Im Hinblick auf die Entscheidung im Kartellverfahren gegen Big Blue

SEAS: EG-Votum gegen IBM schadet Anwendern

13.07.1984

MÜNCHEN - Schweres Geschütz fährt die Share European Association (SEAS) gegen die allgemein erwartete negative Entscheidung der EG-Kommission im Fall IBM auf: Man habe guten Grund zu der Annahme, daß die Brüsseler Beamten versucht hätten, die Stellungnahme der Benutzerorganisation im Kartellverfahren gegen den Marktführer herauszuhalten, heißt es in einem Schreiben der SEAS an die COMPUTERWOCHE. Die User-Group hatte bei der EG-Kommission nachdrücklich betont, daß IBM bei einem ungünstigen Ausgang des Verfahrens Maßnahmen ergreifen könnte, die zu Lasten der Anwender gehen.

Zum Nachweis, daß "SEAS technisch orientierte Ansichten erarbeitet hat, die sich von den bürokratischen Absichten der Behörde deutlich unterscheiden", hat Hagen Hultzsch, Leiter des Rechenzentrums der Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) in Darmstadt und SEAS-Präsident, die gesamte Korrespondenz seiner Organisation mit der EG-Kommission an die Wirtschafts- und Fachpresse in Europa und den USA weitergeleitet. Daraus geht hervor, daß sich die SEAS zum ersten Mal Ende Juni vergangenen Jahres im Fall IBM nach Brüssel gewandt hatte - gut zweieinhalb Jahre nach der Eröffnung der Untersuchung am 19. Dezember 1980.

Hultzsch bat im Auftrag der mehr als 300 Mitglieder von SEAS um eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse der Kommission und der weiteren geplanten Maßnahmen gegen Big Blue. Das Schreiben schloß mit dem Angebot, dazu Stellung zu nehmen.

Der zuständige Direktor in der Generaldirektion Wettbewerb bei der Kommission, John Ferry, griff den Ball auf und schickte einen ausführlichen achtteiligen Fragenkatalog nach Darmstadt. Außerdem wurde ein Treffen in Darmstadt bei der GSI vereinbart. An dem Gedankenaustausch am 1. September letzten Jahres nahmen neben Hultzsch das SEAS-Board-Mitglied Jens Lynge sowie als Protokollführer Hans-Jürgen Lustig von der GSI teil, für die Kommission waren Colin Overbury, Raymond Dumey und Fin Lomholt anwesend.

Das Protokoll vermerkt als erstes, daß die SEAS von der Kommission als

"Interested Party" im Rahmen des Verfahrens anerkannt wird (der CW-Redaktion vorliegenden Korrespondenz findet sich allerdings keinerlei schriftliche Bestätigung der Kommission zu diesem Punkt).

Im Mittelpunkt des Gesprächs standen jedoch drei Punkte aus der Liste der Vorwürfe gegen IBM. Die Frage der angemessenen und rechtzeitigen Offenlegung der Schnittstellen, die Frage nach der Mindestgröße des Hauptspeichers, den der Anwender zusammen mit der CPU kaufen muß, sowie die Frage nach der Softwareunterstützung von IBM, insbesondere deren Bundling der Grundsoftware sowie der Politik des "Object Code Only". (Anmerkung der Redaktion: Dieser Punkt war weder Bestandteil des Verfahrens gegen Big Blue noch des Fragenkatalogs an die SEAS.) Dabei stellten die Vertreter der EG-Kommission fest, daß ihr im Februar 1983 erarbeitetes und IBM vorgelegtes Maßnahmenbündel zur Beilegung der Untersuchung dem SEAS-Vorstand bekannt war. Dieser hatte eine Durchschrift von IBM erhalten.

Problem: Offenlegen der Schnittstellen

Kernpunkt dieses "Proposal of Remedies" war, daß die IBM zum Zeitpunkt einer Produktankündigung oder kurz danach die entsprechenden Schnittstellenspezifikationen offenlegen soll. Dies jedoch, so vermerkt das Protokoll, gebe SEAS Anlaß zu besonderer Besorgnis; es könne IBM möglicherweise dazu veranlassen, neue Produkte erst dann anzukündigen, wenn sie auch verfügbar seien. Das wiederum sei sehr nachteilig für die IBM-Anwender, die frühzeitig Informationen über neue Produkte brauchten, um ihre Planungen auch langfristig anlegen zu können.

Schnittstelleninformationen als solche seien für den User nicht notwendig, wohl aber sei er betroffen von den möglichen Maßnahmen der EG und deren Auswirkungen auf die Marketingpolitik von IBM; dies sei schwer vorhersehbar.

Die Befürchtungen der SEAS-Repräsentanten wurden von den drei EG-Beamten offenbar ernst genommen; die Kommission - so wieder der Protokollvermerk - sei besonders daran interessiert, wie die User-Group das "Was" und das "Wann" bei der Offenlegung der Schnittstellen beurteile. Auf Bitte der Brüsseler wurde abschließend Vertraulichkeit gegenüber Außenstehenden vereinbart, wobei allerdings IBM in diesem Kontext nicht als außenstehend galt.

