Physische Umgebung als grafische Benutzeroberfläche

So verändert Augmented Reality viele Unternehmensbereiche

16.07.2018
Von Detlev Flach
Augmented Reality (AR) hat das Potenzial, in den kommenden Jahren und Jahrzehnten sowohl unsere private Umwelt als auch die Arbeitswelt von Grund auf zu verändern. Der Grund: Sie schlägt eine neue Brücke zwischen der digitalen und der physischen Welt, zwischen Mensch und Maschine.
Foto: Supamotion - shutterstock.com

Augmented Reality (AR) ist nicht nur ein weiterer Kommunikationskanal, sondern eine völlig neue Methode, mit Menschen in Kontakt zu treten. Es schließt die Kluft zwischen einer begrenzten mentalen Kapazität und Aufnahmefähigkeit des Menschen und der ständig wachsenden Menge an Daten und Erkenntnissen, die die virtuelle, digitale Produktwelt bereitstellt. Das ist der Ansatz, von dem aus Prof. Michael E. Porter (Harvard Business School) und James Heppelmann, Präsident und CEO von PTC, in einer Abhandlung im Harvard Business Manager (Februar 2018) erarbeiten,

  • was Augmented Reality ist,

  • welche Technologien und Anwendungen sie künftig so wichtig macht,

  • und wie AR in der unternehmerischen Praxis erfolgreich umgesetzt werden kann.

Was ist Augmented Reality?

Allgemein formuliert, ermöglicht AR eine neue Form der Informationsbereitstellung, die nach Ansicht der Autoren weitreichende Auswirkungen darauf haben wird, wie Daten strukturiert, verwaltet und via Web zur Verfügung gestellt werden: Bislang musste der Nutzer auf einem zweidimensionalen Medium bereitgestellte Daten umständlich in die dreidimensionale Wirklichkeit transformieren. Jeder, der schon mal versucht hat, mithilfe eines Handbuches ein etwas komplizierteres Gerät einzurichten oder gar zu reparieren, kenne diesen mentalen Arbeitsvorgang und wisse, wie leicht man daran scheitern kann, argumentieren Porter und Heppelmann.

Die Lösung in der AR-Anwendung ist, dass die digitalen Daten z.B. in Form eines Bildes, eines 3D-Modells oder einer Animation auf die physische Welt projiziert werden und damit reale und digitale Welt verschmelzen. Das Entscheidende dabei ist der Kontext: Es werden immer die richtigen Daten zum richtigen Zeitpunkt und für den jeweiligen Gegenstand oder die physische Umgebung eingeblendet. Damit wird auch der mentale Aufwand für die Überwindung der kognitiven Distanz verringert. Kognitive Distanz ist die Kluft zwischen der Präsentation der Information und dem Kontext, auf den sie sich bezieht.

Beim Head-Up-Display werden wichtige Informationen direkt im Sichtfeld des Fahrers angezeigt.
Beim Head-Up-Display werden wichtige Informationen direkt im Sichtfeld des Fahrers angezeigt.
Foto: BMW

Die Autoren führen zur Verdeutlichung ein einfaches Beispiel an, nämlich die Wegbeschreibung auf dem Smartphone-Navi zu erfassen, im Gedächtnis zu behalten und dann im richtigen Moment danach zu handeln. Das verursacht eine wesentlich größere kognitive Belastung, als wenn die Informationen im Sichtfeld des Fahrers direkt auf die Frontscheibe projiziert werden, wie das bei den seit einiger Zeit in Autos eingesetzten Head-up Displays der Fall ist.

Was kann AR?

Aus Sicht von Porter und Heppelmann gibt es 3 plus 1 Kernfunktionsbereiche, in denen AR Mehrwerte schafft: beimVisualisieren, bei Anleitung, Schulung, Coachingund in der Interaktion mit Produkten und deren Steuerung - sowie in Verbindung mit der ergänzenden, aber eigenständigen Technologie der Virtuellen Realität (VR).

Der Medizintechnikhersteller AccuVein generiert aus dem Wärmemuster der Venen ein Bild und legt das via AR auf die Haut.
Der Medizintechnikhersteller AccuVein generiert aus dem Wärmemuster der Venen ein Bild und legt das via AR auf die Haut.
Foto: Accuvein

AR-Anwendungen nach dem Prinzip des Visualisierens zeigen sozusagen mit Röntgenblick die innere, verborgene Funktionalität. So generiert etwa der Medizintechnikhersteller AccuVein aus dem Wärmemuster der Venen ein Bild und legt das auf die Haut. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Nadel bei der Blutabnahme die Vene trifft, ist dreimal so hoch. Bosch Rexroth visualisiert das Innenleben des Hydraulikaggregates CytroPac. In der 3D-Darstellung, die sich beim Betrachten eines bestimmten Punktes der Außenhaut öffnet, wird die Verflechtung der Teilsysteme und die Kühlmöglichkeiten der internen Pumpe in unterschiedlichen Konfigurationen sichtbar.

