Selbstorganisation trifft auf Hierarchie

11.05.2009
Von Wolfgang Sommergut 
Im Web führt offene Zusammenarbeit zu beachtlichen Ergebnissen. In Unternehmen gibt es einige Stolpersteine.

Dank steigender Popularität des Enterprise 2.0 interessieren sich Unternehmen für Tools und Methoden der Zusammenarbeit, die im Internet entstanden sind und dort erfolgreich angewandt werden. Im Gegensatz zu anderen IT-Trends geht es dabei nicht nur um die Einführung neuer Software, sondern auch um kulturelle Veränderungen. Angesichts der großen Faszination, die der OnlineLebensstil gerade auf die Generation der Millennials ausübt, wirken Firmen altmodisch und unattraktiv für junge Talente, wenn sie sich diesem Thema verschließen.

Wie verschiedene Umfragen belegen, erwarten die Verantwortlichen in den Unternehmen von den neuen Arbeitsweisen in der Mehrzahl positive Auswirkungen. So ergab eine Untersuchung des ITK-Verbands Bitkom aus dem Vorjahr, dass 88 Prozent von 387 befragten Firmen der Aussage "Web-2.0-Technologien werden in unserem Unternehmen an Bedeutung gewinnen" grundsätzlich zustimmen. Allerdings sehen nur zehn Prozent für Enterprise 2.0 einen Investitionsschwerpunkt vor.

Unsicherheit und Fehlschläge

Dieses Auseinanderklaffen von mehrheitlich positiven Erwartungen und relativ zurückhaltender Anwendung von Web-2.0-Tools hat mehrere Gründe. Eine Untersuchung von Berlecon Research ergab Ende 2007, dass die befragten Unternehmen den unklaren Nutzen, Sicherheitsrisiken und die fehlende Kontrolle über die von Mitarbeitern publizierten Inhalte als größte Hindernisse erachteten.

Um die Möglichkeiten der im Web genutzten Tools auszuloten, probieren Firmen in der Regel zuerst Wikis und Weblogs aus. Sie sind einfach, leicht einzurichten und in Anwenderkreisen bekannt. Allerdings veröden häufig Wikis, die ohne Beachtung gängiger Empfehlungen eingeführt werden, weil die Mitarbeiter sich nicht daran beteiligen.

Auch Corporate Weblogs leiden oft an einem Glaubwürdigkeitsproblem, wenn sie als reines Marketing-Instrument aufgesetzt werden und nur stark gefilterte, PR-lastige Texte veröffentlichen.

Die Kluft zwischen den positiven Erwartungen und mangelhafter Umsetzung zeigt, dass sich Erfolgsmodelle aus dem Web nicht ohne weiteres auf Unternehmen übertragen lassen. Vor allem die Hoffnung auf unkomplizierte Zusammenarbeit mit einfachen Werkzeugen, die Open-Source-Projekte und Online-Communities vorexerzieren, wird in der Realität der Arbeitswelt oft enttäuscht.

Komplexe Enterprise-Software

Für die ersten Gehversuche setzen Fachabteilungen meistens gängige Web-2.0-Tools wie Wordpress für Blogs oder TWiki und Mediawiki ein. Sobald das Thema Enterprise 2.0 strategischen Charakter erhält, fällt in der Regel die Entscheidung für komplexere Plattformen. Zu den erfolgreichsten unter ihnen zählt Microsoft Sharepoint.

Das System bietet zwar einige integrierte Collaboration-Anwendungen, sein Konzept stammt aber aus der Zeit vor dem Web 2.0. Es beschränkt sich nicht auf Funktionen zur Teamarbeit, sondern integriert eine ganze Palette mehr oder weniger dazu passender Komponenten für Portale, Suche, Formulare, Content-Management und analytische Applikationen. Aber gerade bei den Tools zur Zusammenarbeit zeigen sich Schwächen: Die Module für Blogs und Wikis bleiben hinter den Möglichkeiten der bekannten Stand-alone-Werkzeuge zurück. Mitarbeiter, die privat bloggen oder sich an der Wikipedia beteiligen und eigentlich eine führende Rolle einnehmen könnten, werden damit nicht glücklich.

Das größte Manko von Enterprise-Implementierungen besteht darin, dass sie Web-2.0-Anwendungen in ihrer Reichweite und ihren Möglichkeiten einschränken. Dabei liegt der besondere Nutzen von Social Software gerade darin, Netzwerkeffekte zu erzeugen. Wie der Gebrauchswert eines Telefonsystems mit der Zahl der angeschlossenen Apparate steigt, so profitieren auch Weblogs, Wikis und erst recht soziale Netzwerke von einer möglichst großen Zahl an Teilnehmern. Mit zunehmender Reichweite steigt die Chance, wertvolle Kommentare auf Postings zu erhalten, beispielsweise um ein Problem zu lösen. Je größer die Population in einem sozialen Netzwerk ist, desto mehr Möglichkeiten bestehen, passende Kontakte zu knüpfen. Ähnliches gilt für Metadaten auf Basis von Tags oder Social Voting und Ranking.

