Scrum: Abschied von der Hierarchie

15.06.2012
Agile Softwareentwicklung erfordert eine Kultur des Vertrauens und Mut, neue Dinge auszuprobieren. In einer meist unübersichtlichen Projektumgebung braucht es für den Erfolg ein durchdachtes Herangehen.

Scrum als agiles Vorgehensmodell in der Produktentwicklung hält Einzug in Konzerne und in den Mittelstand. "Der Vorteil liegt vor allem in der Flexibilität, mit der die Projektbeteiligten auf Änderungen reagieren können", lobt IT-Projektcoach Marcus Raitner von der Evolving Systems Consulting Group (ESC Solutions). Der Diplominformatiker und Partner bei ESC nennt aber auch gleich den Nachteil: "Der Umfang eines Softwareprojekts ist wachsweich formuliert, was insbesondere bei Festpreisprojekten eine Herausforderung darstellt." Neben den rein monetären Aspekten seien jedoch auch grundsätzliche Klippen zu umschiffen, bevor die agile Softwareentwicklung greifen könne.

"Beim Einsatz agiler Methoden wie Scrum muss man sich vom Hierarchie- und Rollendenken verabschieden", gibt Manfred Schlaucher, Projektleiter beim IT-Spezialisten Pentasys, zu bedenken. Erforderlich sei eine Kultur des Vertrauens ebenso wie der Mut, neue Dinge auszuprobieren. Dazu gehöre auch das Aufbrechen alter Strukturen im Management und in der Belegschaft.

Auch bei Scrum zählt Erfahrung

Allerdings sagten Zertifizierungen zum Certified Scrum Master oder Professional Scrum Master nur wenig aus, wenn es dar-um gehe, ein passendes Team jenseits der klassischen Muster zusammenzustellen. "Derartige Zertifikate täuschen darüber hinweg, dass man nach so einem Training zwar fahren gelernt hat, aber noch lange kein guter und sicherer Fahrer ist", betont Scrum-Coach Alexander Kriegisch.

Im Klartext: Nur mit einem Schnellkurs geschulte "Scrum-Frischlinge" eignen sich kaum für wichtige Projekte. Die würden wohl weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Nach Einschätzung von Kriegisch funktioniert die Methode Scrum zwar am besten mit eng miteinander kooperierenden Teams. Sie eigne sich aber auch für verteilte Projektgruppen, sofern sich die Entfernung mit technischen Hilfsmitteln überbrücken lässt.

Scrum in verteilten Teams

Um die räumliche Distanz zu überbrücken reicht die Abstimmung via E-Mail, Telefon oder Voice Chat jedoch nicht aus, um das Projektteam auf Tuchfühlung zu halten. "Die fortlaufend enge, auch persönliche Rückkoppelung der Beteiligten ist zwingend notwendig, wenn Scrum funktionieren soll", gibt Kriegisch zu bedenken. Generell aber habe auch ein verteiltes Team gute Chancen, mit Scrum produktiv zu arbeiten.

Der Scrum-Master bringt die Unterschiede zur klassischen Projektorganisation auf den Punkt: "Was bringt es, wenn ein Team fähig ist, iterativ-inkrementell Software zu bauen, aber die Spezifikation nach wie vor nur einmal zu Projektbeginn vom Auftraggeber über den Zaun geworfen wird, dieser sich ein halbes Jahr nicht mehr meldet und am Ende das fertige Produkt sehen will?"

Kleine Unternehmen im Vorteil

Im Vorteil sind mit Scrum nach Einschätzung von Experten kleinere Unternehmen, die ihre Verhältnisse rasch umgestalten können. Denn dort sind die Entscheidungswege ohnehin kurz, weil es niedrige administrative und technische Hürden gibt und die interne Infrastruktur überschaubar ausfällt.(kf)

Lothar Lochmaier ist freier Journalist in Berlin.

