Quantified Self

Selbstvermessung führt zu Selbsterkennung?

18.07.2017
Von Christoph  Koch
Immer mehr Menschen versuchen, mit „Quantified Self“, auch bekannt als Self-Tracking, Neues über sich selbst herauszufinden.

Es war vor rund zehn Jahren, als die beiden US-Technik-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly in den USA den Begriff von „Quantified Self“ prägten, des quantifizierten Selbst also. Die Idee: Menschen vermessen ihren Alltag mit digitalen Hilfsmitteln und versuchen so, zu tieferen Erkenntnissen über ihr Leben zu gelangen. „Selbsterkenntnis durch Zahlen“, so das klare Motto der Bewegung.

Die Anwendungen sind ganz unterschiedlich: Manche erfassen, wie viele Schritte sie den Tag über zurückgelegt haben, wie viele Stockwerke sie hochgestiegen sind oder welche Nahrungsmittel sie zu sich genommen haben. Andere vermessen ihren Schlaf oder „tracken“ Gesundheitswerte wie Puls, Blutdruck, Blutzuckerspiegel oder den Sauerstoffgehalt in ihrem Blut.

Tracker für alle Fitness- und Sportbegeisterten
Tracker für alle Fitness- und Sportbegeisterten
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Apple, Google und Samsung sind an Bord

In den folgenden Jahren schwappte der Trend auch nach und nach gen Europa. Ende 2011 fand die erste europäische Quantified-Self-Konferenz in Amsterdam statt. Inzwischen treffen sich in zahlreichen deutschen Großstädten die Selbstvermesser und tauschen ihre Ergebnisse und Gedanken aus.

Ihre genaue Zahl lässt sich nicht festlegen, denn die Grenzen sind fließend: Ist jeder, der eine Gesundheits-App installiert hat, sofort ein „Self-Tracker“? Das Interesse an dem Thema – auch jenseits early adopter– wächst jedoch kontinuierlich.

Auch alle großen Technikkonzerne haben sich dem Thema verschrieben: Sei es Apple mit der Gesundheits-App und –Schnittstelle Health, sei es Google mit seiner Plattform Google Fit oder Samsung, wo man unter anderem in einer Partnerschaft mit Nestlé das Thema Selbstvermessung vorantreibt.

Laut den Journalisten Wolf und Kelly sind vier Faktoren für die schnelle Verbreitung von Quantified Self verantwortlich: Zum einen werden die Sensoren, mit denen sich zum Beispiel Bewegungen messen lassen, immer kleiner und billiger. Zum anderen tragen immer mehr Menschen Smartphones bei sich, in denen von einem GPS-Sensor und einem Luftdruck- bis zu einem Beschleunigungsmesser bereits viele Sensoren enthalten sind.

Drittens seien die Menschen durch soziale Netzwerke wie Facebook in den letzten Jahren zunehmend daran gewöhnt worden, private Dinge mit anderen im Netz zu teilen – und die Entwicklung des Cloud Computing schließlich vereinfache die Vernetzung verschiedener Messgeräte sowie die Speicherung und Zusammenführung der Daten.

Ein Beispiel: Ein Self-Tracker kann über seine WLAN-fähige Waage sein Gewicht, seinen Körperfettanteil und seinen Puls messen. Mit einem Armband wie dem Jawbone UP kann er tagsüber seine Aktivität und nachts seine Schlafqualität aufzeichnen, mit Programmen wie RescueTime zusätzlich seine Produktivität am Computer und mit zahlreichen Smartphone-Apps oder Webseiten seine Ernährung. In der Cloud sammelt er seine Daten und wertet sie aus.

Die Gründe, das zu tun, sind individuell sehr unterschiedlich: Bei manchen ist es einfach nur Neugier und der Wunsch, dem diffusen Bauchgefühl einmal knallharte Zahlen gegenüberzustellen. Andere setzen auf eine Verhaltensänderung. Nicht ohne Grund – Studien haben gezeigt, dass Menschen, die einen Schrittzähler benutzen, sich deutlich mehr bewegen als vorher. Nicht umsonst lautet ein altes Sprichwort: „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.“

Zusammenhänge erkennen, Verhalten ändern

Die vielleicht spannendste Möglichkeit ist jedoch, durch Quantified Self neue Zusammenhänge zu entdecken, indem man verschiedene Datenreihen miteinander verknüpft: Wie beeinflusst meine Ernährung meine Schlafqualität? Wie beeinflusst meine Schlafqualität wiederum meine sportlichen Leistungen oder meine berufliche Produktivität?