Auch John Ferry griff in seinem Brief die von SEAS geäußerte Sorge über eine für die Anwender möglicherweise negative Reaktion der IBM auf die Maßnahmen der Kommission auf. Da dies eine sehr wichtige Überlegung sei, bat er die SEAS, dies ausführlich in ihrer schriftlichen Stellungnahme zu erläutern.

Mit Datum vom 20. Oktober gingen die Antworten der SEAS nach Brüssel - insgesamt umfaßt das Statement sechseinhalb Seiten. Im Zentrum der Argumentation steht wiederum die mögliche Reaktion des Marktführers: Sofern die Offenlegung der Schnittstellenspezifikation zu Verzögerungen bei der Ankündigung von Produkten oder zu einer Verlangsamung technischer Innovationen führe, wäre dies für die Anwender höchst nachteilig.

Außerdem hingen auch die Ankündigungen von PCM-Produkten in hohem Maße von denen der IBM ab. Jede Maßnahme, die den Marktführer dazu zwingen würde, den Zeitraum zwischen Announcement und Auslieferung zu verkürzen, verzögere auch die Verfügbarkeit von PCM-Produkten. Dies liege nicht im Interesse von SEAS.

Der SEAS-Präsident schloß sein Schreiben mit der Hoffnung, daß es gelungen sei, folgende Ansichten seiner Organisation klar dargestellt zu haben:

"1. Wir befürchten, daß eine mögliche Konsequenz der von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen sein wird, daß die Produktankündigungen später erfolgen und somit zu finanziellem Schaden unserer Mitglieder führen.

2. Wir betrachten IBMs derzeitige Geschäftspraktiken nicht als unnormal und unakzeptabel in einem wettbewerbsintensiven Markt".

User-Group warnt EG neuerlich

Anfang Februar dieses Jahres und dann wieder im Mai wandte sich Hultzsch neuerlich an die Kommission. Presseberichten zufolge erwäge Brüssel offensichtlich, gegen IBM vorzugehen, die SEAS wolle daher nochmals nachdrücklich auf die Interessen der Anwender hinweisen. Im übrigen bedauerte Hultzsch, daß der begonnene Dialog mit der Kommission seit dem 20. Oktober abgerissen sei.

Mitte Juni kam die Antwort der EG. Darin heißt es unter anderem, die Stellungnahme der SEAS habe "wertvolle Erkenntnisse" enthalten und man habe sie in die Überlegung zum Fall IBM einbezogen. Sollte es zu einer formalen Entscheidung kommen, so würden die Meinungen von SEAS auch angemessen in Betracht gezogen.

Daraufhin beendete Hultzsch mit einem letzten Schreiben vom 4. Juli die Korrespondenz mit Brüssel. SEAS habe unter der Bedingung auf die Fragen der Kommission geantwortet, daß man von der EG als "Third Party" anerkannt werde. Da das letzte Schreiben vom Juni keinerlei aussagekräftige Stellungnahme darüber enthalte, welchen Beitrag die SEAS im Hinblick auf die Untersuchungen der EG geleistet habe, habe der Vorstand beschlossen, die gesamte Korrespondenz der Presse zur Veröffentlichung freizugeben.

Auch CUA beklagt sich über Brüssel

Bemerkenswerterweise ist die Share European Association nicht die einzige Anwendervereinigung, die die Presse einschaltete. So berichtet der englische Branchendienst "lnfomatics", daß sich die IBM UK Computer User Association (CUA) offen beklagt habe, daß die EG-Kommission ein CUA-Schreiben zum Fall IBM bisher nicht beantwortet habe. Von Brüssel um eine Stellungnahme gebeten, habe die User Group die Empfehlung abgegeben, das Verfahren einzustellen, da die "Einführung der vorgeschlagenen Maßnahmen schädlich für die Interessen der englischen IBM-Anwender sei". CUA-Präsident Roger Dale habe sogar die Vermutung angestellt, die Kommission halte Informationen über die tatsächliche Meinung der User zurück.

Wie es scheint, haben alle von der Generaldirektion Wettbewerb der EG-Kommission angesprochenen Anwendervereinigungen dafür plädiert, das Verfahren gegen IBM einzustellen. Indiz dafür ist ein Interview, das die COMPUTERWORLD Mitte Juni mit John Akers geführt hat, dem bei Big Blue verantwortlichen Senior Vice President für den Bereich Europa/Naher Osten/Afrika. Auf das EG-Verfahren angesprochen, meinte Akers unter anderem: "Die Kommission argumentiert, daß wir den Markt dominieren und diese Dominanz dazu zu mißbrauchen, daß wir die notwendigen enormen technischen Informationen nicht zum Nutzen unserer Mitbewerber zu dem Zeitpunkt verfügbar machen, zu dem wir ein Produkt ankündigen beziehungsweise kurze Zeit danach.

Es ist wichtig, daran zu erinnern, daß kein Anwender in der Europäischen Gemeinschaft Beschwerde geführt hat und auch kein Wettbewerber in der EG. Die einzigen, die geklagt haben, sind Memorex und Amdahl, und das sind diejenigen, die vor den Gerichten in den USA verloren haben. Wir haben unseren Anwendern immer die notwendigen Informationen im großen Umfang zugänglich gemacht, denn das ist in ihrem ureigensten Interesse und daher auch in unserem."