Grenzen von Standardsoftware/Die Erleichterung des Arbeitsablaufs ist das vorrangige Ziel

Schuhproduzent läßt sich Standard-SW zuschneiden

30.05.1997

Was bewegt ein Systemhaus dazu, elf Jahre Produktion und Vertrieb von Standardlösungen den Rücken zu kehren und 1996 mit der Entwicklung einer völlig neuen Komplettlösung für die Industrie zu beginnen?

Unzählige Softwarepakete mit Universal- oder Branchenausprägung sind derzeit am Markt verfügbar, nahezu jede beliebige Preisklasse kann bedient werden, jede Hardware- und Betriebssystem-Plattform ist erreichbar. Dazu kommen deutlich negative Signale aus dem Zielmarkt. Teilbetriebsverlagerungen in Billiglohnländer, Betriebsschließungen oder gar Konkurs sind in deutschen Landen an der Tagesordnung.

Erscheint es angesichts dieser Umfeldparameter nicht gewagt, eine millionenteure Neuentwicklung zu starten, die mindestens genauso hohe Investitionen an Marketing- und Vertriebskosten nach sich zieht? CAI, ein Systemhaus in Rimpar bei Würzburg, ist diesen Weg gegangen.

Langjährige IT-Erfahrung hat gezeigt, daß Standardsoftwaresysteme heute die Anforderungen ausgefeilter Unternehmensorganisationen und vielfältiger Ausprägungen in Vertrieb und Fertigung nur noch bis zu einem gewissen Grad abdecken können. Um sich im immer härteren Wettbewerb Unternehmensvorteile zu sichern, bedarf es einer effizienten und individuellen Informationslogistik. Letztendlich entscheidet sie, wie erfolgreich ein Unternehmen seine Möglichkeiten wahrnehmen und seine internen Stärken im Wettbewerb ausspielen kann.

Oberste Priorität hat die Abbildung der firmenspezifischen Geschäftsprozesse in der Software. Mit den heutigen Standardsystemen - meist typische Lösungen "von der Stange" - ist das häufig nicht ausreichend möglich. Denn weder unterscheiden sie sich vom branchenüblichen "Einerlei", das auch die Konkurrenz einsetzt, noch decken sie die betriebstypischen Funktionen ab, die gerade einen wertvollen Wettbewerbsvorteil ausmachen würden.

Auch sind bei modernen Organisationsformen die Abläufe in den Betrieben nicht starr. Sie lassen sich nicht auf einige wenige immer wiederkehrende Programmschritte reduzieren. Heute müssen Mitarbeiter unterschiedliche und vielschichtige Tätigkeiten im schnellen Wechsel ausführen. Komplexe Lösungen sind hier arbeitshemmend. Alles kein Problem für Individualsysteme? Aber auch der Anwenderfreundlichkeit dieser klassischen "Maßanzüge" sind in der Praxis Grenzen gesetzt, in der Regel dann, wenn es um Kosten- und Betreuungsfragen geht.

Neben den betriebswirtschaftlichen Aspekten stellt sich vom informationstechnologischen Standpunkt die Frage nach der Benutzerfreundlichkeit der aktuellen kommerziellen Anwendungen. Grafische Benutzeroberflächen erlauben zwar unzählige Spielereien, aber wo liegt zum Beispiel der unmittelbare Nutzen bei der täglichen Auftragserfassung, wenn der Sachbearbeiter mit wenigen Mausklicks die Farbe seines Bildschirms modifizieren kann? Oder wie effizient ist für die Buchhalterin die leichte Änderbarkeit der Schriftarten? Die entscheidenden Fragen sollten vielmehr lauten:

- Wie ist ein Kundenstammsatz oder eine Stückliste anzulegen?

- Wie effizient lassen sich offene Posten ausgleichen?

- Warum sind bei der Stammdatenanlage bereits bei Projektstart unsinnig viele Felder zu erfassen?

Die Beispiele zeigen deutlich, daß man bestehende Software nicht einfach nur mit einem grafischen Vorsatz aufwerten kann. Die Interaktion mit dem Benutzer muß hinterfragt, Abläufe und Bedienschritte berücksichtigt werden. Die Fähigkeit, sich ständig wechselnden Geschäftsprozessen anzupassen, stellt für die am Markt gegenwärtig verfügbaren Standardsysteme meist eine kaum überwindbare Hürde dar. Meist werden hier nur Bedienereingaben simuliert, die die mangelnde Flexibilität kaschieren sollen.

Wiedererkennungseffekte sollten aus entwicklungstechnischer Sicht eine vordergründige Rolle spielen und daher die Vielfalt der eingesetzten grafischen Elemente nicht zum Ausufern bringen. Zudem muß der einzelne Software-Entwickler diese Elemente effektiv einsetzen. Die Anzahl der Kopien von Fertigungspapieren mit einem Schieberegler (Slider) einzugeben, ist nicht sehr sinnvoll. In einem Dialogfenster offene Bestellungen anzuzeigen, die sich per Mausklick auswählen lassen, geben einem Mitarbeiter im Wareneingang eine effiziente Arbeitshilfe. Ziel muß immer die Erleichterung des Arbeitsablaufs sein.

