Socket-Interface als verbessertes Anynet-Feature in VTAM 4.3 APPN: IBM positioniert neues Routing-Verfahren gegen TCP/IP

14.07.1995

STUTTGART (pg) - Big Blue fuegt seinem Mosaik des Advanced Peer-to- peer Networking (APPN) einen weiteren Baustein hinzu. Ab sofort koennen Anwender der Host-Software VTAM mit dem Release 4.3 in SNA- Netzen das Feature High Performance Routing (HPR) implementieren. Das Verfahren steigert in APPN-Networks die Performance und fuehrt im Stoerungsfall automatisch ein Rerouting durch. Kombiniert mit Anynet - IBMs Technologie zur Multiprotokoll-Konvertierung - hoffen die Verantwortlichen in Armonk der SNA-Klientel APPN statt TCP/IP als Peer-to-peer-Protokoll schmackhaft zu machen.

Mit halbjaehriger Verspaetung hat IBM, wie August Kaltenmark, Produkt-Manager Netzwerksysteme, bestaetigte, HPR weltweit fuer den Vertrieb freigegeben. Wesentlicher Vorteil des Routing-Verfahrens ist, dass es im Fall eines Datenverlustes selbstaendig einen Rerouting-Prozess anstoesst, ohne die Session abzubrechen. Bislang hatte APPN in der Version VTAM 4.2 gegenueber dem De-facto-Standard TCP/IP den deutlichen Nachteil, kein dynamisches Rerouting zu realisieren.

HPR ist fester Bestandteil der Host-Kommunikationssoftware VTAM 4.3. Die Spezifikation wird jedoch, wie Kaltenmark versicherte, allen MVS-Kunden, die eine Lizenz fuer VTAM 4.x erworben haben, kostenlos als Upgrade bereitgestellt. Gleiches gilt fuer Anwender, die Anynet bereits als Feature fuer VTAM 4.2 lizenziert haben. Auch sie werden im September, wenn eine verbesserte Version des Produktes fuer VTAM auf den Markt kommt, ohne Aufpreis mit der Software versorgt.

Die wichtigste Innovation von Anynet fuer VTAM 4.3 wird ein neues Socket-Interface sein. Dessen Plus ist, bei einem MVS-Programm, das sowohl ueber TCP/IP als auch SNA kommunizieren kann, bereits in der Log-on-Phase festzustellen, ob eine C-PIC- oder Socket- Applikation gefahren werden soll. Im Klartext heisst das: Vor dem Verbindungsaufbau muss nicht mehr wie bei Anynet in VTAM 4.2 definiert werden, ob die Schnittstelle TCP oder SNA zu sein hat.

IBM erwartet Migration der SNA-Anwender auf APPN

Die Strategie, die Big Blue mit dem Mix von HPR und Anynet in VTAM 4.3 sowie auf Front-end-Prozessoren im Enterprise Network verfolgt, ist offensichtlich: IBM hofft dadurch, SNA-Netzstrategen zu animieren, im WAN-Bereich kuenftig APPN-Backbones mit HPR als primaeren Transportmechanismus zu installieren. Anynet faellt in diesem Konzept die Aufgabe zu, den reibungslosen Ablauf der Applikationen unabhaengig von darunterliegenden Protokollen zu gewaehrleisten.

Im Lager der IBM Deutschland herrscht Optimismus: "Wir rechnen in den naechsten zwei Jahren mit einer Migration von 80 Prozent der SNA-Kunden zu APPN und HPR", skizziert Lothar Mackert, Direktor Netze der IBM Deutschland Informationssysteme GmbH, die Erwartungen in Stuttgart. Skeptisch ist hingegen Petra Borowka, unabhaengige Beraterin fuer Netzwerke in Aachen. Die Networking- Expertin geht davon aus, dass in den kommenden zwei Jahren bestenfalls 50 Prozent der SNA-Kunden auf APPN migrieren.

Will die IBM das gesteckte Ziel erreichen, muss sich die Company kraeftig nach der Decke strecken. Bisher nutzen naemlich nur rund sieben Prozent der SNA-Anwender APPN. Die Ursache fuer diese Zurueckhaltung liegt auf der Hand: APPN war urspruenglich nicht fuer die noch laufenden 3270-Anwendungen gedacht, sondern wurde von IBM generiert, um die High-level-Protokolle APPC sowie LU 6.2 zu bedienen.

Dieser Problematik ist sich auch das IBM-Management bewusst. "Der Grund fuer die noch geringe Verbreitung von APPN resultiert darin, dass nach wie vor ueber 90 Prozent der SNA-Netze mit Dependent LUs bestueckt sind", raeumt Mackert das Manko von APPN ein, haelt aber auch die Loesung aus Sicht der IBM bereit. Jetzt, so der Manager, sei es an der Zeit, die Anpassungssoftware Dependent LU Requester so schnell wie moeglich in SNA-Netze zu integrieren, damit die komplette alte Welt nahtlos auf APPN migrieren koenne.

Sollen die Anwender, wie von Big Blue geplant, auf APPN umsatteln, ist Eile geboten.

Eine Migration muss, das ist die Voraussetzung des APPN-Konzeptes, im gesamten Netz und nicht nur auf dem MVS-Rechner erfolgen.

