird die Effizienz des Hochschulstudiums durch den Massenandrang noch immer stark beeinträchtigt. Verbesserungen scheitern oft an der Überlastung der Hochschullehrer und auch daran, daß finanzielle Mittel in erster Linie der Bewältigung der Quantität dienen müssen und nicht für die Hebung der Qualität eingesetzt werden können. Zulassungsbeschränkungen erschweren eine Studienwahl, die den jeweiligen Fähigkeiten und Neigungen entspricht; sie behindern auch die Mobilität und verwehren dein Studenten die so wichtige Erweiterung seines Erfahrungshorizonts. Die Überlast dürfte aber heute ihren Höhepunkt erreicht haben und sollte bis zur Mitte der 90er Jahre abgebaut sein. Die nächsten Jahre bieten darum gute Chancen, das Hochschulstudium wieder effektiver zu gestalten.

Auszug aus einem Vortrag bei der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger unternehmen in München vom 14. Juli 1987.