Manchmal mögen die Erkenntnisse banal sein, doch einige Self-Tracker haben durch diese Miniversuchsreihen bereits Probleme wie Schlafstörungen oder Migräne in den Griff bekommen - mit Verhaltensänderung statt mit Medikamenten.

Kritiker bemängeln neben dem Placebo-Effekt, der manch wundersamer Verbesserung zugrunde liegen könnte, vor allem den mangelnden Datenschutz.

Eine stichprobenartige Untersuchung des Bundesverbands der Verbraucherzentralen (VZBV) von Quantified-Self-Apps und –Plattformen ergab, „dass sich die Anbieter in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Datenschutzbestimmungen umfassende Rechte hinsichtlich der Nutzerdaten einräumen“. Einige Anbieter ließen sich beispielsweise die Rechte übertragen, die Nutzerdaten zu Werbezwecken zu verwenden oder an nicht definierte Dritte weiterzugeben.

Viele Self-Tracker lassen sich jedoch von diesen Bedenken nicht verunsichern. Durch Handyortung, Online-Cookies und ähnliches sammeln Firmen wie Google, Amazon und Apple sowieso schon jede Menge Nutzerdaten ein – von der Überwachung durch staatliche Geheimdienste gar nicht zu reden. Durch Quantified Self, so die Argumentation der Befürworter, habe man wenigstens selbst Zugriff auf die eigenen Daten und könne daraus etwas lernen.

Mehr als nur ein Spleen

Das Datensammeln ist außerdem nicht nur ein Zeitvertreib für Hobbyforscher, sondern kann auch finanzielle Ersparnisse bringen: Erste Autoversicherungen bieten bereits Tarife an, bei denen sich der Fahrer eine Telematikbox im Auto installieren lässt, die seine Fahrten auswertet. Wer seltener, vorsichtiger oder kaum nachts fährt – sein Unfallrisiko also reduziert – wird mit einem Beitragsrabatt belohnt.

Ähnliches führen gerade diverse Krankenversicherungen ein, die einen gesunden Lebensstil, regelmäßigen Sport, Treppensteigen oder eine bewusstere Ernährung belohnen könnten. Hier stellt sich allerdings die Frage, wie weit eine solche maßgeschneiderte Lösung und an individuelles Wohlverhalten gekoppelte Belohnungen mit dem Solidar-Gedanken unseres Versicherungssystems vereinbar ist.

Die Quantified-Self-Bewegung mag noch am Anfang stehen und manch einem erscheinen wie der Spleen einiger zwanghafter Egozentriker. Doch das britische Wirtschaftsmagazin The Economist formulierte es kürzlich sehr treffend: „Self-Tracking mag momentan wirken, als sei es nur etwas für Freaks. Aber dasselbe galt einst für E-Mails.“

Was kann Self-Tracking?

• Selbsterkenntnis: Unsere Selbsteinschätzung („Ich ernähre mich doch irgendwie gesund und mache auch viel Sport, na ja manchmal ...“) ist oft trügerisch. Wer sich zumindest eine Zeitlang analytisch beobachtet und sei Leben vermisst, kann viel über sich selbst lernen.

• Motivation: „Wenn du es nicht messen kannst, kannst du es nicht verbessern“, lautet eine alte Weisheit aus dem Management, die auch für unser Leben gilt. Ob im Wettstreit gegen sich selbst oder gegen andere: Self-Tracking kann zu einem gesünderen Leben motivieren.

• Zusammenhänge: Auch wenn nicht alle Erkenntnisse für die breite Masse zutreffen – viele Self-Tracker finden heraus, wie sich bestimmte Dinge wie Ernährung, Schlaf, etc. auf ihre Leistungsfähigkeit und ihr Wohlbefinden auswirken.

• Wunder: Wunder bewirken kann leider keine Software und kein technisches Gerät der Welt. Am Ende kommt es doch immer auf einen selbst an.

Seine eigenen Erfahrungen beschreibt Christoph Koch in seinem e-Book „ Die Vermessung meiner Welt – Geständnisse eines Self-Trackers“, in dem er sich mit den Vor- und Nachteilen des Phänomens Quantified Self auseinandersetzt. (PC-Welt)