Niedrige Telecom-Gebühren begünstigen Entstehung von Call-Centern

Schottlands neue Spezialitäten kommen aus dem Silicon Glen

06.12.1996

Schottland macht sich mehr und mehr einen Namen als moderner Industriestandort in Europa: Einer Studie des Roland Berger Forschungsinstituts zufolge plant jedes zehnte Unternehmen, das bereits Investitionen in Europa getätigt hat, auch in Schottland zu investieren. Eine Schlüsselrolle bei der Erschließung des Standorts im Norden Großbritanniens spielt die staatliche Wirtschaftsförderungsgesellschaft "Locate in Scotland" (LIS), die die meisten ausländischen Investoren berät.

Im Geschäftsjahr 1995/96 gelang es LIS eigenen Angaben zufolge, 10136 Arbeitsplätze zu schaffen. Die Arbeitslosenrate lag in Schottland im Januar 1996 mit 7,9 Prozent nur noch geringfügig höher als im Rest Großbritan- niens. Als neue Kernbereiche der schottischen Wirtschaft haben dabei die Elektronikindustrie, der Maschinen- und Anlagenbau sowie der Software- und Dienstleistungssektor die traditionelle Schiffbau- und Stahlindustrie schon lange verdrängt.

Besonders schnell wächst die Anzahl von Call-Centern. Gegenwärtig arbeiten in diesem Bereich 10000 Menschen, bis zum Jahr 2003 sollen es nach Angaben von LIS 40000 bis 50000 sein. Hohe Akzeptanz von Teilzeit- und Schichtarbeit, niedrige Löhne sowie geringe Telekommunika- tionskosten lassen das Land - zumindest für potentielle Arbeitgeber - wie ein Paradies für diesen Wirtschaftszweig erscheinen.

Kaffee über die Tastatur gekippt - kein Problem

Eine dem Zeitgeist entsprechende Branche noch dazu, denn Call-Center sollen bekanntlich einen schnellen, wirksamen Kontakt zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden am Telefon herstellen. Anstatt wie bisher von einer nicht zuständigen Stelle zur anderen weitergereicht zu werden, erwartet den Anrufer ein für den Kundendienst geschulter Gesprächspartner. Nur wenn sich das Problem hartnäckig gegen eine Lösung sperrt, wird es "eskaliert" - will heißen: an einen Spezialisten weitergegeben.

Eine dieser Einrichtungen, das paneuropäische Help-Center von IBM in Greenock, beantwortet Anfragen von Computernutzern mit ganz alltäglichen Problemen, die also etwa die Bedienungsanleitung nicht gelesen oder Kaffee über die Tastatur gekippt haben - aber auch komplexere Fragen kleinerer Unternehmen zu PCs und der Software der Company. Weniger alltäglich war indes, wie die schottischen IBM-Mitarbeiter berichten, der Anruf eines in Tränen aufgelösten neunjährigen Jungen, der das digitale Spiel seines Vaters beschädigt hatte: Er erhielt von IBM ein neues Gerät und die Anleitung, wie er die entsprechende Software installieren mußte - sicherlich eine etwas unkonventionelle Werbeaktion.

In Greenock werden 24 Stunden am Tag und an 365 Tagen im Jahr Gespräche aus ganz Europa entgegengenommen. Die Anrufer kostet das allerdings nur den Preis eines Ortsgesprächs. In einem großen Raum, der durch rosa Trennwände in einzelne Arbeitsplätze unterteilt ist, sitzen die Angestellten mit einem Kopfhörer vor Telefon und Computer. Eine gut sichtbare Anzeigetafel dokumentiert die Anrufe, die sich derzeit in der Warteschlange befinden. An jedem Arbeitsplatz markieren Fähnchen, welche Sprachen der dort sitzende "Agent" beherrscht. Mit Hilfe eines entsprechenden Programmes sagt der Rechner ihm oder ihr sofort, ob der Kunde früher schon einmal angerufen hat, zu welchem Problem und mit welchem Ergebnis. Als Software kommen in Greenock Lotus Notes und verschiedene Datenbanken zum Einsatz, als Hardware natürlich IBM-Maschinen.

