Weltpremiere für Bürosystem auf der Basis der CCITT-Normen:

Siemens legt mit "Hicom" ISDN-Meßlatte auf

04.01.1985

MÜNCHEN - Zwei Monate nach Verabschiedung der CCITT-Normen für ISDN (Integrated Services Digital Network) hat die Siemens AG das erste ISDN-Inhouse-Kommunikationssystem für die weltweite Vermarktung vorgestellt. "Hicom" ist eine digitale Nebenstellenanlage für die simultane Vermittlung von Sprache, Text, Bildern und Daten in einem Netz, auf einer herkömmlichen Telefonleitung, unter einer Rufnummer.

Vor 700 Kunden und 150 Journalisten hob der bayerische Ministerpräsident und Festredner Strauß neben der Leistung der (nahezu) kompletten Eigenentwicklung auch die um drei Jahre vorgezogene Produktreife der Kommunikationsanlage als Beispiel für die Innovationskraft der europäischen Informations- und Kommunikationsindustrie hervor. Claus Kessler, Vorstandsmitglied und Leiter des noch relativ neuen Unternehmensbereichs Kommunikations- und Datentechnik, akzentuierte als wesentlichen Wettbewerbsvorteil des süddeutschen Elektro- und Elektronikkonzerns das Zusammenwachsen von Kommunikations- und Datentechnik aus einem Unternehmen in jetzt einem Bereich: "Wir hatten es leichter als unsere Wettbewerber, die nur eine einzige Technik im Hause haben und nun auf Partnersuche gehen müssen." Diese Zeit habe man für die Entwicklung von Hicom genutzt.

Offenbar unter strengster Geheimhaltung verliefen Produktentwicklung und Marketing-Vorbereitungen für die High-Tech-Innovation; gleichwohl erwarteten sich die Siemens-Mitarbeiter der betroffenen Abteilungen bereits seit geraumer Zeit den großen Wurf und das große Geld aus dem Ablösegeschäft der analogen Nebenstellenanlagen durch die digitale ISDN-Kommunikationsanlage. Im Geschäft mit Nebenstellenanlagen bezeichnen sich die Münchner nämlich als Weltmarktführer vor AT&T, Mitel, Rolm etc. Elf Prozent Marktanteil ist die heutige Ausgangsbasis für die anlaufenden weltweiten Marketing-Aktivitäten, die sich auf das Marktsegment Bürokommunikation konzentrieren. Bemerkenswert die gelungene Image-Korrektur des traditionsbewußten Unternehmens, die die Großveranstaltung signalisierte: amerikanische Public-Relations-Effektivität verband sich mit europäischer Bonität und deutscher Gründlichkeit der Information und Präsentation.

Der frühe Zeitpunkt des Siemens-Announcements ist unter anderem auf die kürzlich erfolgte Festlegung des Bundespostministers auf den Zeitpunkt 1988 für die bundesweite Einführung von ISDN in der öffentlichen Vermittlungstechnik zurückzuführen. Das von Siemens vorgelegte Entwicklungstempo für die neuen hohintegrierten ISDN-Chips dürfte auch auf eine besonders gute Durchlässigkeit für Informationen aus den internationalen Normierungsgremien speziell in der Hicom-Projektgruppe zu suchen sein, in erster Linie den CCITT-Gremien.

Der ausschließlich eigenfinanzierte Entwicklungsaufwand in Höhe von 500 Millionen Mark floß zu 80 Prozent in die Software: 1,2 Millionen Lines of Code wurden in der CCITT-High-Level-Lanquage "Chill" geschrieben. Dies entspreche in etwa gut der Hälfte des Umfangs eines Betriebssystems für große Universalrechner. Die Programme für das Switch-Modell, das Hicom-Betriebssystem etc. seien weitgehend hardwareunabhängig und damit portierbar auf alle Anlagengrößen und Prozessoren. Auch die kleinste Hicom-Anlage könne über den vollen Leistungsumfang verfügen.

Die Hardware gliedert sich in die Module Peripherie, und Gruppensteuerung, Zeitstufenvielfach, zentrale Steuerung sowie Server. Dies sind ein Betriebs- und Datenbearbeitungs-Server, der Sprachbriefkasten-Server sowie Text- und Faksimile-Server. Interne Schnittstellen sollen die Verbindung zwischen den Funktionsmodulen sichern.

Rückgrad der Hardware sind spezielle Telecom-ICs, an erster Stelle der "Sicofi". Hier sind Signalprozessor, Codec und Filter auf einem Chip integriert, der 30 000 Transistorfunktionen enthält, eine bei Telecom-Chips mit digitaler und analoger Logik bisher nicht erreichte Größenordnung, wie die Siemens-Leute betonten. Stolz sind die Münchner auch noch auf den "Peripheral Bord Controller" mit seinen 22 000 Transistorfunktionen. Er setzt auch digitale Zwei-Kanal-Eingänge auf die systeminterne Normschnittstelle um, zum digitalen Zeitvielfach und zur Steuerung. Für beide Schaltungen hat Philips bereits die Second-Source-Rechte erhalten.

Das Durchschalte-Netzwerk (Zeitstufenvielfach) konnte für 600 Anschlußeinheiten auf nur zwei Baugruppen mit je sechs hochintegrierten Siemens-ICs realisiert werden.

