Gis Arta

So kann eine Karten-App den Ukraine-Krieg entscheiden

10.06.2022
Von 
Halyna Kubiv ist Content Managerin bei der Macwelt.
Vor einigen Tagen hat in der Presse eine ukrainische App Aufsehen erregt: Gis Arta sollte entscheidende Berechnungen beim Abschuss schwerer Artillerie erheblich verkürzen.
Gis Arta - das Uber für das Militär?
Gis Arta - das Uber für das Militär?
Foto: A. Ivashchenko / Shutterstock

Dass die Digitalisierung keinen Halt vor Pandemien und Kriegen macht, hat sich in den vergangenen Jahren und Wochen bestätigt. In den Medien hatte vor zwei Wochen eine App namens Gis Arta Aufsehen erregt, die Berechnungen für die ukrainischen Artilleristen entscheidend erleichtert. Vor allem der Zeitgewinn war laut der Berichte immens: Von einer halben Stunde bzw. 20 Minuten haben sich die Berechnungen für den nächsten Beschuss auf eine Minute verkürzt.

Die Medien beschreiben die App als eine Art Uber für Armeen: Sobald ein Ziel identifiziert wird, kann ein Offizier vereinzelte Artilleriegeschütze und Raketenwerfer aus unterschiedlichen Abteilungen für einen Beschuss zuweisen und so eine Art vom distribuierten Angriff auf die russischen Truppen starten. Wir haben den Entwicklern der App ein paar Fragen gestellt, denn es schien uns ein wenig zu perfekt, um wahr zu sein.

Gis Arta
Gis Arta
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Die Anfänge von Gis Arta finden sich im Jahr 2014: Mit der russischen Invasion im ukrainischen Donbas stand die ukrainische Armee vor einem logistischen Problem: Die Artillerie war zu langsam und zu ungenau. Insider berichtetet über die gleichen Probleme: zu wenig ausgebildete Profis, zu ungenaue und veraltete Karten. Die Artillerie hat eine große Reichweite – manchmal bis vierzig Kilometer. Das heißt, um genau abfeuern zu können, benötigt eine Artillerieeinheit präzise Kartendaten und komplizierte ballistische Berechnung der Flugbahn, denn der Abschuss geschieht gewissermaßen blind. Das wird auch als „indirektes Feuer“ bezeichnet. Eben bei diesem „indirekten Feuer“ hat ukrainische Armee Schwäche gezeigt. Ein Jahr später hätten sich die gleichen Abteilungen im internen Sprachgebrauch plötzlich die Bezeichnung „Kriegsgötter“ verdient: Einige Angriffe waren erstaunlich effizient und erfolgreich durchgeführt. Es hat sich herausgestellt, dass die für jene Abschüsse verantwortlichen Soldaten die Entwicklung Gis Arta genutzt haben.

Wie einer der Entwickler erklärt, basiert Gis Arta auf topographischen Karten, diese Daten bezieht die Applikation direkt von der ukrainischen Armee. Auf dieser Grundlage sind mehrere Datenschichten möglich, ein passender Vergleich wären hier wohl Ebenen in Photoshop oder Lego-Bausteine, die sich beliebig miteinander verbinden können. Zu allen diesen Schichten können die Entwickler unterschiedliche Nutzer mit unterschiedlichen Rechten zuweisen: Einige haben Zugriff auf alle Daten, einige Benutzer – nur auf ein bestimmtes Set davon, einige können die Daten aktiv bearbeiten, andere dagegen nur ablesen.

Ein weiterer Vorteil: Die Datenschichten werden in Echtzeit synchronisiert, so ist es mit Gis Arta möglich, die von Drohnen gesammelte Koordinaten und Screenshots der Umgebung sofort einzublenden und darauf zu reagieren. Für die Endnutzer, also die Artilleristen, ist Gis Arta tatsächlich wie eine App, denn die Weboberfläche funktioniert auf einem konventionellen Rechner oder zu Not auch auf dem Smartphone.

