Siemens: Mit "Umarmungsstrategie" der IBM den Wind aus den Segeln nehmen?

25.11.1983

Die deutsche DV-Szenerie war bis vor kurzem durch Polarisierung gekennzeichnet: Auf der einen Seite IBM und die Kompatiblen, auf der anderen Seite die BS2000-Welt der Siemens AG. Seit einiger Zeit nun versucht der Münchner Hersteller, diese Kluft zu verringern. Die hierzu befragten Anwender beurteilen die neue Strategie der Annäherung unterschiedlich. Den größten Fortschritt sehen einige darin, daß auch Siemens-Benutzern das breite Angebotsspektrum der IBM-PCMs (Plug Compatible Manufacturers) zugänglich wird. Für andere eröffnet sich endlich auch die Vielfalt der am Markt angebotenen Software für IBM-Maschinen. Ob sich diese Hoffnungen erfüllen, wird unterschiedlich eingeschätzt: Glaubt der Münchener DV-Leiter Eckhard Schupp, die Anpassung werde sich ausschließlich auf die Hardware beziehen, so ist Gerhard Wellner von der Osram GmbH der Ansicht, daß künftig mehr Umstellungen von MVS und BS3000 auf BS2000 und somit auch entsprechende Konversionsprogramme verfügbar sein werden. Die Anfänge sind schon gemacht.

Wolfgang Kowald, RZ-Leiter, Hamburg

Der Gedanke daran, daß bei einer Hardwareentscheidung die Frage: "BS2000 oder ein IBM-kompatibles Betriebssystem?" nicht mehr zu stellen ist, wird Hersteller und Anwender zu neuen Überlegungen der Vertriebs- und Einkaufsstrategie zwingen. Auch in Kreisen der heute "IBM-Kompatiblen" wird man diese Entwicklung aufmerksam beobachten müssen. Es entsteht ein neuer Markt und eine neue Konkurrenz.

Anwender mittlerer Größenordnung, die heute eine Auswahl der Hardware und damit des Betriebssystems zu treffen haben, stehen derzeit - bei der Alternative IBM oder Siemens - vor folgenden Überlegungen:

Weder der Preis noch das Leistungsverhältnis der Hardware gibt einen entscheidenden Ausschlag in die eine oder die andere Richtung. Für einen "Erstanwender" ohne Umstellungsaufwand spielt bei der Entscheidung sicher die einzusetzende Software eine große Rolle. Jedoch sind Anwender, für die MVS noch nicht wirtschaftlich vertretbar ist, bei IBM auf VSE oder VSE mit VM angewiesen. Das ist - zumindest für RZ-Betreiber, die das BS2000 kennen - keine sonderlich attraktive Lösung, wenn man den Komfort des Betriebssystems zum Maßstab macht.

Andererseits eröffnet sich dem VSE-Anwender der große Markt der kompatiblen Standardsoftware sowohl fachbezogen als auch systemunterstützend.

Wo bei diesen Ergänzungen die Prioritäten gesetzt werden, kommt sicher auf die unternehmensspezifischen Anforderungen und Probleme an.

Eine BS2000-Anwendung deckt den Hardwareleistungsbereich von kleinen Anlagen wie der 7.521, bis zum 7 Mips-Rechner, wie einer 7.570 P, komfortabel ab. In dieser Leistungsbreite bietet IBM vom SSX-VSE, DOS-VSE, VM bis zum MVS ein breites Spektrum von Systemmöglichkeiten an. Das MVS ist nach unten nicht kompatibel, so daß für Anwender einer bestimmten Größenordnung ein Betriebssystemwechsel bei demselben Hersteller ins Gespräch kommt. Der BS2000-Anwender muß sich erst sehr viel später Gedanken über ein Upper-Limit seines Betriebssystems machen. Er nimmt dafür zur Zeit den Nachteil in Kauf, in keiner Richtung kompatibel zu sein. Ohne großen Umstellungsaufwand ist die Ehe mit dem BS2000 nicht aufzukündigen, Probleme bei der Migration verhindern jedoch oft auch den umgekehrten Weg.

Wenn es gelingt, ein IBM-kompatibles Betriebssystem zu entwickeln, den Systemoverhead jedoch in vertretbarem Rahmen zu halten, wären damit einige Restriktionen der Anwender für einen Herstellerwechsel beziehungsweise den Wechsel des Betriebssystems beseitigt.

Für Siemens ein zweischneidiges Schwert, für Anwender und Softwareentwickler jedoch ist die Entscheidung der Münchener durchaus zu begrüßen.

Eckhard Schupp, DV-Leiter, Südfleisch GmbH, München

Vergleicht man die Marktanteile der deutschen DV-Hersteller, so er kennt man sehr schnell, daß die "IBM-Kompatiblen" den Markt prägen. Aus diesem Grunde ist es verständlich, daß Siemens als Branchenzweiter nach der IBM beim Kampf um Marktanteile versuchen muß, eigene Nachteile abzubauen. Einer davon war und ist bei der Siemens-Systemfamilie 7500/BS2000 die Inkompatibilität zur "IBM-Welt". Für den Anwender bedeutete dies, daß er nach der Entscheidung für Siemens immer an den Hersteller gebunden war. Bei der Auswahl von Standardsoftwareprodukten war das noch nicht von allzu großer Bedeutung da die Produkte sämtlicher bedeutender Softwarehäuser sowohl für DOS/VSE wie auch für BS2000 angeboten werden. Bei der Ergänzung von Hardware war die Einschränkung schon gravierender, da eben nur Siemens-Hardware in Frage kam. Für den Hersteller mag dies im ersten Augenblick sehr gut klingen. Doch glaube ich, daß es für Siemens eine gute und dringend notwendige Entscheidung war, neue Schnittstellen zu schaffen, die einen Austausch mit IBM-kompatibler Hardware ermöglichen.