Jeder Chip bietet mit 40 000 Transistorfunktionen 512 Eingangskanäle und 256 Ausgangskanäle zu je 64 KBits/s. Möglich seien Einzelkanal- und Highway-Durchschaltung (2 MBit/s). Die zentrale Mikroprozessor-Steuerung verarbeitet bis zu 10 MBit/s. Kernstück der Steuerung in Mono- und Multiprozessor-Konfiguration ist der Mikroprozessor iAPX 286, eine Gemeinschaftsentwicklung von Intel und Siemens. "Hot-Standby"-Betrieb soll eine hohe Verfügbarkeit der Hicom-Steuerung sichern. Im übrigen seien alle wesentlichen Teile der Anlage redundant ausgelegt; Duplex-Anlagen könnten ebenfalls geliefert werden.

Herausragende Besonderheit gegenüber herkömmlichen Kommunikationssystemen aus der klassischen DV-Tradition (siehe Seite 25) ist die Integration aller Kommunikationsformen in einem Netz, auf einer Leitung, unter einer Rufnummer, und zwar auf der Basis vorhandener herkömmlicher Telefonkabel. Wegen der ISDN-Übertragungsrate von 144 KBit/s lassen sich auf einer Leitung gleichzeitig zwei Kanäle benutzen, was simultane Mischkommunikation erst ermöglicht. Das entsprechende Multifunktionsterminal, genannt Multiterminal 3510 und ebenfalls neu entwickelt (siehe Foto), soll 5000 Mark kosten. Es ist Komforttelefon, Textterminal und Datenstation zugleich.

Multiterminals sind für unterschiedliche Anwendungsschwerpunkte konfigurierbar. Zunächst realisiert ist die Möglichkeit, während des Sprechens eine Faksimile-Übertragung zu starten, eine Datenbankinformation oder auch eine Bildschirmtextinformation abzufragen. Sogenanntes "Interworking", das heißt Wandeln beziehungsweise Umschalten von einer Dienstform in die andere, ist zwischen Teletex und Telefax auf Knopfdruck möglich; gleichfalls realisiert ist die Electronic- und Voice-Mail-Funktion. Namensregister für Fernsprechen und Textkommunikation sorgen für weiteren Komfort.

Organisatorisch von hohem Wert dürfte die Vorab-Anzeige des Anrufers auf einem Display sein, ferner der Einsatz von Chipkarten, über die sich der Teilnehmer identifiziert; seine Gespräche können so - ganz gleich von welchem Terminal aus sie geführt werden (natürlich alle anderen Funktionen auch) - automatisch seiner Kostenstelle zugeordnet werden. Dieses neue Leistungsmerkmal nennen die Siemens-Leute "mobiler Teilnehmer".

Neben dem Multiterminal stehen als spezialisierte Endgeräte noch Siemens-Mikros, Workstations und das Arbeitsplatzsystem 5815 mit Hicomi-Anschlüssen zur Verfügung. Für Datenbankabfragen ist die Emulation 9750 für Siemens-Rechner mit BS2000 vorhanden, ferner sei die 3270-Emulation für IBM-Rechner realisiert.

Netzzugänge bestehen selbstverständlich zum heutigen öffentlichen Fernsprechnetz, zum Integrierten Text- und Datennetz (IDN), zum künftigen ISDN-Netz und zu privaten Netzen, Tastwahl nach dem Mehrfrequenz-Verfahren entsprechend CCITT ist ebenso möglich wie Impulswahl. Über Adapter sind auch analog arbeitende Geräte anschließbar. Auf größeren Werksgeländen müssen Remote-Switch-Einheiten eingesetzt werden; am Leitungssystem braucht sich nichts zu ändern.

Grundlage all dieser Leistungskriterien, speziell der Mehrfachkommunikation, ist der CCITT-genormte Hochleistungszeichenkanal, über den die Kommunikationsvorgänge im Voice- und Non-Voice-Bereich gesteuert werden. Auf der Basis einer Einheitsschnittstelle bietet Hicom also für mehrere Kommunikationsdienste die Kommunikationssteckdose, an der Mehrgerätekonfigurationen und Multiterminals unter einer Teilnehmernummer erreichbar sind.

Mit der Auslieferung der ersten Anlagen für bis zu 600 Teilnehmer will Siemens in der Bundesrepublik, in Österreich und in der Schweiz Ende des Jahres beginnen; weitere Länder sollen in Halbjahresschritten folgen, ebenfalls in diesem Turnus würden die weiteren Ausbaustufen für maximal 180 sowie 3000 und mehr Teilnehmer folgen.

Was noch aussteht, ist die mit Spannung erwartete "Siemens-Büro-Architektur" (SBA). Durch Einbeziehung der ISDN-Kommunikationssysteme in das künftige Regelwerk der SBA sollen sich künftig die ISDN-Leistungsmerkmale für alle Terminals und Geräte nutzen lassen. Beabsichtigt sei ein freizügiger Dokumentenaustausch zwischen SBA-Komponenten untereinander beziehungsweise über das ISDN-System; ferner seien Gateways zu wichtigen Fremdsystemen vorgesehen.

SBA werde ein Regelwerk zur verbindlichen Festlegung von Produkttypen, Konfigurationen, Benutzerschnittstellen und Protokollen darstellen. ISO/CCITT seien berücksichtigt: "Deren wichtigstes Aspekt ist ihre langfristige Gültigkeit und die "Normative Kraft" in Richtung allgemein geltenden Standards, die sozusagen die SBA prägen."