Industrie 4.0

Softwarehersteller entdecken die Industrie

11.04.2013
Von 
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Mit der zunehmenden Digitalisierung der Industrie hoffen die Softwarehersteller auf lukrative Geschäfte. Anbieter wie SAS, SAP und die Software AG bauen bereits an Lösungen für die Industrie 4.0.

Über 80 Prozent der IT-Unternehmen sehen in Industrie 4.0 in den kommenden Jahren ein wichtiges Geschäftsfeld, hat eine aktuelle Umfrage des Branchenverbands Bitkom ergeben. Dabei messe fast jeder dritte IT-Anbieter diesem Thema bereits heute große Bedeutung zu. Aktuell biete bereits jedes zehnte Unternehmen spezielle IT-Lösungen für die Industrie 4.0 an, weitere 13 Prozent entwickelten derzeit entsprechende Angebote, so die Einschätzung der Bitkom-Verantwortlichen.

Foto: LE image, Fotolia.com

Zu den Anbietern, die Industrie 4.0 künftig stärker ins Visier nehmen möchten, gehört der Analytics-Spezialist SAS. Anfang Mai will der Softwarehersteller ein spezielles Center of Excellence für den Industriesektor an den Start bringen. Die neue Einheit, die auch international agieren soll, wird nach SAS-Angaben von Heidelberg aus operieren. Ausschlaggebend für die Wahl des Standorts sei Deutschlands Stellung als eine der führenden und innovativsten Industrienationen gewesen, hieß es. "Wir steuern unseren neuen Geschäftsbereich von dort, wo der Markt am größten und das meiste Know-how vorhanden ist", sagte Wolf Lichtenstein, Member of the Board SAS EMEA/AP. In diesem dynamischen Umfeld will der Softwareanbieter eigenen Angaben zufolge schneller wachsen als der Markt, der um acht Prozent zulegen soll.

Die Ziele, die SAS damit verfolgt, sind allerdings noch etwas vage. "Trendthemen wie Industrie 4.0 und die damit einhergehende Notwendigkeit für Unternehmen ihre Maschinendaten auszuwerten, sind Treiber für die Gründung des Geschäftsbereichs", heißt es in einer Mitteilung des Softwareherstellers. Ziel sei es, "seinen internationalen Kunden eine faktenbasierte zukunftsorientierte Analyse von Big Data im Industrie-4.0-Umfeld anzubieten". In dem Geschäftsbereich sind laut SAS bereits mehrere Hundert Branchenexperten auf den Industriesektor ausgerichtet.

"Der Industriemarkt bewegt sich rapide in unsere Richtung", erläutert Gerhard Altmann, international verantwortlich für den Bereich Manufacturing bei SAS und Leiter der neuen Einheit. Integrated Industry erfordere die Analyse von Daten aus Maschinen, Anlagen und Werkstoffen. Ziel sei es Altmanns Worten zufolge, die Services hinsichtlich Ausfallzeiten, Wartung und Garantie zu verbessern, aber auch Kosten zu sparen, indem Prozesse neu gedacht würden und der Dialog zwischen digitaler Fabrik und Unternehmensteuerung geschärft werde.

Hoffnung auf bessere Produktionsprozesse

Dass man mit dieser Strategie auf die richtige Karte setze, versuchen die SAS-Verantwortlichen mit einer Studie zu belegen. In der ersten Märzhälfte hat das Forsa-Institut im Auftrag von SAS rund 200 Unternehmen befragt. Demnach rechnen acht von zehn Firmen damit, dass die Analyse von Maschinendaten in den kommenden zwei Jahren wichtiger werden wird. Bereits heute nutzten eigenen Aussagen zufolge drei Viertel der Unternehmen die Möglichkeit, Maschinen-, Sensor- beziehungsweise Servicedaten auszuwerten.

