Veraltetes Equipment, aber fähige Mitarbeiter

Sowjetunion: Die große Aufholjagd hat begonnen

16.03.1990

Man hört zwar immer wieder, die Sowjetunion sei eine Supermacht - aber ist das wirklich so? Die Behauptung mag für die militärische Schlagkraft oder die Raumfahrt vielleicht - zutreffen; für zivile Gebiete hingegen ist sie nicht haltbar. Schlüsseltechnologien wie die elektronische Datenverarbeitung sind total unterentwickelt: Sowjetische Computer befinden sich auf einem Stand der Technik, der im Westen schon vor mehr als 15 Jahren erreicht wurde. Besser sieht es auf dem Gebiet der Software-Entwicklung aus. Kein Wunder: Dazu braucht es vor allem gescheite Köpfe, und die sind in der Sowjetunion reichlich vorhanden.

"Eigentlich sollte ich Ihnen das gar nicht zeigen", entschuldigt sich Alexander Papin auf der Treppe, die zum Computerraum im Keller führt: "Ein amerikanischer Kollege meinte kürzlich, was wir da hätten, gehöre samt und sonders ins Technologiemuseum."

Papin, Vizedirektor des sibirischen Instituts für Energietechnik in Irkutsk, weiß das auch aus eigener Anschauung - er war schon mehrmals im Ausland. Dann stehen wir vor dem Hauptrechner des Instituts, einem elektronischen Ungetüm aus den frühen siebziger Jahren, das einen ganzen Saal füllt. Tausend Lämpchen flackern von der Bedienungskonsole des tonnenschweren Möbels. Mit Dutzenden von Schaltern kann man auf die elektronischen Innereien Einfluß nehmen. Das sieht zwar alles sehr imposant und eindrücklich aus, aber sehr effizient ist es nicht. "Der Computer ist langsam und leider auch ziemlich unzuverlässig", erklärt Papin, "aber wir sind nach wie vor auf ihn angewiesen."

Immerhin haben die Irkutsker Techniker vor ein paar Monaten den Kernspeicher erneuert, der mehrere mannshohe Schränke eingenommen hatte. Die alten, sprichwörtlich handgestrickten Ferritspeicher mit je 4096 Bit Kapazität wurden ersetzt durch 64-Kbit-Speicher-Chips - etwas Besseres war nicht verfügbar.

Steinzeit und Neuzeit bestehen nebeneinander

Szenenwechsel im gleichen Institut: Zwei Stockwerke höher arbeiten Studenten und Assistenten auf modernen Personal Computern. Die Geräte sind samt und sonders aus dem Westen importiert - einheimisch ist nur die Anwendungssoftware.

Da kommt der Besucher allerdings ins Staunen: Über die Farbbildschirme flimmern lange Zahlenreihen und komplexe Grafiken. Aufwendige Computersimulationen helfen den Forschern, energietechnische Nüsse zu knacken.

"Auf diese Programme sind wir stolz", erklärt Papin und präzisiert: "Wir haben die mathematisch-physikalischen Probleme in unseren Energiemodellen wesentlich eleganter gelöst als unsere Kollegen im Westen." Das kommt nicht von ungefähr: Die leistungsfähigen Personal Computer stehen den Forschern erst seit kurzem zur Verfügung.

Vorher mußten sie mit der alten Maschine im Keller auskommen, die weniger kann als ein moderner PC. Die knappen Computerressourcen hatten die sowjetischen Spezialisten aber zu mehr Denkarbeit gezwungen, was sich in besserem Verständnis und raffinierter Software niederschlug.

"Die Kunst, mit wenig technischen Mitteln viel zu erreichen, müßte doch auch unsere Kollegen im Westen interessieren", sinniert Papin und hofft, daß seine Leute das entsprechende Know-how schon bald auf dem internationalen Markt anbieten können.

