Schulung muss ueber Wissensvermittlung hinausgehen Wichtigstes Lernziel ist eine bessere Handlungskompetenz

13.10.1995

Nicht die technische Ausstattung als solche, sondern erst der wirksame Einsatz von DV verbessert die Wettbewerbsfaehigkeit von Unternehmen. Fuer Schulung und Weiterbildung ergeben sich daraus neue Anforderungen, mit denen sich Lothar Hofmann* befasst.

Von Qualifikation erwarten die Anwender immer staerker einen direkten Beitrag zum persoenlichen und unternehmerischen Erfolg. Deshalb darf der Preis nicht nur fuer eine auf den Klassenraum beschraenkte Einzelleistung berechnet, sondern er muss als Wertschoepfung fuer den Prozess vereinbart werden. Schulung ist nicht mehr Sache des Bildungssystems, sondern individuelle, unternehmerische und gesellschaftliche Verantwortung.

Unabhaengige Marktforschungsinstitute kommen immer wieder zu denselben Ergebnissen: Wettbewerbsfaehigkeit und Vorsprung im Markt hat nur der, der unter Einsatz der richtigen DV-Werkzeuge seine Ressourcen am besten nutzt. Deshalb hat bei vielen Anwendern auch ein Umdenken eingesetzt. Intelligente Arbeitsplaetze brauchen hochqualifizierte Mitarbeiter, und es genuegt nicht, die Informationstechnik gut bedienen zu koennen, sondern es geht darum, mit Hilfe der Datenverarbeitung insgesamt produktiver zu arbeiten. Damit ruecken qualifizierte Anwender in den Mittelpunkt. Die Datenverarbeitung ist nicht laenger eine Sache von Experten fuer Experten, sondern Service fuer alle Unternehmensbereiche. Ploetzlich zaehlen fuer die DV-Spezialisten nicht mehr nur ihre Fachkenntnisse, sondern zunehmend auch die Kompetenz, bestimmte Anwendergruppen an diesem Know-how teilhaben zu lassen.

Noch immer gibt es gerade im Bereich der neuen Technologien viele Beispiele, wo Investitionen nicht den erwarteten Return on investment bringen. Die haeufigste Diagnose: Vorbehalte und Barrieren bei den Mitarbeitern sowie fehlende Einbeziehung der Betroffenen seitens des Managements fuehren zu mangelnder Vorbereitung und Qualifikation und schliesslich zum Ausbleiben des erwarteten Nutzens und Mehrwerts. Nicht minder erfolglos ist ein Verstaendnis von Qualifizierung, bei dem man erst dann eingreifen will, wenn die Probleme bereits ueberhandgenommen haben. Ein solches Krisen- oder besser Chaos-Management vertraegt sich nicht mit einer systematischen Personalentwicklung und Fuehrung.

Kein Wunder also, dass vielerorts die Unzufriedenheit mit Standardtrainings waechst, sich Unsicherheit breitmacht. Zu oft steht die Funktionalitaet der Hard- und Software noch im Vordergrund und weniger die Anwendung im realen Arbeitsprozess, noch immer wird eine allgemeine Wissensvermittlung geboten und nicht eine Kompetenzentwicklung nach spezifischem Bedarf. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass mit Investitionen in die Technik lediglich die Hilfsmittel bereitgestellt sind, die sich aber erst dann rentieren, wenn sie auch richtig genutzt werden. Fallen die Investitionen in die Kompetenz- und Qualifikationsentwicklung zu karg aus, kann das laengerfristig teuer werden.

Lernen ist mehr als Informationsaufnahme

Weiterbildung muss sich immer daran messen lassen, ob sie zur Erreichung der gesteckten Unternehmensziele beitragen kann. Auf der anderen Seite aber sorgen Unternehmen, wenn sie in die Datenverarbeitung investieren, meist sehr gruendlich vor, um die Verfuegbarkeit ihrer Technik zu garantieren und zu optimieren. Sie sichern sich durch Wartungsvertraege ab, treffen Vorkehrungen fuer alle nur denkbaren Stoerfaktoren. Das Mass aller Dinge ist eine 100prozentige Verfuegbarkeit der Technik. Fehlerhafte oder unqualifizierte Nutzung ist zwar allerorten ein Fakt, wird aber ignoriert.