Uber für Artilleristen

In der Praxis kommt Gis Arta in zwei Schritten zum Einsatz: Eine Drohne oder ein anderes Gerät überträgt Live-Daten vom möglichen Standort der gegnerischen Stellung, bei der Drohne reicht zum Beispiel aus, wenn jemand im Kontrollzentrum ihre Flugbahn verfolgt und beispielsweise ihre Kreisbewegungen über einem bestimmten Ort sieht. Nach Bedarf kann das System die Screenshots der Drohnenkamera einblenden, so lässt sich wohl überprüfen, ob kein falscher Alarm vorliegt. Im nächsten Schritt werden die eigenen angriffsbereiten Einheiten angezeigt, ein Kommandeur im Kontrollzentrum kann nach Belieben daraus auswählen, selbst wenn sie im Raum verteilt sind. Jede davon erhält ihre Abschussziele und feuert darauf. Solch ein distribuierter Angriff hat zum Vorteil, dass der Gegner nur schwer einen Gegenangriff veranstalten kann. Denn in der Praxis gibt es keine Ansammlung von Einheiten und Artilleriegewehren an einem einzelnen Ort, die muss man quasi in der Gegend erstmal finden.

Technische Hintergründe der Gis Arta

Hinter einem solchen distribuierten Angriff versteckt sich ein System aus mehreren Punkten, die untereinander per Ad-Hoc-Internet verbunden sind. Eine Grundlage bietet eine Server-Einheit mit den Kartendaten. Lustigerweise nutzen die Entwickler von Gis Arta für ihr System die deutschen Rechner Terra vom Hersteller Wortmann AG.

Das Notebook bzw. das System darauf dient als Grundlage für alle weiteren Zugangspunkte in der Umgebung, vernetzt wird per Internet, aber nicht nur über Mobilfunk oder Wlan, sondern auch per Radiofunk, Satellitenfunk oder weitere Kanäle, die Datenübertragung ermöglichen. Gis Arta unterstützt Standardprotokolle wie TCP, IP und UDP-Protokolle. Physische Geräte für die Datenübertragung sind irrelevant, die Entwickler erklären uns, ein Netzwerk ist auf den Radiostationen Harris Falkon, konventionellen Motorola Motobro, per Satellit wie Starlink oder in einer beliebigen Mischung davon möglich. Verschlüsselt wird die Verbindung mit einem 512-Bit-Schlüssel.

Ebenfalls unabhängig ist das System von bestimmter Satellitennavigation, ob Galileo oder GPS, Gis Arta liest und verarbeitet alle Koordinaten.

Mit den aktuellen Kartendaten kann Gis Arta eine Berechnung der Abschussbahn mit einer Genauigkeit von zwei Metern gewährleisten. Die praktischen Schießübungen haben gezeigt, dass sich diese theoretische Genauigkeit in die Treffsicherheit von fünf bis sechs Metern in der Praxis übersetzt. Dabei wurde von 10 bis 15 Kilometer abgefeuert, bei solchen Distanzen ist eine Treffgenauigkeit von 50 bis 100 Meter zulässig, so Gis Arta uns gegenüber.

Was Gis Arta außer Schießen kann

Russlands aktueller Krieg in der Ukraine wird irgendwann mal zu Ende sein, ein ausführliches Interview mit mehr Einzelheiten haben uns die Entwickler aus verständlichen Gründen für die Zeit nach dem ukrainischen Sieg versprochen. Doch auch danach wird die App bzw. das System nützlich sein: Gis Arta kann nach Bedarf seismische Sensoren einbinden und so die Einsätze in den Katastrophengebieten koordinieren. Damit ist auch eine effektivere Grenzüberwachung möglich. Einer der Einsatzgebiete sehen die Entwickler der Gis Arta in der Försterei: Denn auch die Überwachung der Waldbestände ist mit der Technologie möglich, bei Waldbränden kann sie ebenfalls helfen. (Macwelt)