Dank Perestroika ist dies zumindest theoretisch auch möglich - aber in der Praxis ist es sehr kompliziert: Erst müssen Kontakte mit potentiellen Interessenten geknüpft werden. Auf dem Korrespondenzweg geht das schlecht. Reisen in den Westen aber sind für sowjetische Wissenschaftler noch immer eine Seltenheit.

Wenn dann endlich ein Käufer gefunden ist, müssen zahlreiche bürokratische Hürden über wunden werden. All dies ist noch ungewohnt und dauert entsprechend lange. Aber die Motivation dazu ist zumindest auf sowjetischer Seite da, denn der Handel mit dem Westen bringt dringend benötigte Devisen ein.

Auf den ersten Blick mögen solche Geschäfte etwas einseitig aussehen, weil die Sowjets mehr darauf angewiesen sind als ihre westlichen Handelspartner. Tatsächlich aber ist der Einkauf von sowjetischer Software -im weitesten Sinn - für den Westen hochinteressant. "Unter der Oberfläche der traditionellen Ostblock-Märkte liegt eine wahre Goldmine", stand kürzlich im amerikanischen Wirtschaftsmagazin "Fortune". Die kalifornische Beratungsfirma Integrated Strategies hat die Goldmine näher untersucht und ist zu folgendem Ergebnis gekommen: "In der UdSSR allein gibt es 6000 Forschungs- und Entwicklungsinstitute. Da findet man unzählige Patente, für die sich bisher -im Westen niemand interessiert hat. Da gibt es Zigtausende von Akademikern, die erstklassige Arbeit leisten, aber keine Ahnung haben, wie sie ihre Glanzideen kommerzialisieren könnten."

Die Goldmine wirklich angezapft haben laut "Fortune" bis her erst ein paar Dutzend, vor wiegend amerikanische Firmen. Die meisten von ihnen erwarben sowjetische Lizenzen auf dem Gebiet der Metallverarbeitung. Eine gute Nase beim Aufdecken östlicher Technologieperlen hatte die U.S. Surgical Corporation: Sie macht mit einem in der Sowjetunion erfundenen chirurgischen Werkzeug seit einem Jahr ein so gutes Geschäft, daß sich der Aktienkurs in diesem Zeitraum glatt verdoppelt hat.

Seit kurzem ist in den USA auch Software aus der Sowjetunion erhältlich - allerdings nicht von der oben erwähnten Sorte, sondern Videospiele. Sinnigerweise heißt eines davon "Perestroika". Der Spieler muß sich dabei mit feindlichen Bürokraten herumschlagen, die dem früheren Parteichef Leonid Breschnew und seinen Apparatschiks ähneln.

Für Hardware gelten andere Voraussetzungen

Computerszene UdSSR: Relativ moderne Software, total veraltete Hardware - was sind die Gründe für die starke Diskrepanz? Nun, die Produktion von Hardware beruht eben auf ganz anderen Voraussetzungen als die Entwicklung von Software. Ein paar kluge Köpfe und ein einziger Computer genügen, um hochkomplexe Programme zu schreiben. Anders bei der Hardware: Mikroelektronische Schaltkreise zum Beispiel, der "Rohstoff" jedes modernen Computers, kann nicht mit ein paar wenigen Leuten in einem Hintertreppen-Labor zusammenbasteln. Elektronik-Chips werden industriell hergestellt; die entsprechenden Fabriken im Westen sind ihrerseits technologische Spitzenprodukte. Die Produktionsräume, wo die Luft zigtausendmal reiner ist als im Hochgebirge, sind vollgestopft mit Robotern und Prozeßrechnern; fast alles ist automatisiert, Menschen nehmen nur noch Kontrollfunktionen wahr. Natürlich entsteht eine solche gigantische Infrastruktur nicht von einem Tag auf den andern, sondern ist, das Resultat einer langen, kontinuierlichen Entwicklung.