Darf es uns wundern, wenn Bildung, Schulung und Umschulung meist in passiver Ausdrucksweise beschrieben werden? Man laesst sich umschulen, Schulung und Lernen werden passiv aufgenommen und konsumiert. Der Schueler, der Lerner ist niemals Produzent, seine Aktivitaet beschraenkt sich darauf, das zu wiederholen, was andere vorgemacht haben.

Lernen im besseren Sinn ist aber mehr als Informationsaufnahme. Individuelles Lernen muss eine individuelle (Verhaltens- )Veraenderung ausloesen, Lernen in Gruppen muss Veraenderungen in der Gruppe ausloesen - das Vehikel dafuer ist die Information und die Kommunikation, der Erfolgsfaktor aber die Didaktik und die Methodik - ob auf klassischem Weg oder unterstuetzt mit neuen Lehr- und Lernformen.

Ganz praktisch laesst sich der Erfolg des Lernens in der Umsetzung, in den Faehigkeiten und Fertigkeiten der Mitarbeiter in der Praxis, bei der Bewaeltigung einer neuen oder erweiterten Arbeitsaufgabe erkennen. Solche Bildungsziele brauchen andere Lernwege, solche Qualifikationen brauchen flankierende Massnahmen durch den Vorgesetzten und durch Beratung. Dabei muessen eventuell anfallende Transferprobleme im Lern- und Arbeitsprozess behandelt werden. Damit ergeben sich immer auch Anregungen fuer ein lernfreundliches Klima, fuer Ideen und Verbesserungen.

Ein elementares Bildungsziel ist gerade in Zeiten knapper Ressourcen eine moeglichst gute Bildungsoekonomie, eine moeglichst hohe Produktivitaet der Qualifizierungsmassnahmen. In den vergangenen Jahren haben wir gelernt, wie wir unsere Arbeitsleistung um ein Vielfaches produktiver gestalten koennen. Wir haben es aber bisher versaeumt, auch unsere Lern- und Bildungsleistung zu steigern - das Verhaeltnis von Lern- und Arbeitsphasen belegt das.

Natuerlich ist dieser Vergleich nicht ganz statthaft, aber die Frage stellt sich dennoch: Mit welchen Lehr- und Lernformen koennen wir den veraenderten Realitaeten besser gerecht werden? Der Handlungsbedarf steht ausser Frage. Ziel kann und soll es nicht sein, mit Multimedia, mit Computer Based Training (CBT) die traditionellen Bildungsformen zu ersetzen.

Muss Theorie immer vor der Praxis stehen?

Effiziente Lernformen fuer Seminare mit hohem Praxisanteil oder verhaltensorientierten Trainings sehen anders aus als fuer die Vermittlung von Grundlagenwissen, fuer die Einarbeitung in neue Themenfelder.

Wie stellt sich die Realitaet aber heute dar? Mit Qualifizierungsoffensiven werden Bildungsstaetten angehalten, ihr Angebot an Lehrgaengen und an Umschulungsmassnahmen zu erweitern. Mit viel Kreativitaet generieren Bildungstraeger aus immer gleichen Modulen immer neue "Berufsprofile", die mit staatlicher Subventionierung und vorbei an den Arbeitsmarkterfordernissen die Probleme nur verlagern. Eine Verschulung der Qualifizierung soll, kann aber nicht die Loesung bringen.

Ueberspitzt formuliert: Die Art der Massnahmen, die zu den Problemen gefuehrt haben, entsprechen denen, die man jetzt wieder einsetzt, um das Problem loesen zu wollen. Muss es wirklich so sein, dass eine Gesellschaft, die deutliche Merkmale der Verschulung aufweist, versucht, ihr Problem durch immer mehr Schule zu loesen? Muss es wirklich so sein, dass wir Lernen immer als Schule organisieren? Wird es nicht hoechste Zeit, alte Denkmodelle abzuschuetteln und Selbstverstaendlichkeiten in Frage zu stellen? Kann die Qualifikation einer Arbeitskraft heute noch auf dem Nachweis schulischer Leistung beruhen? Kann es gut sein, dass Theorie und Praxis raeumlich und zeitlich soweit getrennt sind? Muss Theorie immer vor der Praxis stehen? Ist Lernen wirklich primaer Angelegenheit jedes einzelnen - also individuell? Ist Lernen in Gruppen, in Organisationen etwa deshalb nicht erwuenscht, weil damit ueber die unmittelbaren Lerninhalte hinaus Veraenderungen einhergehen?