Auch im Bereich Anleiten und Schulung verfügt AR dem Autoren-Duo zufolge über ein hohes Einsparungspotenzial. Während es oft schwierig und zeitaufwendig ist, schriftlichen Arbeitsplänen oder Montageanleitungen zu folgen, erläutert eine AR-Anwendung vor Ort in Echtzeit und Schritt für Schritt den Arbeitsvorgang, idealerweise noch per Datenbrille, damit beide Hände frei sind. Das Handbuch wird dabei zum interaktiven 3D-Hologramm. Auch hier gibt es bereits zahlreiche Anwendungsfälle, die das hohe Potenzial dokumentieren: So erzielte etwa Boeing in einem Versuchsprojekt bei der Montage einer Flugzeugtragfläche mit dem Einsatz von AR-Technik eine 35-prozentige Zeiteinsparung, die Anzahl der Mitarbeiter, die die Aufgabe beim ersten Mal richtig erledigten, stieg um 90 Prozent.

Eine Schlüsselanwendung von AR wird Porter und Heppelmann zufolge die Remote-Support-Funktion werden: Über AR-Geräte wird das Bild, das der Techniker vor Ort sieht, an einen Experten in der Zentrale gesendet und der kann ihm Arbeitsanweisungen per Sprache geben oder sie ins Sichtfeld einblenden. Auch hier gibt es bereits Anwendungsbeispiele: Lee Company, ein Unternehmen, das Gebäudesysteme verkauft und wartet, spart auf diese Weise pro Monat und Techniker 500 Dollar an Personal- und Reisekosten, pro Dollar an AR-Investitionen werden dabei 20 Dollar Rendite erwirtschaftet.

Auch das bisherige Steuern und Interagieren mit Produkten oder Maschinen über Knöpfe, Griffe oder mittlerweile auch integrierte Touchscreens werde durch AR auf eine neue Qualitätsstufe gehoben, postulieren die Autoren. Über eine Datenbrille steuert z.B. der Fabrikmitarbeiter mittels Gesten und Sprachbefehle virtuelle Bedienfelder und kann beim Gang durch die Werkhalle Parameter der Maschinen überprüfen und einstellen, ohne sie physisch zu berühren.

Der digitale Arbeitsplatz von morgen bei Wemo (NL): Ein Arbeiter in der Metallproduktion nutzt die HoloLens von Microsoft, um mit Gesten mehrere Maschinen auf einmal zu steuern.
Der digitale Arbeitsplatz von morgen bei Wemo (NL): Ein Arbeiter in der Metallproduktion nutzt die HoloLens von Microsoft, um mit Gesten mehrere Maschinen auf einmal zu steuern.
Foto: PTC

Wenngleich diese Anwendungsfunktion ein riesiges Potenzial verspricht, steht sie speziell bei kommerziellen Produkten noch ziemlich am Anfang. Die erforderlichen Technologien haben vielfach die Forschungslabors noch nicht verlassen. Aber: die Sprachsteuerung in rauen Umgebungen macht Fortschritte, ebenso wie die Erfassung von Gesten und Blicken.

Dasselbe gilt den Autoren zufolge für das verwandte Thema Virtuelle Realität. VR bedeutet, mit einem computergenerierten Bild die physische Realität nachzubilden. Sie kommt z.B. zu Schulungszwecken zum Einsatz, vor allem auch, wenn Maschinen und Arbeitsumgebungen sich in gefährlichen oder abgelegenen Einsatzbereichen befinden bzw. in der Zukunft oder der Vergangenheit liegen, etc. VR stellt dann als vierte Kernfunktion für die drei anderen AR-Kernfunktionen die Hintergrundrealität virtuell bereit.

Audi testet das VR Holodeck, um das Design eines neuen Automodell zu beurteilen.
Audi testet das VR Holodeck, um das Design eines neuen Automodell zu beurteilen.
Foto: Audi

Als Beispiel verweisen Potter und Heppelmann etwa auf das "VR-Holodeck", das Audi bereits testet. Dabei handelt es sich um eine begehbare, virtuelle Umgebung, in der sich Auto-Prototypen realistisch und proportionsgetreu darstellen lassen, zur Designbeurteilung des 3D-Abbilds des jeweiligen Autos beim Übergang zwischen Entwicklung und Produktion. Damit reduziert das Unternehmen die Zahl der aufwändigen physischen Test-Modelle und spart so Entwicklungszeit und Kosten. Das amerikanische Heimatschutzministerium (Homeland Security) wiederum kombiniert AR-Anweisungen und VR-Hintergrund, um Katastrophenhelfer für gefährliche Notsituationen, wie Explosionen, auszubilden. Die Intention, mit VR Kosten und Risiken zu minimieren, hat auch BP: Der Energiekonzern bildet als Hintergrund für AR-Schulungsabläufe Bohrfeldszenarien nach.