Siemens findet Käufer für Problemfall SIS

17.12.2010
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Joachim Hackmann ist Principal Consultant bei PAC – a teknowlogy Group company in München. Vorher war er viele Jahre lang als leitender Redakteur und Chefreporter bei der COMPUTERWOCHE tätig.
Der Siemens-Konzern stößt seine IT-Tochter Siemens IT Solutions and Services (SIS) ab. Ob der Deal ein jahrelanges Problem löst, ist ungewiss.

Siemens veräußert die IT-Sparte SIS für 850 Millionen Euro an Atos Origin. Nur 186 Millionen Euro zahlt der neue Eigentümer in bar, den Rest begleicht Atos Origin in Wandelanleihen und Anteilscheinen. Damit steigt Siemens bei dem französischen Dienstleister mit 15 Prozent ein und bekommt einen Sitz im Aufsichtsrat. Das finanzielle Engagement des deutschen Konzerns ist für die kommenden fünf Jahre festgeschrieben.

Die zweite wesentliche Komponente, um die Partner mittelfristig aneinanderzubinden, ist ein Outsourcing-Abkommen über mindestens 5,5 Milliarden Euro und eine Laufzeit von sieben Jahren. "Das ist einer der weltweit größten, wenn nicht gar der größte IT-Auslagerungs-Deal", freute sich Thierry Breton, CEO von Atos Origin. Im Zuge dieses Abkommen betreibt der französische IT-Provider die IT des Dax-Konzerns und stellt wesentliche Integrationsleistungen bereit. Atos Origin übernimmt dazu sämtliche Verträge, die der Konzern mit der IT-Tochter abgeschlossen hat.

Im Juli 2011 soll SIS integriert sein

Das Gemeinschaftsunternehmen wird 78.500 Mitarbeiter beschäftigen. Rund 1750 Siemensianer bleiben jedoch auf der Strecke. Im Zuge der Integration sollen ihre Arbeitsplätze gestrichen werden. 650 Stellen davon fallen in Deutschland weg. Siemens stellt Restrukturierungsgelder in Höhe von 250 Millionen Euro bereit.

Atos Origin möchte SIS zügig integrieren. Der Fahrplan sieht vor, das Projekt bis Mitte 2011 abzuschließen. Am Ende des Prozesses soll es zwei Firmen geben: Atos SBS (Specialized Business Services) wird Services etwa für Transaktionen und Geschäftsprozess-Outsourcing (BPO) bereitstellen. Ziel ist es, mit diesem Geschäft im Jahr 2013 rund zwei Milliarden Euro einzunehmen. Atos SBS wird 11.000 Mitarbeiter beschäftigen. Das zweite Standbein wird Atos ITS (IT-Services) bilden. Hier werden rund 67.000 Mitarbeiter Outsourcing- und Systemintegrations-Projekte betreiben. Das prognostizierte Umsatzvolumen beläuft sich auf 7,5 Milliarden Euro.

Siemens-CEO Peter Löscher bemühte sich, die Vorteile des SIS-Verkaufs herauszustellen "Wir haben nun die Größe, mit der wir als europäischer IT-Champion in den Wettbewerb um globale Aufträge eintreten können", warb der CEO für das Abkommen. "Damit werden wir größere und wichtigere Deals gewinnen. Für Mitarbeiter und Kunden tun sich enorme Entwicklungsmöglichkeiten auf." Man trete in eine langfristige strategische Partnerschaft ein.

Die Historie der Siemens-Veräußerungen lässt indes nichts Gutes erahnen. Die Verkäufe der Handy-Sparte an BenQ, der Kommunikationsprodukte an Nokia, des SEN-Geschäfts an den Investor The Gores Group sowie des Telefonbereichs an die Beteiligungsgesellschaft Arques waren allesamt mit Schwierigkeiten behaftet. Fast immer zahlte der Konzern hohe Summen drauf. Auch jetzt entledigt sich Siemens eines Sorgenkinds. SIS hat dem Konzern seit der Gründung des Vorläuferunternehmens SBS im Jahr 1995 Probleme bereitet. Im letzten Geschäftsjahr bescherte die IT-Tochter dem Konzern einen Verlust in Höhe von 537 Millionen Euro. Spätestens seit 2001, als die Vorgängerorganisation SBS von einem faulen Deal mit den britischen Sparkassen tief in den roten Bereich gerissen wurde, ist die IT-Tochter ein Sanierungsfall.