Der Marsch in die Sackgasse

Generell darf der Fokus bei allen Bildungs- und Qualifizierungsmassnahmen nicht so dominant auf der Vermittlung von Wissen liegen, sondern der Transfer hin zum Koennen, zum Tun, also zu einer umfassenden Handlungskompetenz sollte staerker in den Mittelpunkt ruecken.

Als waeren es Naturgesetze, so starr marschiert man vielerorts immer weiter in die Sackgasse ueberkommener Schulungskonzepte, die schon heute mehr Probleme als Loesungen bringen. Was sind die Alternativen? Wo muss das neue Denken ansetzen?

Die Qualifikation eines Menschen ergibt sich aus seinem Wissen und Koennen. Sie muss sich auf konkrete Anforderungen beziehen. Theorie und Praxis, Denken und Handeln sind immer unmittelbar verknuepfte Dimensionen des Lebens und damit des Lernens. Eine kuenstliche Trennung dieser Einheiten fuehrt zu Transfer- und Motivationsproblemen. Lernen ist ein Phaenomen des Lebens. Es betrifft das Individuum, ebenso aber Organisationen, Gesellschaften und Kulturen. Wer sich dem Lernen entzieht, faellt zurueck, entzieht sich jeder Entwicklung.

Lernen vollzieht in der Arbeit und in der Freizeit. Es bezieht sich immer auf die momentane Situation. Fremdeinwirkung kann hier anregen, Orientierung und Unterstuetzung bieten. Diese Annahmen bedeuten keine Absage an Schule und Verschulung, sie orientieren sich aber bewusst am ganzen Menschen und unterstuetzen die Integration und nicht die Differenzierung, den Taylorismus. Ziel ist also nicht eine Umkehr oder eine Rueckkehr zu frueheren Werthaltungen, sondern eine kritische Analyse der Staerken und Schwaechen.

Das Unternehmen Deutschland darf sich im Schluesselfeld Qualifikation nicht mit Mittelmass begnuegen. Ein ambitionierter ganzheitlicher Ansatz laesst sich in traditionsverhafteten Einrichtungen ebenso realisieren wie in innovativen. Immer dort, wo ein Unternehmen sich durch "neue Unternehmungen" auszeichnet, sich den inneren und aeusseren Wandel zunutze macht, da kommt es nicht umhin, ganzheitliches Lernen zu organisieren, denn fuer buerokratisches Verschulen bleibt kein Raum. Ueberall dort, wo unplanbare Ereignisse nicht als Stoerung oder Fehler bestraft, sondern als Anregung empfunden werden, wachsen Innovationen und entwickelt sich charakteristisches Unternehmertum. Zu oft werden aber Begriffe wie "Lernende Organisation" zusammen mit blossen Worthuelsen gebraucht. Eine lernende Organisation muss sich nicht mit "Business Re-Engineering", "Lean Management" oder was Trendsetter und Berater sonst in den naechsten Jahren zum Credo erheben, abgeben.

Der technologische Fortschritt und in seinem Sog tiefgreifende Veraenderungen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft lassen keine Zeit fuer Einzelmassnahmen. Veraenderungen in dieser Groessenklasse koennen nicht mehr nur in kognitiven Lernprozessen bewaeltigt werden, notwendig sind umfassende Konzepte im Bereich der Personal- und Organisationsentwicklung.

Schulisches Lernen braucht Verwaltung und schafft Buerokratie, arbeitsbegleitendes Lernen braucht eine qualifizierte Unterstuetzung - am besten von aussen. Das Profil eines entsprechenden Experten ist die Summe aus Projektleiter, Didaktiker, Moderator und Coach. Er begleitet das Kernteam, das die einzelnen Schritte definiert und realisiert. Er braucht die Potenz, Widerstaende zu ueberwinden und Konflikte zu loesen. Er muss gewaehrleisten, dass die Verschlankung nicht mit dem Instrumentarium einer Verwaltungbuerokratie versucht wird. Als Moderator und Coach stellt er sicher, dass Pioniergeist, Aufbruchstimmung und Neuorientierung von innen kommen und von allen mitgetragen werden. Kundenorientierung in der Weiterbildung besteht in ihrer ganzen Vielfalt nicht nur aus Seminaren, Kursen und Lehrgaengen.