Bis Ende 1985 soll durch Einführung des Kanaltyps IBM 370 unter BS2000 die Verwendung von Zentraleinheiten mit der Befehlsliste vom Typ IBM 370 ermöglicht werden.

Die neuen Plattenlaufwerke 3475 arbeiten schon nicht mehr mit dem bisherigen Sternprinzip, das auch seine Vorteile hatte, sondern mit dem Strangprinzip der A- und B-Plattenlaufwerke. Die Liste könnte von Siemens sicher noch erweitert werden.

Was bedeutet dies letztendlich? Der Siemens-Anwender ist nicht mehr isoliert mit der BS2000-Welt. Er kann in Zukunft Zentraleinheiten und Peripherie mehrerer Hersteller auswählen. Darunter werden aber auch die von Siemens angebotenen Fujitsu-Rechner fallen, die dann auch im BS2000 laufen werden. Siemens erhält auch den Vorteil, verstärkt am OEM-Markt kaufen und verkaufen zu können.

Da die Benutzeroberfläche nicht berührt werden soll, glaube ich nicht, daß die bestehende Anwendersoftware, die beispielsweise in DOS/VSE geschrieben wurde, jemals mit BS2000 laufen wird.

Siemens ist auf dem richtigen Weg, durch Anpassung des BS2000 sich den Hardwaremarkt der "IBM-Welt" zu öffnen. Die Vorteile überwiegen für den Hersteller als auch für den Anwender. Nur - die Entscheidung hätte früher fallen sollen!

Gerhard Wellner, Leiter der Softwareentwicklung, Osram GmbH, München

Softwarespezialisten mit Erfahrungen in unterschiedlichen Betriebssystemen der Groß-DV stimmen sicherlich damit überein, daß das BS2000 heute ein exzellentes Betriebssystem ist und die zugehörende systemnahe Software weitgehenden Ansprüchen genügt.

Der Hersteller hat in dieses Betriebssystem in den letzen Jahren viel investiert und besonders hinsichtlich Systemdurchsatz, Flexibilität und Benutzerfreundlichkeit des BS2000 Schwerpunkte gesetzt. Die Absichtserklärungen der Siemens AG in jüngster Zeit weisen auf eine weitere Forcierung der Entwicklung des BS2000.

Mit der "Fujitsu-Serie" 7.800 und dem BS3000 hat das Unternehmen eine autarke Systemfamilie in seinen DV-Vertrieb aufgenommen und betreibt mit diesen Produkten ein erfolgreiches Ablöse- und Zusatzgeschäft im MVS-Markt. Die Strategie der Siemens AG, ihr eigenes BS2000 bei der Weiterentwicklung BS3000-anlagenkompatibel und somit auch IBM-kompatibel auszulegen, erscheint deshalb nur logisch.

Bei dieser Weiterentwicklung ist jedoch nicht daran gedacht, Schnittstellen so auszulegen, daß beispielsweise auf BS3000 oder MVS ausgerichtete Anwendungssoftware auf BS2000 lauffähig wird. Das wäre sicherlich ein Wunsch vieler Fachabteilungen, die bestimmte auf dem Markt angebotene Standardsoftware installieren lassen und anwenden möchten. Man wird also aus dem BS2000 kein MVS machen. Vielmehr ist geplant, das BS2000 so zu modifizieren, daß ein Einsatz auf Fujitsu-Rechnerkopplungen zwischen BS2000- und BS3000- beziehungsweise MVS-DV-Systemen problemlos möglich sein.

Für Unternehmen mit einem Hardwaremix von Siemens-, Fujitsu- und/oder IBM-Rechnern ergeben sich viele Vorteile. Doch was bringt diese Strategie für Anwender von reinrassigen Siemens-BS2000-Systemen?

Unser Bedarf an Rechnerkapazität steigt permanent, was sich sowohl auf die Anzahl der Rechnereinheiten (Dezentralisierung in die Werke und Beteiligungsgesellschaften) als auch auf die Rechnergröße auswirkt. Die Siemens AG kündigt 7.500-Systeme mit wesentlich erhöhter Leistung auf Basis neuer DV-Technologie an, die dann unseren Anforderungen voll genügen werden. Ein Umstieg auf die Jumbos der 7.800-Serie wird deshalb nicht in Frage kommen. Vorteile ergeben sich für uns gegebenenfalls dann wenn die Siemens AG künftig unter BS2000 370-kompatible Peripheriesubsysteme in ihr DV-Vertriebsspektrum hereinnimmt und zusätzliche Möglichkeiten der Neu- oder Umkonfigurierung bietet. Dem Einsatz derartiger lokaler DV-Peripherie von Fremdlieferanten stehen wir zunächst, bedingt durch die voraussehbaren Wartungsprobleme skeptisch gegenüber.

Was bleibt für den heutigen normalen BS2000-Anwender? Im wesentlichen die Erwartung, daß mit der weiteren erfolgreichen Verbreitung des BS2000 eine Entwicklung folgt, die zu mehr Betriebssystemumstellungen von MVS oder BS3000 auf BS2000 und somit auch hier zu entsprechender Konversionssoftware führt. Ich selbst wünsche mir - neben mehr auf BS2000-Anlagen kreierten hochwertigen Anwendungssystemen - ausgereifte Systemumstellungshilfen, damit die für uns geeigneten IBM-orientierten Anwendungssoftwarepakete mit geringen Kosten und Problemen auf eigene BS2000-Systeme umgesetzt werden können.