Gegenwaertig sind APPN und HPR aber nur auf der Host-Seite verfuegbar. Die IBM-Entwickler arbeiten deshalb mit Hochdruck daran, APPN auch auf dem PC, den Zwischenknoten sowie den Leitungen in SNA zu realisieren.

Wie aus dem Headquarter in Armonk verlautete, soll HPR bis Ende 1995 auf allen Geraeten vom 3174-Controller bis hin zu den Routern 2210 sowie 6611 implementiert werden. Mackert stellte HPR ausserdem fuer den Communications Manager 2.0 in Aussicht. Darueber hinaus wird IBM Anynet in den bereits angekuendigten Multiprotokoll-Router 2217 integrieren und die Technologie sukzessive auf weiteren Plattformen anbieten.

Nach Ansicht von Borowka kommt die Initiative aus Armonk jedoch viel zu spaet. "APPN haette eine Chance gehabt, waere es vor drei Jahren auf den Markt gebracht worden, als bereits die ersten Spezifikationen vorlagen", meint die Consultin und sieht in APPN heute nur noch die Auslieferung einer laengst ueberfaelligen Funktionalitaet, um den Bestand von SNA zu sichern.

Kritik uebt die IBM-Spezialistin auch an Anynet: "Was SNA- Anwendungen betrifft, ist Anynet bisher nicht mehr als eine verschaemte Einfuehrung von TCP-Sockets. Diese haben andere Hersteller laengst entwickelt, um darauf ihre Anwendungen aufzusetzen", erlaeutert Borowka IBMs Anynet-Politik. Big Blue sollte ihrer Meinung nach den Tatsachen ins Auge blicken und in der 3174 nicht Anynet, sondern eher eine Standard-Gateway- Funktionalitaet implementieren, die Netbios, IP und IPX nach SNA umsetzt.

Die IBM beschreitet statt dessen den gegensaetzlichen Weg, Multiprotokoll-Betrieb auf SNA-Backbones zu realisieren. Dieser Ansatz ist fuer SNA-Anwendungen optimiert, weil er die SNA- Prioritaetensteuerung im Backbone voll nutzt. Auf andere LAN- Anwendungen ist die Priorotaetensteuerung jedoch nicht 1:1 uebertragbar, weil zum einen die entsprechenden Protokollparameter fehlen, zum anderen das Lastverhalten von SNA voellig divergiert. Borowka haelt Anynet deshalb lediglich fuer einen Marketing-Faktor, um die "SNA-WAN-Backbones zu konservieren".

HPR und Anynet, so ihre Bewertung, koennen nur in Konfigurationen mit sehr hohem Anteil an SNA-Verkehr eine Rolle spielen, jedoch keine Alternative zu Multiprotokoll-Netzen sein. Mit anderen Worten: Zur Zeit ist APPN im Multiprotokoll-Betrieb lediglich ein routbares SNA-Protokoll mehr. Indiz dafuer ist das Verhalten der Anbieter von Applikationen im heterogenen Systemmarkt, die ihre Anwendungen nicht auf APPN, sondern TCP/IP schreiben. Selbst das Client-Server-System der IBM, der LAN Server, setzt native nicht auf APPN, sondern Netbios und TCP/IP auf.

Drittanbieter zeigen APPN bisher die kalte Schulter

Stichwort TCP/IP: In Unternehmen, die heterogene Netze fahren, ist derzeit eindeutig ein Run auf den offenen De-facto-Standard zu beobachten. Damit werden die Erfolgsaussichten von APPN als Corporate Backbone deutlich geschmaelert. Gegen APPN spricht in erster Linie dessen Komplexitaet in der Konfiguration, das teure Equipment sowie die fehlende Unterstuetzung der Router-Hersteller. Hinzu kommt, dass Anynet bei Server-Produzenten und dem Netz- Betriebssystem-Giganten Novell noch keine Akzeptanz gefunden hat.

TCP/IP hingegen wird im Markt von allen Anbieter unterstuetzt und liefert den Anwendern damit ein breites sowie effektives Spektrum zur Realiserung heterogener Netze. "HPR ist fuer uns ueberhaupt kein Thema", erteilt Lothar Hirschbiegel, DV-Leiter der AMP Deutschland GmbH, dem Routing-Verfahren und damit auch APPN eine Abfuhr. Der weltweit groesste Anbieter von Steckverbindern hat trotz starker SNA-Praegung der DV-Landschaft bereits vor zwei Jahren begonnen, die Weichen in Richtung TCP/IP zu stellen.

AMP ist sicher kein Einzelfall. Zu einem Zeitpunkt, wo HPR nur auf Hosts und Front-end-Prozessoren verfuegbar ist, tendieren Netz- Designer eher dazu, dieses kostspielige Equipment auszumustern und durch Multiprotokoll-Router und SDLC-Konverter zu ersetzen.

"Der Anwender will in die offene Welt", erklaert Borowka den Boom von TCP/IP. Eigentlich, so die Expertin, sollte nicht IBMs Produktlinie Anynet heissen, sondern TCP diese Bezeichnung tragen, weil der De-facto-Standard im Gegensatz zu Anynet heute eine Any- to-any-Connectivity biete. APPN habe nach wie vor einen proprietaeren Touch.