Kursbewegungen weisen in die gleiche Richtung

Siemens - ein Spiegelbild des deutschen Aktienmarktes

25.10.1991

Der Kurs der Siemens-Aktie und die Entwicklung des deutschen Aktienmarktes verlaufen parallel. Trotz immer wieder auftretender Unterschiede in der relativen Stärke weisen die Kursbewegungen in die gleiche Richtung. Auch die Wendepunkte im Auf und Ab der Kursbewegungen sind

identisch.

Für diese Parallelität gibt es zwei Gründe: Zum einen wird die Siemens-Aktie bei der Errechnung des deutschen Aktienindex (DAX) mit knapp zehn Prozent des Gesamtindex gewichtet. Damit ist Siemens nach den Titeln Allianz Holding und Daimler-Benz der am drittstärksten gewichtete Titel im DAX. Diese drei Werte zusammengenommen machen etwa ein Drittel des deutschen Aktienindex aus.

Zum anderen ist Siemens ein beliebter Titel bei ausländischen Investoren. Die großen Marktbewegungen am deutschen Aktienmarkt werden in der Regel durch Zu- beziehungsweise Abfluß von Auslandskapital hervorgerufen. Wegen seiner Marktbreite und internationalen Bekanntheit bedienen sich Auslandsanleger gerne der Siemens-Aktie.

Zinsentwicklung als Belastungsfaktor

Der Einfluß ist also wechselseitig. Einerseits beeinflußt die Gesamtmarktentwicklung den Siemens-Kurs, andererseits spiegelt der deutsche Aktienindex die Entwicklung der Siemens-Aktie wider. So betrachtet wedelt der Schwanz auch mit dem Hund.

Hinzu kommt, daß sich wegen der Breite des industriellen Spektrums, welches die Siemens AG abdeckt, aus deren Entwicklung Rückschlüsse auf die zukünftige Entwicklung des deutschen Aktienmarktes ziehen lassen.

Den größten Belastungsfaktor für den deutschen Aktienmarkt stellte in den vergangenen zwei Jahren die Zinsentwicklung dar. Durch den nachhaltigen Zinsanstieg von unter sieben auf in der Spitze über neun Prozent verbesserte sich die Attraktivität einer Anlage in festverzinsliche Papiere erheblich. Für eine Aktienhausse blieb nicht genug überschüssige Liquidität.

Die Hausse bleibt noch aus

Seit drei Monaten entspannt sich die Lage am Zinsmarkt. Die Durchschnittsrendite deutscher Anleihen ist wieder auf 8,5 Prozent gesunken. Auf dieses Startzeichen hatten die Börsianer gewartet. Eine Entspannung der monetären Belastungsfaktoren (Zins) sei Voraussetzung einer Hausse, hieß es. Obwohl diese Voraussetzung jetzt teilweise eingetreten ist, bleibt die Hausse aus.

Der Grund: Die operativen Unternehmensgewinne fallen schneller, als die Zinsen sinken, oder anders ausgedruckt - die Verbesserung der monetären Rahmenbedingungen (Zins) wird durch die Verschlechterung der fundamentalen Rahmenbedingungen (Unternehmensgewinne) ausgelöscht.

Siemens kann hier als Beispiel dienen. Das ernüchternde Fazit der Berichte aus dem Siemens-Konzern über das abgelaufene Geschäftsjahr 1990/91 (30. September) muß lauten: Die Qualität des Siemens-Gewinns (Konzern) hat sich verschlechtert. Das Unternehmen muß operative Verluste in einer Größenordnung von 1,5 bis zwei Milliarden Mark verkraften. Diese Verluste entstehen in den Bereichen SNI, Halbleiter, Ostdeutschland und USA.

Dem steht ein wahrscheinlich über Plan liegendes Ergebnis der Cash-Cow öffentliche Kommunikationsnetze gegenüber. Siemens berichtete auf der "Telekom Æ91" von einem sehr erfolgreichen Geschäftsverlauf. Der Trend setzte sich fort, der Auftragseingang kletterte im Vorjahresvergleich um 27 Prozent auf 13 Milliarden Mark.

Ebenfalls überdurchschnittlich entwickelten sich die Bereiche private Kommunikationssysteme, Energie-Erzeugung und Verkehrstechnik.

Dennoch: Geht man davon aus, daß die SNI-Beteiligung im abgelaufenen Geschäftsjahr erstmals konsolidiert werden wird, so ist für den Außenstehenden nur schwer nachvollziehbar, wie das erklärte Ziel, 1990/91 einen Jahresüberschuß von über 1,6 Milliarden Mark, auszuweisen, erreicht werden soll. 1989/90 lag die Steuerquote im Siemens-Konzern bei 40 Prozent. Angesichts der aktuellen Entwicklung in der Bundesrepublik kann nicht von einer niedrigeren Steuerquote ausgegangen werden. Demnach wäre ein Vor-Steuern-Gewinn von knapp drei Milliarden Mark erforderlich, um das angestrebte Ziel zu erreichen.

Ertragsprognosen: Lesen im Kaffeesatz

Siemens-Ertragsprognosen sind - zugegeben - Kaffeesatz-Leserei. Das Unternehmen veröffentlicht keine Spartengewinne. Liest man dennoch im Kaffeesatz, ergibt sich folgendes spekulative Bild:

Verbesserte Erträge in den Bereichen Kommunikationsnetze, Antriebstechnik, Automationstechnik und KWU, Verluste in den Bereichen SNI, Halbleiter, Ostdeutschland und USA, leicht rückläufiger Zinsüberschuß sowie außerordentliche Erträge aus dem Verkauf der Anteile AMD und Comparex. Bei diesem - vermuteten - Szenario errechnet sich unter Zugrundelegung der Vorjahreszahlen ein Gewinn vor Steuern von zirka zwei Milliarden Mark. Demnach würde eine Milliarde Mark vor Steuern fehlen.

Mit Sicherheit wird Siemens das vorausgesagte Ergebnis von 1,6 Milliarden Mark Bilanzgewinn ausweisen. Gespannt darf man sein, auf welchem gestalterischen Weg man ans Ziel gelangt. Mehr dazu nach der Siemens-Pressekonferenz Mitte November. Bis dahin die Aktie meiden.