Siemens zahlt kräftig drauf

Nach dem damaligen Geschäftsführer Friedrich Fröschl versuchten sich vier weitere Chefs mit wechselnden Strategien. Bei allen Restrukturierungen blieb der nachhaltige Erfolg aus. Das Siemens-Topmanagement war zudem immer in erster Linie den eigenen Industriesparten verpflichtet. Das finanzintensive Auslagerungsgeschäft sowie das schwankende IT-Projekt-Business blieben stets ein Fremdkörper im Konzern.

Nun soll es also Atos Origin richten. Als Mitgift räumt Siemens den Franzosen hohe finanzielle Zugeständnisse ein. Der Verkaufspreis ist mit 850 Millionen Euro, davon lediglich knapp über ein Fünftel in bar, sehr niedrig. Die Münchner steuern zudem Millionenbeträge für Abfindungen bei. Mehr als sechs Monate haben die Partner verhandelt. Branchenbeobachter vermuten, dass Siemens wenig Alternativen hatte.

Gemeinsame Projekte angestrebt

Dennoch fallen die Bewertungen des aktuellen Abkommens unterm Strich eher positiv aus. Die Marktbeobachter goutieren, dass Siemens nach Jahren der erfolglosen Restrukturierung nun einen Strich zieht und das IT-Geschäft einem Partner überlässt, der es versteht. "Möglicherweise ist SIS auch besser in einem Konzern aufgehoben, in dem das Management mehr Kapazitäten für das schwierige Outsourcing-Geschäft aufwenden kann", zeigt sich Frank Rothauge, Director Strategic Advisory bei der Berenberg Bank, zuversichtlich. Pannen und Pleiten etwa nach dem BenQ-Vorbild befürchtet er nicht. Das können sich die Partner aufgrund der Dimension des Auslagerungs-Deals auch nicht erlauben. "Angesichts des Vertragsvolumens, über das die Partner nun verfügen können, sollten sie in der Lage sein, die Kosten in den Griff zu bekommen", erwartet Rothauge.

Unter regionalen Gesichtspunkten ergänzen sich die fusionierten Unternehmen gut. SIS ist als bedeutender Anbieter in Deutschland, Großbritannien und Skandinavien aufgestellt, Atos Origin ist stark in Frankreich und den Benelux-Staaten. Zusammen rücken sie in vielen Segmenten zum europäischen Top-Player auf. "Atos Origin ist sehr erfolgreich im BPO-Segment, speziell im Transaktions-Processing", berichtet etwa Christophe Chalons, Chief Analyst der PAC Group. Das Unternehmen betreibe unter anderem ein Smart-Metering-Projekt für den französischen Energieversorger EDF. In diesem Bereich gebe es große Schnittmengen mit Siemens.

Siemens-Chef Löscher kündigte an, Atos Origin werde künftig ein Mitglied der "Siemens-One"-Familie. Hinter dem Schlagwort verbirgt sich die Konzernstrategie, fachbereichsübergreifende Projekte bei den Kunden anzustreben. Diesen Plan verfolgte das Unternehmen bereits mit SIS, das in Projekten der Industrie-, Gesundheits- und Energiesparte jeweils den IT-Part übernehmen sollte. Durchschlagender Erfolg stellte sich nicht ein, denn die großen und selbstbewussten Segmente unterhalten ihre eigenen IT-Ressourcen. "Die Einstellung hat sich in den vergangenen 18 Monaten gewandelt", beobachtet Chalons. "Die Segmente haben die Bedeutung der IT erkannt, können aber nicht sämtliche Kapazitäten selbst aufbauen, zumal sie in Märkten wie Smart Metering und PLM künftig auf Konkurrenten wie IBM, Capgemini und Accenture stoßen."