Dabei gibt es aus Sicht von SAS jedoch Luft nach oben. Kein Unternehmen werte alle anfallenden Daten aus. Etwa vier von zehn Unternehmen analysierten immerhin mehr als 60 Prozent der Daten. Bei fast einem Drittel liege die Auswertequote jedoch unter 30 Prozent. Als wichtigste Gründe für die Analyse von Maschinendaten nannten die Befragten die Möglichkeit, schnell auf mangelnde Produktqualität oder Fehler im Produktionsprozess reagieren zu können (86 Prozent), Produktionsfehler ganz zu vermeiden (82 Prozent) sowie die Kundenzufriedenheit zu sichern und zu verbessern (79 Prozent).

Bitkom spricht von"epochaler Herausforderung"

Beim Bitkom geht man davon aus, dass sich mit Industrie 4.0 einiges verändern könnte. "Der industrielle Sektor steht vor einem massiven Umbruch", sagt Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder. Die kommende industrielle Revolution werde durch Vernetzung und das Internet angetrieben. Beim Wandel hin zur Industrie 4.0 könne die IT wesentliche Beiträge leisten. Rohleder verweist auf Infrastrukturen, Prozess-Knowhow und eingebettete Systeme.

"Der Standort Deutschland hat seine Stärken an den Technologieschnittstellen", stellt der Branchenvertreter fest. Wenn Maschinenbau, Elektrotechnik und Automobilbau mit der IT-Industrie zusammenkämen, entstünden riesige Chancen. Von der Bewältigung der vierten industriellen Revolution hänge zudem die Zukunft der deutschen Industrie ab. Rohleder spricht von einer "epochalen Herausforderung", die man branchenübergreifend angehen müsse.

"Regal an Gabelstapler - bitte kommen"

Dabei mitmischen möchten auch andere Softwareanbieter wie beispielsweise SAP. Der Softwarekonzern präsentierte zur Hannover Messe, die in der zweiten April-Woche stattfand, neue Lösungen für die Bereiche Produktentwicklung, Fertigung und nachhaltige Geschäftsabläufe. "Die Fertigungsindustrie steht heute vor einem technologischen Meilenstein", verlautete dazu aus Walldorf. Maschinen, Produktionsanlagen und Lagersysteme seien künftig in der Lage, selbständig Informationen auszutauschen, Aktionen anzustoßen und einander zu steuern.

Dies könne zu enormen Prozessverbesserungen in den Bereichen Entwicklung und Konstruktion, Fertigung und Service führen, stellt der Softwarehersteller den Industrieunternehmen in Aussicht. "Diese vierte industrielle Revolution, auch Industrie 4.0 genannt, steht für die Verknüpfung von industrieller Fertigung und Informationstechnologie - und damit für eine neue Stufe an Effizienz und Effektivität."

SAP nennt sein Industrie-4.0-Konzept "Idea to Performance". Dabei handle es sich um ein ganzheitliches betriebswirtschaftliches Konzept, das die Leistungsfähigkeit in der Produktion und bei Serviceprozessen erhöhen soll. Unterstützt werde damit die Steuerung des gesamten Produktlebenszyklus vom Design bis zur Instandhaltung über verschiedene Szenarios. Beispielsweise biete "Responsive Manufacturing" den Anwendern durchgängige Prozesse, um Abläufe von der Planung bis zur Produktion zu integrieren. Eingebettete Qualitäts- und Compliance-Kontrollen ermöglichten es, bei Nichteinhaltung von Gesetzen entsprechende Korrektur- und Präventionsmaßnahmen einzuleiten, und gleichzeitig die Anlagenauslastung zu optimieren und die Liefertermintreue zu unterstützen.

Im Rahmen von Responsive Manufacturing wollen die SAP-Verantwortlichen auch aktuelle Entwicklungen wie ihre In-Memory-Appliance "HANA" mit integrieren. So sei beispielsweise geplant, dass die Anwendung "SAP Overall Equipment Effectiveness Management" (SAP OEE Management) Maschinendaten mittels Maschine-zu-Maschine-Kommunikation (M2M) erfasst und in Analysedaten übersetzt. Die Materialbedarfsplanungsfunktion in SAP ERP soll mit Hilfe von HANA doppelt so schnelle Planungsläufe ermöglichen.