Künstliche Beschränkungen

Web-2.0-Tools für das Enterprise finden in der Regel ihre Grenze an der Firmen-Firewall. Für Unternehmen in der Größe der IBM, die mit 400.000 Mitarbeitern der größte Anwender ihrer eigenen Enterprise-2.0-Software "Lotus Connections" ist, mögen sich trotzdem ausreichende Skaleneffekte einstellen. Für den Mittelstand trifft das kaum zu. Die Erfahrungen mit Collaboration-Tools im Web zeigen zudem, dass dort die große Mehrheit Angebote nur konsumiert, eine Minderheit gelegentlich etwas beiträgt und nur eine kleine Gruppe aktiv an einem Projekt mitarbeitet. Selbst große Unternehmen müssen diese 90-9-1-Regel durchbrechen, um Enterprise-2.0-Vorhaben erfolgreich umzusetzen.

Im Unterschied von Privatpersonen, die sich mit Hilfe von Web-Tools für Projekte oder in Online-Communities zusammenschließen, müssen Firmen strengeren rechtlichen Anforderungen und Richtlinien genügen. Allerdings sind die Regeln nicht immer so verfasst, dass sich daraus klare Handlungsanleitungen ableiten lassen. Dies belegt etwa die in vielen Unternehmen herrschende Unsicherheit darüber, welche digitalen Informationen tatsächlich archiviert werden müssen.

Für Anbieter von Enterprise-Content-Management-Software (ECM) ist das Thema Compliance daher ein willkommenes Verkaufsargument, das bei Bedarf mit drastischen Beispielen aus der (amerikanischen) Rechtsprechung gestützt wird. Bei der Einführung von Collaboration-Tools aus dem Web 2.0 stellen sich viele Verantwortliche die Frage, welche rechtlichen Pflichten etwa mit der Nutzung von Wikis oder Weblogs einhergehen. Als noch problematischer erweist es sich, wenn Mitarbeiter Dienste aus dem öffentlichen Web in der Arbeit einsetzen, etwa soziale Netzwerk wie Xing oder den Microblogging-Service Twitter.

Bookmarks ins Content-Repository

Die überall lauernden Compliance-Konflikte tragen dazu bei, die Reichweite von Social Software möglichst auf das Firmennetz einzuschränken. Opentext beispielsweise kommt Anwendern in diesem Anliegen entgegen, indem es unter dem Codenamen "Bloom" Tools entwickelt, die Vorbildern aus dem Web hinsichtlich Bedienung und Anmutung möglichst nachempfunden sind. Sie beruhen aber auf einem komplexen ECM-System und können daher zentral kontrolliert werden. Sogar jedes Bookmark eines Nutzers landet in einem zentralen Repository.

Das Beschneiden von Collaboration-Tools bringt Firmen nicht nur um mögliche Skaleneffekte, sondern läuft dem Konzept des Enterprise 2.0 zuwider, weil dieses durchlässigere Unternehmen voraussetzt, die sich stärker mit Partnern und Kunden vernetzen. Freilich hängt dieser Austausch nicht nur von unabänderlichen Rahmenbedingungen und den Eigenarten von Corporate-Software ab, sondern auch davon, wie weit sich eine Firma öffnen möchte.

Die Definition dessen, was als geheim gilt oder welche Aktivitäten als sicherheitsrelevant eingeschätzt werden, wird zu einem guten Teil von der Unternehmenskultur bestimmt. In der ganzen Debatte um Enterprise 2.0 nimmt dieser Aspekt eine zentrale Position ein und findet oft mehr Aufmerksamkeit als die notwendigen Tools.

Netzwerk oder Hierarchie

Bei der Übernahme von Web-2.0-Prinzipien in Unternehmen geht es aber nicht bloß um Werte und Kulturen oder die Art und Weise des Umgangs miteinander. Vielmehr treffen dabei verschiedene Organisationsformen aufeinander: Die eine ist flach und netzförmig, die andere hierarchisch. Die Aufforderung von Enterprise-2.0-Verfechtern wie Lotus-Chef Bob Picciano, Unternehmen über soziale Netzwerke zu managen statt über Hierarchien, heißt in der Praxis nicht, dass traditionelle Organisationsstrukturen verschwinden. Die formale Autorität der Unternehmensführung gründet weiterhin in den Eigentumsverhältnissen, das Topmanagement agiert im Auftrag der Firmeninhaber.

Auf der anderen Seite steht bei den Vorbildern für das Enterprise 2.0, seien es Open-Source-Projekte oder Online-Communities, das Prinzip der Selbstorganisation im Mittelpunkt. Autorität muss sich dort über Kompetenz und Engagement gegenüber den Teilnehmern legitimieren. Flexible Arbeitsmöglichkeiten, Mitbestimmung, Vertrauen, motivierende Herausforderungen sind die wichtigsten Arbeitsqualitäten. Zwischen den Kooperationsmodellen aus dem Web und jenen der herkömmlichen Firmenorganisation drohen daher Konflikte.

