Software-Experten warnen vor unkritischem Neo-Taylorismus

03.11.1978

Nach wie vor werden fremderstellte Standard-Softwareprodukte bei den DV-Anwendern in der Bundesrepublik Deutschland nur selten eingesetzt. Immer noch wird in der großen Mehrzahl der Fälle "selbst gestrickt".

Die Gründe hierfür sind:

- Angst vor Organisationsänderungen,

- mangelnde Adaptabilität an ein konkretes Einsatzumfeld,

- zu große Diskrepanz zwischen Anwenderwünschen und Softwarefunktionen

- mangelnder Überblick des Anwenders über die Vielzahl von Softwarepaketen,

- geringe Portabilität der Software.

Nun kann andererseits festgestellt werden, daß sinkenden Hardwarepreisen ständig steigende Softwarekosten gegenüberstehen. Das liegt im wesentlichen daran, daß sich an den Produktionsmethoden für Software in den letzten 20 Jahren kaum etwas geändert hat, (..)rend sich bei der Hardware revolutionäre technische Entwicklungen abgespielt haben, die enorme Produktionskostenreduzierungen verursachten.

Angesichts dieser Situation wird - besonders für die zahlreichen Klein- und Mittelbetriebe in der Bundesrepublik Deutschland, die als potentielle DV-Anwender angesehen werden - kaum eine Eigenfertigung von Software in Frage kommen. Vielmehr wird der überwiegende Teil dieser Nutzergruppen Standard-Softwareprodukte auswählen, um damit ein den betrieblichen Anforderungen entsprechendes Informationsverarbeitungssystem aufzubauen. Für diese Gruppen haben daher Software-Auswahlverfahren eine erhebliche Bedeutung.

Solche benutzer-individuellen Software-Auswahlverfahren erlangen außerdem angesichts der zu erwartenden Entwicklungen auf dem Softwaremarkt immer größere Bedeutung. Zwar gibt es inzwischen fast ebenso zahlreiche Methoden zur Software-Auswahl wie für die Hardware-Auswahl. Die meisten dieser Verfahren sind jedoch sehr wenig benutzerorientiert. Sie werden unter anderem deswegen nur selten angewandt. Wo sie dennoch verwendet wurden, sind die Benutzer mit den Ergebnissen der Auswahl häufig nicht zufrieden. Das liegt natürlich zum Teil an der Software selbst, zum anderen aber auch an den Auswahlmethoden, die sehr oft nur die "hard facts" nicht jedoch die "soft facts" - vor allem die Benutzer-Aspekte ausreichend berücksichtigen.

Gerade in jüngster Zeit warnen anerkannte Experten unseres Fachgebietes davor, in einen unkritischen Neo-Taylorismus bei der Systementwicklung zu verfallen. Wir müssen erkennen, daß auch durch ausgefeilte ingenieurwissenschaftliche Methoden nicht alle Probleme bei der Planung und Implementierung von Informationssystemen beseitigt werden. Insbesondere kann damit noch nicht sichergestellt werden, daß der Endbenutzer eines Informationssystems sich mit den vorgelegten Entwürfen identifizieren kann. Bei allen neuzuentwickelnden software-technologischen Methoden muß daher eine angemessene Benutzerorientierung erreicht werden, das heißt es sind solche Verfahren zu bevorzugen, welche Erfahrungen und Kreativität der Benutzer berücksichtigen können. Insofern ist die Entwicklung benutzerindividueller Software-Auswahlverfahren eine aktuelle Forderung.

Angesichts der optimistischen Erwartungen hinsichtlich des Einsatzes von Standard-Software mutet die heutige Situation noch so an, als hätten wir die "Not-Invented-Here"-Phase bei der Softwareproduktion noch lange nicht überwunden. Die sich in der Mentalität ausdrückende geringe Benutzerakzeptanz wird noch verstärkt durch relativ hohe Kosten bei geringer Überschaubarkeit des Nutzens von Softwareprodukten. Viele potentielle Nutzer von Standard-Software sind sich überdies im unklaren darüber, welche der vorhandenen Auswahlmethoden eingesetzt werden sollten, um diejenigen Softwareprodukte auszuwählen, die den definierten Anforderungen am ehesten gerecht werden.

Um unsere Überlegungen an konkreten Beispielen überprüfen zu können, erscheint es zweckmäßig sich bei der Erörterung der anwendbaren Auswahlverfahren auf einen bestimmten Software-Typ zu konzentrieren. Wenn man von der grundlegenden Klassifikation von Standard-Softwarepaketen in kommerzielle und datenverwaltungs-intensive, technisch-wissenschaftliche sowie System- und Dienstprogramme ausgeht, so dürfte es angesichts der Mengenrelationen zulässig sein, unsere Betrachtungen auf die Auswahl kommerzieller Anwendungsprogramme zu beschränken.

Bei den nachfolgenden Überlegungen geht es nicht mehr um die Frage "Make or buy". Es wird vielmehr davon ausgegangen, daß die Entscheidung für den Kauf eines Softwareproduktes bereits getroffen ist. Bei den zur Software-Auswahl eingesetzten Verfahren kann grundsätzlich zwischen eindimensionalen und mehrdimensionalen Verfahren unterschieden werden. Beide Arten können wiederum nach einstufigen und mehrstufigen Varianten differenziert werden.

Eindimensionale Verfahren - etwa betriebswirtschaftliche Investitionsrechnungen - können in der Regel nur unzureichende Lösungen für ein komplexes Auswahlproblem liefern. Sie eignen sich insofern nur als zusätzliche Entscheidungshilfen. Sie werden hier nicht weiter erörtert.

Für die Auswahl von Standard-Software werden in der Regel mehrdimensionale Verfahren angewendet. Die weit überwiegende Mehrzahl solcher Methoden orientiert sich am Grundprinzip der Nutzwertanalyse. Einstufige Verfahren versuchen hierbei in einem einzigen Auswahlschritt das optimale Softwareprodukt zu bestimmen. Mehrstufige Verfahren sind dagegen iterativ aufgebaut, die einzelnen Auswahlschritte werden also unter Veränderung bestimmter Parameter in der Regel mehrmals durchlaufen. Sie bauen darüber hinaus grundsätzlich aufeinander auf.

Da einstufige Modelle, die sich am Grundprinzip der Nutzwertanalyse orientieren, im Grunde dieselben Zielkriterien aufführen wie sie in mehrstufigen Modellen vorkommen, sollen hier nur einige der mehrstufigen mehrdimensionalen Verfahren vorgestellt werden. Die Methoden von Gsell, Schramm, Frank und Winkelmann basieren ausnahmslos auf dem Nutzwertanalyse-Ansatz, unterscheiden sich jedoch in verschiedenen Ausprägungen. Alle Verfahren sehen eine mehrstufige Auswahl und Bewertung vor.

Grundlage für die Auswahl von Software ist ein Ergebnis in der Gestalt einer Rangfolge vorhandener Software-Produkte. Diese Rangfolge basiert auf dem Nutzwert der Software-Alternativen, der sich aus der Addition der Teilnutzen errechnet.

Der Wert eines Software-Produktes ist keine unabhängige Größe, die allein von ihm selbst geprägt würde. Mitbestimmend sind vielmehr, neben den Software-Qualitäten, vor allem das Umfeld des Softwareeinsatzes. Insofern kann es keinen allgemein gültigen Wert eines Softwareproduktes geben. Der ermittelte Wert gilt stets nur für das spezifische oder vergleichbare Einsatz-Umfeld.