Es sind in der Regel heute Dienstleistungspakete mit Einweisungen, Workshops, Seminaren, Lernprogrammen und Fachgespraechen fuer unterschiedliche und genau beschriebene Bedarfsgruppen. Angeleitet durch "Lernexperten", sichtbar mitgetragen von der Unternehmensleitung und unterstuetzt vor Ort, gelingt die Integration von Lernen und Arbeiten. Gemeinsames Vorgehen, regelmaessiges Feedback und eine konsequente Zielorientierung macht dieses arbeitsbegleitende Lernen zu einem Lernen durch Problemloesen, zu einem Lernen aus Erfahrung, zu einem entdeckenden Lernen, zu einem Lernen durch Einsicht, zu einem "praktischen Lernen". Es motiviert und macht Freude, es wirkt ansteckend.

Das Dilemma ist, dass sehr viele Unternehmen diesen Handlungsbedarf erkannt haben, Beharrungsvermoegen und die Verteidigung des Bestehenden den Auf- und Umbruch jedoch verzoegern und verteuern. Der Handlungsdruck, die Prozesse und Technologien den veraenderten Geschaeftszielen anzupassen mit dem Ziel, den Wandel zu initiieren, die Neuorientierung zu gestalten und Wandel als permanenten Prozess zu bewerten, steigt spuerbar. Dennoch koennen Prozesse und Technologien immer nur Werkzeuge sein, es sind einzig und allein die Mitarbeiter, die durch die optimale Nutzung dieser Hilfsmittel den Mehrwert im Wettbewerb, also den Erfolg, erst erreichen koennen.

In funktionalen Strukturen genuegte es, wenn die Mitarbeiter funktionieren und Technik bedienen konnten. Fuer eine Prozessorientierung und immer oefter fuer die Realisierung individueller Kundenprojekte sind solche Mitarbeiter nicht geruestet, hier sind weiterreichende Faehigkeiten notwendig.

Wir haben heute eine groteske Situation. Die Schulabschluesse weisen einen immer hoeheren Bildungsstand aus, die Erstausbildungen dauern immer laenger und die Umschulungen werden immer teurer; gleichzeitig sehen die Unternehmen immer groessere Schwierigkeiten, wie ihre Mitarbeiter mit der technologischen Entwicklung Schritt halten beziehungsweise diese selbst vorantreiben und innovativ nutzen koennen.

Aehnlich wie sich historisch gewachsene, tayloristisch gepraegte Unternehmen heute neu orientieren und organisieren, muss jetzt unsere hochdifferenzierte und -spezialisierte Gesellschaft und Verwaltung umdenken. Denn die Verschulung, die Delegation von Lernen, die bewusste Trennung von Arbeitszeit und Lernzeit, von Theorie und Praxis kann nur immer hoeher spezialisierte "Absolvierer" produzieren, sie erschwert integrative und kreative Loesungswege. Qualifikation fuer Veraenderungen, Handlungs- und Problemloesungskompetenz sind langfristig vermutlich die groessten Herausforderungen fuer unsere Gesellschaft und Volkswirtschaft. Wenn es unsere Verantwortungstraeger wirklich ernst meinen mit der Bedeutung des Standortvorteils Qualifikation, dann muessen sie hier auch Verantwortung uebernehmen und zwar nicht nur fuer die Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Lehrstellen. Es ist doch bezeichnend, dass selten nach der Perspektive und der Zukunftsorientierung dieser Stellen gefragt wird. Das Thema Qualifikation hat viele Facetten und muss deshalb als gemeinsame Aufgabe unserer Gesellschaft begriffen und auf viele Schultern verteilt werden.

*Dr. Lothar Hofmann ist Leiter Geschaeftsfeld Qualifizierungsprojekte bei der IBM Bildungsgesellschaft und erster Vorsitzender der Open Training Association (OTA).