Hybride Organisationsmodelle

Eine Möglichkeit, beide Ansätze zu verbinden, praktiziert die IBM in der Kooperation mit Open-Source-Projekten. Die involvierten Entwickler agieren nach den dort geltenden Spielregeln, während das Unternehmen seine hierarchische Struktur insgesamt beibehält. Dieser hybride Ansatz, der Inseln der Selbstorganisation in die herkömmliche Struktur einbettet, ist auch deshalb wegweisend, weil sich nicht alle Tätigkeiten für das Enterprise 2.0 eignen. Vielmehr bietet es sich vor allem für wissensintensive Arbeiten an.

Die Schaffung solcher Inseln der Selbstorganisation dürfte bei den weniger privilegierten Kollegen den Wunsch nach ähnlichen Arbeitsbedingungen hervorrufen, so dass Unternehmen die Parallelwelten unter einen Hut bekommen müssen. Gleichzeitig gibt es in den Abteilungen, die dem Vorbild des Web 2.0 folgen, auch Verlierer und jene, die sich als solche fühlen. Dazu zählt das mittlere Management, das einer Umfrage der ECM-Organisation AIIM zufolge eine solche Umstellung am wenigsten vorantreibt. Es leidet potenziell unter einem Verlust an Kontrolle und Transparenz. Letztere bedeutet allerdings für alle Web-2.0-Beteiligten eine Umgewöhnung, mit der nicht jeder klarkommt: Ideen und Leistungsfortschritte werden für eine größere Gruppe sichtbar.

Aushöhlung der Firmenorganisation

Klassische hierarchische Organisationsformen zeichnen sich durch einen hohen Koordinations- und Kommunikationsaufwand aus. So genannte Transaktionskosten entstehen, weil Individuen in einen stark arbeitsteiligen Prozess einzubinden sind. Anweisungen des Führungspersonals können dort relativ schnell Ressourcen für gewünschte Aktivitäten mobilisieren. Dies scheint angesichts der Vorteile von Teams, die sich mittels einfacher und allseits verfügbarer Collaboration-Tools selbst organisieren, immer fragwürdiger.

Zur Disposition stehen mit einer Umstellung Richtung Enterprise 2.0 auch scheinbar unverzichtbare Leistungen eines Unternehmens wie das Bereitstellen von Bürogebäuden und Arbeitsmitteln. John Chambers, CEO von Cisco, rief bereits das Ende der firmeneigenen Geräte aus. VMware oder Citrix überlassen es ihren Angestellten, welchen Rechner sie erwerben möchten. Flexible Arbeitsmodelle reduzieren den Bedarf an Büros.

Vieles deutet darauf hin, dass sich Unternehmen, die immaterielle Güter produzieren, kontinuierlich dem Modell von Online-Communities nähern. Dabei können sie nicht nur von diesen Vorbildern profitieren, sondern müssen auch mit ihrer Konkurrenz rechnen. Wer hätte noch vor einigen Jahren gedacht, dass lose organisierte Individuen über das Web nicht nur komplexe Betriebssysteme und aufwändige Enzyklopädien entwickeln, sondern auch den Banken das Kerngeschäft des Geldverleihs streitig machen könnten?

Nicht für die freie Wildbahn geeignet

Software für das Enterprise 2.0 ist teilweise durch die Art der Implementierung beschränkt, etwa wenn sie an ein internes Directory gebunden ist. Dann können externen Benutzern keine Rechte erteilt werden, ohne für sie ein internes Konto anzulegen. In anderen Fällen ist das Design der Produkte von der Annahme geprägt, dass sie in der relativ geschützten Umgebung des Firmennetzes laufen.

  • So verfügen etwa unter Microsoft Sharepoint eingerichtete Blogs über keinen Filter, der sie gegen maschinell erzeugten Kommentar-Spam schützt. Es gibt zwar Behelfsmaßnahmen, mit denen sich die größte Flut abwehren lässt, sie beschränken aber den Komfort des Besuchers und würden für die ohnehin nicht unterstützten Trackbacks nicht ausreichen.

  • Ein weiteres Beispiel ist das Rechte-Management von Lotus Connections. Bei einer Installation im öffentlichen Internet kann ein Benutzer zwar sein Blog für jeden Besucher öffnen, aber gleichzeitig nicht verhindern, dass seine persönliche Profilseite allgemein einsehbar ist.

Preis der Geheimniskrämerei

Viele Softwarehäuser würden wohl den Verlust wichtiger Geschäftsgeheimnisse fürchten, wenn jemand frühzeitig die geplanten Funktionen der nächsten Produktversion nach außen trüge. Die Softwareschmiede Atlassian hingegen veröffentlicht diese Pläne vorab auf ihrer Website. Der Hersteller nimmt in Kauf, dass die Konkurrenz von Anfang an über seine Absichten Bescheid weiß, weil ihm die Rückmeldung und die Anregungen der Kunden wichtiger erscheinen.