In der Sowjetunion hat man diese Entwicklung jahrelang verschlafen, weil die Prioritäten anders gesetzt wurden. Ein Beispiel: Als die Akademie der Wissenschaften anfangs der achtziger Jahre endlich erkannte, wie wichtig Computer sind, mußte die Informatik-Abteilung von Grund auf neu errichtet werden.

Den sowjetischen Computerfabriken fehlten damit während langer Zeit die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen. Als Staatsunternehmen hatten sie auch keine Konkurrenz, die sie hätte beflügeln können. Das hat nichts mit östlicher Ideologie zu tun, sondern gilt auch für die westliche Hemisphäre: Bekanntlich verdanken wir die meisten technologischen Durchbrüche auf dem Computersektor nicht Quasi-Monopolbetrieben wie IBM, sondern risikofreudigen Kleinunternehmen.

100 Monatslöhne für einen einheimischen PC

Wo steht denn die sowjetische Computerentwicklung heute und wie soll es weitergehen? Eugene Velikhov, " Vizepräsident der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, schildert die Situation ganz nüchtern in einem Interview mit der Zeitschrift PC World USSR": "Wegen der anfälligen elektronischen Komponenten produzieren wir zum größten Teil überholte Geräte. Andererseits sind wir durchaus fähig, High-Tech-Einzelstücke und -Kleinserien zu bauen vor allem auf dem Gebiet der Personal Computer."

Was das im Klartext heißt, beschrieb Christoph Witte im deutschen Computermagazin "Chip" (12/89): Drei Ministerien - Miniradioprom, Minpribor und Elektroprom - befassen sich mit der sowjetischen PC-Produktion.

Minradioprom hat sich für die Entwicklung IBM-kompatibler Rechner entschieden; Elektroprom dagegen produziert auf der Basis von Digital Equipment. Hinzu kommt eine Anzahl einfacherer Geräte, die als Schulcomputer Verwendung finden. Viele andere Entwicklungen kamen allerdings nie über das Stadium von Prototypen oder Kleinserien hinaus."

Die Massenproduktion erreichten bisher nur ein halbes Dutzend Maschinen: "Elektronika 85', ein Rechner, der trotz Minimalausstattung nur an staatliche Unternehmen verkauft wird (für 25 000 Rubel- das sind etwa 100 Monatslöhne), "Korvet" und "BK-010" (600 Rubel), zwei Heimcomputer der vorletzten Generation, sowie die halbwegs IBM-kompatiblen Personal Computer "lskra 1130", "ES 1840" und "ES 1841" (8000-12 000 Rubel).

Von den beiden letztgenannten PCs werden nach Expertenschätzungen jährlich rund

10 000 Stück produziert. Die Rechner sind Insidern zufolge so unzuverlässig, daß es sich lohnt, gleich zwei zu kaufen, damit wenigstens stets einer betriebsbereit ist. Trotz miserabler Qualität sind die Maschinen aus staatlicher Produktion sehr gefragt. Der Grund: Sie sind gegen Rubel erhältlich und wenigstens halbwegs erschwinglich, während die ausländischen Fabrikate nur mit Devisen oder auf dem Schwarzmarkt erworben werden können. Ein normaler westlicher PC samt Drucker kostet dort mehrere hundert Monatslöhne.

Östliche Software gegen westliche Chips?

Devisenmangel ist aber nicht die einzige Hürde für die Verbreitung westlicher Computertechnik in der UdSSR. Der Import wird zusätzlich eingeschränkt durch das Technologie-Embargo, das die Nato-Mitglieder 1980 über die Ostblock-staaten verhängt haben.

Beobachter sehen die Wirkung des Embargos auf die Entwicklung der sowjetischen Computertechnik nicht nur negativ. Eugene Velikhov zum Beispiel glaubt, daß die westliche Technologie-Sperre zwar gewisse Entwicklungen behindert, andere aber beschleunigt habe. Stepan Pachikow, ebenfalls ein guter Kenner der sowjetischen Computerszene, gewinnt dem Embargo sogar vorwiegend positive Seiten ab. "Die schlimmsten Zeiten für sowjetische Wissenschaftler und Computerfachleute", erklärt Pachikow in der Zeitschrift "Chip", "war die Nixon-Ära, als alles im Westen zu kaufen war. Da waren einheimische Spezialisten plötzlich nicht mehr gefragt. Seit das Embargo besteht, behandelt man sie wieder respektvoller."

