"Software ersetzt nicht den Verstand"

08.07.2004
Von Hans-Christian Boos
Einige Hersteller suggerieren, mit Information-Lifecycle-Management (ILM) den kompletten Lebenszyklus von Informationen abbilden zu können, doch ohne selbständiges Denken gelingt dies nicht.

Das Schlagwort Information-Lifecycle-Management ist ein direktes Resultat gesetzlicher Reaktionen auf verschiedene Bilanz- und Wirtschaftsskandale der näheren Vergangenheit. Die neu verabschiedeten Vorschriften sollen bewirken, dass die Urheber von Betrugs- und Täuschungsmanövern durch lückenlose Dokumentation und geeignete Recherchemöglichkeit aller Informationsflüsse leichter dingsfest gemacht werden können. Die kreativen Köpfe in den Marketing-Abteilungen der IT-Branche haben sehr schnell ihre Chance erkannt. Mit der Begriffskreation Information-Lifecycle-Management ist es ihnen gelungen, ein eingängiges Schlagwort für den gesetzlich vorgeschriebenen Lebenszyklus zu prägen, das ihren Kunden die vermeintlich unausweichliche Investition in Erinnerung ruft.

Was aber steht hinter dem Begriff Information-Lifecycle-Management? Denkt man sich das schmückende Beiwerk weg, so bleibt das automatische Durchsuchen sowie die Verschlagwortung von Informationsspeichern, üblicherweise E-Mail- und File-Servern, übrig. So gewonnene Informationen werden auf einer großen Datenhalde archiviert und können, entsprechende Suchmechanismen vorausgesetzt, wieder abgerufen werden. Information-Lifecycle-Management-Systeme sollen dem noch eine Krone aufsetzen: Sie könnten diese riesigen Datenmengen nach ihrem Wert klassifizieren und davon abhängig einen entsprechenden Lagerort oder eine Lagerart innerhalb der Datenhalde bestimmen. Mit diesem Ansatz ist es möglich, große Mengen an Inhalten entsprechend ihrer Nutzung kosteneffizient zu archivieren. Aus ebendieser Überlegung entstehen derzeit auch die Synergien zwischen Speicherverwaltung und Inhaltsverwaltung - oder mit anderen Worten: die Fusion und Konsolidierung zwischen den Herstellern im Storage-Markt und dem Content-Management-Segment.

Aber ist das wirklich etwas Neues? Die Antwort liefert ein Blick in die Vergangenheit. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden sämtliche Arbeitsvorgänge und Informationen in Firmen (fast) ausschließlich auf Papier festgehalten, verwaltet und weiterverarbeitet.

Für die wichtigen Dinge legte der Mitarbeiter eine Ablage, eine Wiedervorlage und eventuell noch andere systematische Archive an. Alles, was er für die tägliche Arbeit brauchte, war so gleich zur Hand. Hatten die Unterlagen den Zenit ihres Nutzens überschritten - sprich: sie waren aus irgendeinem Grund immer noch wichtig, aber nicht mehr für das tägliche Arbeiten relevant - ließ der Angestellte sie vom Aktenboten in den Keller schaffen.

Ablage in elektronischer Form

So betrachtet ist Information-Lifecycle-Management nichts anderes als das gute und bewährte Ablage- und Archivsystem in elektronischer Form. Nicht gerade revolutionär, dafür umso nützlicher, wie viele Geschäftsprozesse bewiesen haben.

Auch wenn sich die grundlegenden Archivierungskonzepte über die Zeit nicht geändert haben, eines hat sich definitiv gewandelt: die Menge der zu verwaltenden Informationen. Ob damit auch das Wissen gewachsen ist, mag einem philosophischen Diskurs vorbehalten bleiben. Seit der Einführung von PCs ist eine zentrale Verwaltung von Informationen nur noch bedingt möglich. Jeder Benutzer kann seine Dokumente auf seinem eigenen Computer ablegen. So entstanden zahlreiche Kopien, die einfach nicht mehr zusammenzuführen waren.

Mehrere Kopien im Umlauf

Und heute ziehen die Anwender eine Dokumentenkopie vom Server, speichern das Ganze auf der lokalen Festplatte und legen, weil dieses Medium so schön groß ist, für jeden Änderungsschritt ein eigenes Exemplar an. Dann wird alles, da Ordnung sein muss und Datenverlust wehtut, zentral gesichert und im Zweifelsfalle sogar wieder zurück in die Server-Netze gespielt. Gleiches gilt für das Versenden von Nachrichten, E-Mails oder Faxen - alles wird vielfach abgelegt.

Die technische Herausforderung, mit diesen unglaublichen Informationsmengen umzugehen, ist von der IT-Industrie schon lange angenommen worden. Etliche Bemühungen gipfelten darin, die Informationsflut durch das "papierlose Büro" zu bändigen. Jegliche Information sollte nur noch digital existieren dürfen, um sie der völligen Kontrolle unterwerfen und für Workflows formen zu können. Solche Wunder versprechenden Konzepte haben Software- und Hardwarehersteller, aber auch IT-Forscher schon vielfach publiziert, verkauft und - in schöner Regelmäßigkeit wieder verworfen oder zumindest auf eng definierte Anwendungsfälle zurückgefahren, weil einfach keiner den allumfassenden papierlosen Ansatz in seiner eigenen Arbeitswelt umsetzen wollte.