Industrie muss Big Data bändigen

Die Software AG bringt für Industrie 4.0 ihre Software-Plattform "Terracotta In-Genius" ins Spiel. Die Lösung soll Industrieunternehmen handlungsrelevante Informationen aus jeder beliebigen "Big-Data"-Quelle in Echtzeit bereitstellen und an jedes beliebige Endgerät ausliefern können. Die Plattform erlaube es, massive Datenströme in Echtzeit zu verarbeiten und zu analysieren, verspricht der Hersteller. Aus den einströmenden Datenmassen würden die relevanten Informationen unmittelbar herausgefiltert.

Gerade die wachsenden Datenfluten im Zuge von "Big Data" seien aus Sicht der Darmstädter eine der größten Herausforderungen für die "Integrated Industry" beziehungsweise Industrie 4.0. "Deutschland vereint die globale Führung als Industriestandort mit der globalen Führung bei Unternehmenssoftware", sagte Karl-Heinz Streibich, Vorstandsvorsitzender der Software AG und Mitglied des Bitkom-Präsidiums. "Dadurch sind wir prädestiniert, auf Basis des Internet der Dinge der führende Standort für Industrie 4.0 zu werden".

Industrie 4.0 lässt sich Zeit

Während sich die Softwarehersteller mit Blick auf die künftigen Geschäfte schon die Hände reiben, warnen einige Experten indes vor verfrühter Euphorie. So kommt eine Studie des Verbands der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE) zu dem Ergebnis, dass Industrie 4.0 zwar kommen wird, "allerdings nicht vor 2025". Das meinen zumindest acht von zehn Unternehmen und Hochschulen, hat eine Umfrage des Verbands unter 1300 Mitgliedern ergeben. Die größten Bremsklötze seien demnach IT-Sicherheitsprobleme, fehlende Normen und Standards sowie der hohe Qualifizierungsbedarf. Gerade die Hochschulen seien nicht auf Industrie 4.0 vorbereitet.

Trotz der Skepsis, was die Umsetzungsgeschwindigkeit betrifft, halten die meisten das Thema für wichtig. Industrie 4.0 eröffne einen wichtigen Pfad zu Re-Industrialisierung Europas, glauben 40 Prozent der Befragten. Drei Viertel rechnen in diesem Zusammenhang mit einer Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Ob sich die neuen Produktionsprozesse auch positiv auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen, darüber ist man in den VDE-Reihen indes geteilter Meinung.

Nicht die Menschen außer Acht lassen

Foto: christian42, Fotolia.com

Gewerkschafter warnen bereits vor möglichen Schattenseiten der digitalen Revolution in der Industrie. Man dürfe sich nicht zu sehr auf die Technik fokussieren und dabei die Arbeitsorganisation sowie den Menschen aus dem Blick verlieren, mahnte IG-Metall-Vize Detlef Wetzel. "Ein intelligenter, wertschätzender Umgang mit menschlicher Arbeitskraft ist der entscheidende Erfolgsfaktor für eine erfolgreiche Umsetzung."

Industrie 4.0 bedeute nicht die Entscheidung zwischen technischen oder sozialen Veränderungen. Wichtig sei das Zusammenspiel von beidem. Beschäftigte dürfen nicht zum Cyber-Rädchen in der Produktion werden. Eine intelligente Fabrik brauche Menschen, die mitdenken und mitgestalten. Von der Politik fordert Wetzel, dass sie die Forschungsförderung so umstellt, "dass neben den technischen auch die sozialen, ethischen und gesellschaftlichen Aspekte dieser Neuorientierung umfassend einbezogen werden". (mhr)