Welche Gründe für eine Scrum-Einführung sprechen

Belastbare allgemeingültige Studien zu Vor- und Nachteilen von Projekt-Management-Methoden sind aufgrund der großen Unterschiede zwischen den Projekten kaum zu erwarten. Doch punktuelle Vergleiche lohnen sich. Die Auswertungen von Scrum-Erfinder Jeff Sutherland haben aufgezeigt, dass bei einer klassischen Function-Point-Analyse ein Scrum-Team das Mehrfache an Produktivität bei gleichem Geschäftswert und geringerer Fehlerrate sowie einer deutlich kleineren Zahl von Codezeilen erzielte. Ein verteiltes Team kann in bestimmten Szenarien gleichwertige oder bessere Resultate als eine klassische Projektgruppe erwirtschaften.

Als weitere Argumente werden genannt:

Höhere Geschwindigkeit und Produktivität des Teams mit zunehmender Adaption des Scrum-Rahmenwerks.

Stärkere Motivation der Mitarbeiter - weil diese mehr entscheiden, aber auch regelmäßig Rechenschaft über das Geleistete ablegen. So hat jeder mehr direkte Verantwortung und kann sich nicht hinter einem Teamleiter verstecken.

Mehr Transparenz: Fehler fallen aufgrund der häufigen Reportings früher auf. Eine entsprechend positive Fehlerkultur ist eine fixe Größe bei Scrum. Das Vorgehen zielt deshalb nicht darauf ab, Fehler zu vermeiden, sondern sie "so billig wie möglich zu machen‚Äù.

Beteiligte und Kunden erhalten eine direkte Steuerungshoheit über die Projekte: Sie können das Projekt fachlich aktiv steuern, ohne sich technisch in der Tiefe mit jedem Projektdetail auseinanderzusetzen. Der enge Kontakt zum Team, die kurzen Feedback-Zyklen und die klare Priorisierung der Anforderungen machen den Fortschritt für alle Beteiligten nachvollziehbar.

Kein Orakel in der Projektkalkulation: Auftraggeber und Auftragnehmer verfügen gerade zu Beginn des Projekts über keine gläserne Kristallkugel, um alle Anforderungen, Aufwände und sonstigen Eventualitäten vorauszusehen. Via Scrum lässt sich auf Basis der vorliegenden Informationen "rollierend" planen, verfeinern und anpassen.

Mehr Investitionsschutz für die Investoren: Die Wertbildung in Scrum geschieht nicht erst am Ende der gesamten Projektphase. Dadurch lassen sich Inves-titionen gezielter steuern und so eine niedrigere Kapitalbindung herstellen.

Quelle: Alexander Kriegisch, Scrum Master

Mister Spex: "Die Scrum-Einführung hat sich bezahlt gemacht"

Thilo Hardt, IT-Chef von Mister Spex, einem Online-Shop für Markenbrillen, erläutert, was er sich von Scrum verspricht.

CW: Welche Strategien schlagen Sie ein, um das Arbeiten in den zwangsläufig immer mehr verteilten und dezentral organisierten Teams erfolgreich zu bewältigen?

HARDT: Aufgrund des schnellen Wachstums in den ersten Jahren war die Priorisierung bei der Softwareentwicklung unerlässlich. Bei der agilen Projekt-Management-Methode Scrum ist genau dies die Grundlage. Also haben wir auf diese Methode umgestellt. Software lässt sich so in kurzen Intervallen liefern, wodurch sich die Planbarkeit und die Erwartungen deutlich verbessern.

CW: Welche Kosten-Nutzen-Bilanz bietet die agile Softwareentwicklung denn grundsätzlich?

HARDT: Nach einer relativ aufwendigen Einführungsphase, bei der wir mit einer externen Beratung zusammengearbeitet haben, hat sich die Einführung der Methode schnell bezahlt gemacht. Wir planen jetzt zuverlässig sechs bis zwölf Monate im Voraus, wohingegen es vorher nur für wenige Wochen verlässlich möglich war.

CW: Wie profitieren Mitarbeiter, Partner und Kunden vom projektorientierten Arbeiten jenseits der klassischen Hierarchien?

HARDT: Die Mitarbeiter profitieren von einer selbstbestimmten Arbeitsweise mit Eigenverantwortung und ohne klassische hierarchische Strukturen. Die Entwickler arbeiten nicht auf ein finales Resultat am Ende eines langen Entwicklungszeitraums hin, sondern stellen in kurzen Abständen Resultate vor, was sowohl für den Entwickler als auch für den Auftraggeber zufriedenstellend ist.