Atos Origin ist kein Global Player

Doch auch die Herausforderungen und Risiken sind enorm. Mit der neuen Kombination entsteht ein europäisches Schwergewicht, das in den Wachstumsmärkten China, Indien, Russland und Brasilien kaum vertreten ist. Vor allem in Indien haben die Partner Nachholbedarf. Der Subkontinent ist nicht nur als Absatzmarkt, sondern auch als Produktionsstandort wichtig. "Atos Origin muss mehr ins Offshoring investieren, um die internen Kostenstrukturen anzupassen", betont Rothauge. "Es wird zu weiteren Personalanpassungen kommen, so dass man Auseinandersetzungen mit der Mitarbeitervertretung erwarten darf."

Steigende Kosten sind möglich

Auch für den Siemens-Konzern tun sich erhebliche Unwägbarkeiten auf. Der Konzern bindet sich für die kommenden sieben Jahre an einen Partner, das ist eine ungewöhnlich lange Laufzeit. Während dieser Zeit werden neue Techniken, Verfahren und Strategien den IT-Betrieb beeinflussen. Das können die laufenden und von Atos Origin unverändert übernommenen Verträge nicht abdecken, so dass der Dienstleister auf kräftiges Zusatzgeschäft mit Siemens hoffen darf. "Es besteht das Risiko, dass die Kosten für den an Atos Origin ausgelagerten IT-Betrieb deutlich steigen", warnt Rothauge.

Doch der Handlungsdruck war offenbar so übermächtig, dass das Siemens-Management sich trotz hoher Kosten nicht vom SIS-Verkauf abhalten ließ. Mit der Veräußerung schließt der Konzern nun endgültig das Kapitel der Kommunikations- und IT-Lösungen aus dem eigenen Haus, nachdem zuvor schon die Hardware und Kommunikationsprodukte abgestoßen wurden. Löscher kann Siemens nun ganz auf die drei Kernsektoren ausrichten. "Abschließend beurteilen lässt sich der Deal erst in drei bis fünf Jahren", prognostiziert Rothauge. "Aufgrund der engen Verflechtung durch das Outsourcing-Abkommen können Erfolg oder Misserfolg des Vorhabens möglicherweise nie endgültig bewertet werden."

Die Geschichte von SIS

Januar 1995: Siemens Business Services (SBS) wird als Gemeinschaftsunternehmen von Siemens und Siemens-Nixdorf Informationssysteme (SNI) unter Leitung von Friedrich Fröschl gegründet.

Dezember 1998: Fröschl erwägt einen Börsengang in den USA und strebt eine weltweit führende Position an.

November 2001: Ein problematischer Großauftrag der britischen Sparkassen reißt SBS tief in die Verlustzone. Fröschl muss gehen. Nachfolger wird Paul Stodden.

Dezember 2001: Stodden führt SBS wieder in die Gewinnzone, indem er die hohen Ansprüche zurechtstutzt, Absatzmärkte räumt und spart. Für die von Siemens geforderte Marge von mindestens fünf Prozent reicht es dennoch nicht.

Juni 2004: Stodden geht. Adrian von Hammerstein kommt.

April 2005: Der neue Siemens-CEO Klaus Kleinfeld verpflichtet SBS auf eine Marge von über fünf Prozent in genau zwei Jahren.

September 2005: Von Hammerstein geht, Christoph Kollatz kommt. Er rückt SBS in der Folge enger an den Konzern, zu Lasten des externen Geschäfts.

Januar 2006: SBS trennt sich vom Wartungsgeschäft. Spekulationen über eine Veräußerung häufen sich.

April 2007: SBS wird als Siemens IT Solutions and Services (SIS) in den Konzern eingegliedert. Zum Stichtag liefert SIS wie gefordert eine Marge von knapp über fünf Prozent.

März 2008: Erneut verhagelt ein gescheitertes IT-Projekt in Großbritannien die Bilanz.

Dezember 2009: Siemens kündigt an, SIS als eigenständige Gesellschaft auszugründen. Kollatz geht, Christian Oecking kommt und verstärkt wieder den externen Vertrieb.

Oktober 2010: SIS wird als GmbH ausgegründet.

Dezember 2010: Siemens verkauft die IT-Tocher an Atos Origin.