Günstiger Speicherplatz

Die Informationsflut nimmt weiter zu, ohne die dafür verantwortlichen Prozesse zu verändern oder die Frage zu beantworten, was mit den ganzen Inhalten erreicht werden soll. Allerdings wird dafür das Arbeiten mit einem großen Datenfriedhof leichter - weil dem Anwender gute Suchverfahren, automatische Klassifizierung und, obendrein, technische Verwaltungsprozesse geboten werden. Die Unternehmen durchbrechen die lineare Wechselbeziehung zwischen Informations- und Kostenwachstum, da sie immer günstigere Speicherstrategien einsetzen können.

Der Vorwurf, dass ILM-Lösungen, wie sie heute beschrieben werden, schon bald einen großen Teil der IT-Budgets auffressen könnten, darf also nicht zuvorderst an die Hersteller gerichtet werden. Vielmehr müssen die Firmen selber begreifen, dass sie zuerst vor der eigenen Tür kehren sollten. Aber, und auch das bleibt festzuhalten, es hat schon etwas Dreistes, wenn die ILM-Hersteller ein derart altes Konzept wie eine Ablage mit unterschiedlichen Orten und Agenten (früher Mitarbeiter, jetzt Programme), die sich darum kümmern, wo was liegen soll, als revolutionäre Idee verkaufen.

Bedauerlicherweise hinkt die Technik den Konzepten hinterher. Selbst wenn einige Hersteller bereits heute spezielle Lösungen anbieten können: Das allumfassende intelligente Speichersystem, das selbst erkennt, was mit welcher Datei und welchem Datenblock zu tun ist, existiert einfach noch nicht. Das Marketing hierfür ist zwar wirklich gut, aber die technischen Lösungen für einige der Herausforderungen befinden sich noch in der Konzeptphase. Für den großen Wurf ist noch umfangreiche Grundlagenforschung und Entwicklung notwendig. Die einfache Ingenieursleistung, wenige Inhalte effektiv und automatisch zu verwalten, wird zu einer Herausforderung für jeden Softwarespezialisten, wenn die Mengen exponentiell steigen.

Verbessern wird sich die Situation erst, wenn Anwender damit beginnen, die Arbeit, die besser im Kopf verrichtet werden sollte, nicht mehr auf die Technik abwälzen. Der Wert der Inhalte ist jedem Manager irgendwie bewusst. Vor diesem Hintergrund könnten die gesetzlichen Anforderungen ein willkommener Anlass sein, Informationen so zu verwalten, dass die Mitarbeiter sie nutzen können. Daraus würden die Unternehmen, die in eine solche Lösung investieren, direkten wirtschaftlichen Nutzen ziehen und ganz nebenbei die Auflagen des Gesetzgebers erfüllen.

Der Weg zu diesem Ziel ist, anstelle des Lebenszyklus den inhaltlichen Wert einer Information in den Vordergrund zu stellen. Erst wenn eine Information hilft, ein Ergebnis zu erreichen oder Kunden zu überzeugen, erlangt sie eine Bedeutung. Andernfalls verursachen Inhalte eher Verluste, denn es hat ja Geld gekostet, Dokumente zu erzeugen, zu transportieren und zu suchen. Auch das Aufnehmen und Interpretieren von wertlosen Daten verursacht reale Kosten. Den Wert von Informationen zu verwalten bedeutet also, dafür zu sorgen, dass nur Inhalte erzeugt und gespeichert werden, die überhaupt gewinnbringend nutzbar sind.

Eigeninitiative gefordert

Die IT-Strategen sind gefordert, den gesunden Menschenverstand im Unternehmen zu fördern, denn so lässt sich viel Geld sparen. Statt passiv darauf zu warten, dass irgendeine Technik ihr Informationschaos automatisch und elegant beseitigt beziehungsweise ordnet, sollten sich Anwender in Eigeninitiative, -verantwortung und Disziplin üben. Dies gilt insbesondere für von Anwendern selbst erzeugte Schriftstücke, jedoch weniger für Dokumente wie Rechnungen, für die der Gesetzgeber eine Aufbewahrungsfrist vorschreibt. So könnte der Anwender beispielsweise für eine "Powerpoint"-Präsentation für eine Kundenpräsentation Metadaten vergeben wie etwa "aktuelles Thema", "nur für ein spezielles Kundenszenario" oder "von allgemeinem Interesse für das Unternehmen". Die ILM-Lösung würde dann regelgesteuert entscheiden, wie lange das Dokument gültig ist, und entsprechend danach verfahren. Das Regelwerk zusammenzustellen obläge einem fachkundigen Manager. (fn)