Im Zuge der Entspannung hoffen die sowjetischen Computerspezialisten nun aber doch auf eine baldige Lockerung des Embargos. "Wir hätten gerne einen freien Tauschhandel", erklärt Eugene Velikhov. "Als Gegenleistung für westliche Hardware könnten wir Software oder mathematische Modelle liefern."

Die Normalisierung der Beziehungen könnte schließlich sogar zu einer Kooperation führen. Sowjetische Computerfachleute sähen am liebsten eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Submikron-Technologie, die für die Entwicklung modernster Chips entscheidend ist. Ob die westlichen Technologiestrategen und Politiker dies zulassen, ist allerdings fraglich. Bis es soweit wäre, wird jedenfalls noch viel Wasser die Wolga hinunterfließen.

Seit der Öffnung der Berliner Mauer hat sich bestimmt mancher Computerhersteller Gedanken gemacht, ob er nicht die brachliegenden Märkte im Osten näher in Betracht ziehen sollte - der dortige Bedarf ist jedenfalls riesig, Die Nachrichtenagentur Novosti beziffert allein den sowjetischen PC-Bedarf in den nächsten zehn Jahren auf 30 Millionen Stück. Kein Wunder: Im 250-Millionen-Staat gibt es zur Zeit nach Schätzungen erst etwa 100000 bis 300000 Personal Computer. Interessant für ausländische Lieferanten ist vor allem, daß die UdSSR nur einen Bruchteil der 30 Millionen PCs im eigenen Land herstellen kann.

Nun sind aber leider die Schwierigkeiten, mit Ostblock-Ländern ins Computergeschäft zu kommen, mindestens ebenso groß wie das Marktpotential. Das Mußte auch Siemens, bestimmt kein Grünschnabel auf dem Parkett der Ostmärkte, erfahren.

Das deutsche Großunternehmen konnte zwar Mitte 1989 mit dem Schulministerium der UdSSR einen Vertrag über die Lieferung von 300000 Personal Computern im Wert von 1,5 Milliarden Mark unterzeichnen. Aber bis zur Stunde hat noch kein einziger dieser PCs das Siemens-Werk in Augsburg verlassen. Dabei hätten die Lieferungen noch im letzten Jahr beginnen sollen, zunächst in kleinen Intervallen, später mit einer Stückzahl von 10 000 pro Monat.

Devisenmangel und Bürokratie

Die Schwierigkeiten bei solchen Geschäften, sind stets die gleichen: Devisenmangel beim Käufer und überbordende Bürokratie auf beiden Seiten. In der Bundesrepublik zum Beispiel muß laut "Spiegel" ein Exportantrag in vierfacher deutscher und 23facher englischer Ausfertigung eingereicht werden; bis der entsprechende Entscheid getroffen ist, vergehen in der Regel Monate.

Weil Ostwährungen nicht konvertierbar sind, liefern westliche Hersteller nur gegen Devisen oder Rohstoffe, die sie selbst, weiterverkaufen können. Manchmal sind sie auch zu Gegengeschäften bereit. Im Falle von Siemens wurde eine britische Firma eingeschaltet, die chemische Produkte der UdSSR auf dem Weltmarkt verkauft. Weshalb die Sache nicht läuft wie geplant, ist schleierhaft. .

An den restriktiven Regelungen des "Coordination Committee for East-West Trade Policy" (COCOM) jedenfalls kann es nicht liegen, denn die versprochenen Rechner arbeiten mit älteren Technologien, die zum Export in Ostblock-Länder zugelassen sind. (Siehe auch Interview auf Seite 115.)