Die Austauschbarkeit von Komponenten ist eine weitere Anforderung an moderne IT-Systeme. Die Industrie baut immer mehr die eigene Fertigungstiefe ab. Die Software-Industrie kann darauf nicht antizyklisch reagieren und weiter alles selbst herstellen. Sie muß ebenfalls versuchen, durch Zukauf von Lösungselementen Geschwindigkeits- und Kostenvorteile bei der Software-Erstellung zu erzielen. Die konsequente Anwendung der objektorientierten Programmiersprache "Smalltalk" beispielsweise bildet hierfür die Grundlage. Softwareprodukte, die gängige objektorientierte Standards einhalten (zum Beispiel Corba), lassen sich einfach integrieren. Diese Baukastentechnologie führt auch dazu, daß Lösungen immer wieder neu kombinierbar sind. Der Maßanzug "Individualsoftware" mit den Kostenvorteilen von Standardsoftware wird durch diese Techniken Wirklichkeit. Auch veränderte Geschäftsprozesse sind durch eine Neuordnung der Lösungselemente leichter zu bewältigen als in klassischen Lösungen.

Effiziente Software-Entwicklung muß auf die Wiederverwendbarkeit von Komponenten achten. Bei Analyse und Design sollte der kleinste gemeinsame Nenner Ziel sein. Mit den objektorientierten Techniken lassen sich hier außergewöhnlich gute Ergebnisse erzielen. So gibt es für die Darstellung in einer Baumstruktur zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten. Beispiele sind Stücklisten, Menüstrukturen, Organisationseinheiten etc. Wird hier geschickt auf Wiederverwendbarkeit geachtet, kann die Software-Entwicklung davon nur profitieren.

Ähnliche Ansprüche stellt auch der international agierende Schuhfabrikant Rieker an seine neue IT-Lösung. Rieker fertigt täglich an europäischen und außereuropäischen Produktionsstätten 30 000 Paar Schuhe und vertreibt diese in fast allen europäischen Ländern, den Vereinigten Staaten und im arabischen Raum.

Aufbauend auf einer "individualisierten Standardlösung" entwickelte CAI das Rieker-Logistik-Netzwerk, ein Informationsservice, der Waren und Werteflüsse zwischen 20 Standorten in mehreren Ländern steuert und überwacht sowie eine einfache Anbindung neuer Niederlassungen gewährleistet.

Basis des Logistik-Netzwerks sind die Bereiche Einkauf, Vertrieb, Lager und PPS - Bausteine des CAI-Baukastens, dessen Geschäftsprozesse sich detailliert abbilden lassen. Dazu war eine komplette Neustrukturierung des bislang eingesetzten DV-Umfelds erforderlich.

Bei Rieker war man sich darüber im klaren, daß der Markt keine Standardlösung bieten konnte, die den umfangreichen Ansprüchen gerecht würde. Gesucht wurde daher ein flexibles und kostengünstiges DV-System als verläßliche Grundlage für eine firmenspezifische Lösung.

Ausschlaggebend waren ein betriebswirtschaftlicher Kern und die entsprechende Softwaretechnologie, um auf diese Weise eine langfristige Investitionssicherheit zu gewährleisten. Seit Oktober 1996 befinden sich die ersten Teilabschnitte des Projekts im Echtlauf. Dazu gehören Bestandsführung und -bewertung von Material, Transportlogistik für verschiedene Standorte, Transportbewertung und Inventurabwicklung. Im nächsten Schritt wird die Vertriebsabwicklung analysiert.

Für mehrere Länder ist ferner eine Online-Vernetzung über Satellit mit durchgehender EDI-Anbindung aller Standorte des Unternehmens im Aufbau. Der gesamte Projektverlauf sieht eine Dauer von drei Jahren vor.

Rieker ist ein Beispiel unter vielen. Dem zukünftigen Anwender wird die Struktur, das heißt die Überladenheit heutiger DV-Systeme im Verhältnis zum Nutzen bald nicht mehr zu vermitteln sein. Gefragt sind Systeme, die einfach zu bedienen und einzuführen sind und vor allem effizient arbeiten. Mehr und mehr werden Anwender ihre individuellen Stärken in den Mittelpunkt rücken und Systeme suchen, die ihren Anforderungen gerecht werden, ohne im Kostenaufwand der zeitintensiven Anpassungsprogrammierung oder im hohen Beratungsaufwand unterzugehen.

ANGEKLICKT

Soviel Standardsoftware wie möglich, soviel Individualsoftware wie nötig; nach diesem Motto ließ sich der in Deutschland, Europa, den USA und im arabischen Raum agierende Schuhproduzent Rieker ein Softwaregebäude bauen, in dem sich Geschäftsführung und Belegschaft jetzt wohlzufühlen scheinen. "Architekt" war das Würzburger Systemhaus CAI.

*Karl-Heinz Immoor ist Geschäftsführer der RDG-Rieker Dienstleistungs GmbH in Tuttlingen.