Für den Standort Schottland hat sich das Unternehmen nach Angaben von Paul McNutt, dem Help-Center-Manager in Greenock, wegen der Telecom-Infrastruktur in Großbritannien und der Verfügbarkeit gut ausgebildeter Arbeitskräfte entschieden. Die Liberalisierung des britischen Telecom-Marktes ist bekanntlich schon weiter fortgeschritten als in Deutschland, was sich in niedrigeren Gebühren und besserem Service niederschlägt. Telefongespräche während der üblichen Geschäftszeit, also tagsüber, kosten beispielsweise laut LIS in Schottland nur halb soviel wie in Deutschland. Nach Auskunft von IBM verbinden viele schottische Arbeitskräfte technische und sprachliche Fähigkeiten. Dazu paßt, daß Schottland mit weniger als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Großbritanniens 14 Prozent aller Studienabsolventen in den Bereichen Ingenieurwesen und Maschinenbau stellt. Auch die Zahl der Akademiker überhaupt ist überdurchschnittlich hoch.

Doch zurück zum Thema Call-Center. Im Gegensatz zu IBM setzt der TV-Anbieter British Sky Broadcasting (BSkyB) sein Call-Center auch zur Kundenwerbung ein. Daneben ruft dort an, wer einen Katalog bestellen will, Fragen zur Rechnung hat oder sich als neuer Kunde registrieren lassen möchte. Mit 1800 Beschäftigten und 150000 abgewickelten Telefonanrufen pro Woche betreibt BSkyB das größte Call-Center Europas, die meisten Anrufe fallen in die Weihnachtszeit. "Wir brauchen junge und aggressive Leute, um neue Kunden zu akquirieren", beschreibt Kay Mitchell, Head of Customer Services bei BSkyB, die Anforderungen in Livingston. Am besten geeignet seien oft diejenigen, die schon einmal als Verkäufer den direkten Kundenkontakt kennengelernt haben. Aber auch für Menschen, die mit 15 von der Schule abgegangen sind, biete der Job eine Chance.

Der Blick durch den riesigen Raum des BSkyB-Call-Centers zeigt ein geschäftiges Treiben wie an der Börse: Es ist gerade Schichtwechsel. Die Lautstärke erscheint allerdings erstaunlich gering. Der Saal mit Hunderten von Bildschirmarbeitsplätzen wirkt anfangs auf Neulinge sicher furchteinflößend. Damit sich davon niemand einschüchtern läßt und vereinsamt, ermuntert das Unternehmen einige Mitarbeiter, einen Neuen oder eine Neue in der ersten Zeit an die Hand und mit in die Kantine zu nehmen. "Unser Job ist hart genug. Die Mitarbeiter müssen sich gegenseitig unterstützen", ergänzt Mit- chell. Im Umgang mit den Kunden kann je nach Situation außer Bestimmtheit auch Vertrauen gefragt sein. Wenn jemand sagt, er habe vergessen, die Rechnung zu bezahlen und überweise das Geld sofort, "dann glauben wir das dem Kunden zunächst einmal", bringt Mitchell ein Beispiel.

Lohnkosten unter dem europäischen Durchschnitt

Als Vorteile des Standorts Livingston in Schottland schätzt Jonathan Guthrie, Deputy General Manager & Head of Finance bei BSkyB, zum Beispiel die Nähe zum Flughafen sowie nach Glasgow und Edinburgh, die Verfügbarkeit von Gebäuden, Arbeitskräften und Zuschüssen. Die geringeren Kosten im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gelten als schlagendes Argument. So liegen beispielsweise die Lohnkosten nach Angaben von LIS in Schottland gut 20 Prozent niedriger als der europäische Durchschnitt und fast 50 Prozent niedriger als in West-Deutschland.

Die Call-Center von IBM und BSkyB liegen im Süden von Schottland in der Region um Glasgow und Edinburgh. Dort erstreckt sich das bedeutendste Industriezentrum des Landes, das "Silicon Glen". In der Bezeichnung angelehnt an das Silicon Valley, haben sich hier über 450 Unternehmen aus der Elektronikindustrie und Computerbranche mit rund 55000 Beschäftigten auf einem zirka 105 mal 45 Kilometern großen Gebiet angesiedelt - das ist eine der dichtesten Ansammlungen der High-Tech-Industrie in der Welt.

Anders sieht die Situation in den dünn besiedelten Highlands aus, die von der tiefzerklüfteten Westküste bis an die regengeschütztere Ostküste reichen. Geografisch gilt das Gebiet mit überwiegend ländlichem Charakter als schwierig und kulturell heterogen. Während auf den Shetland-Inseln die Kultur der norwegischen ähnelt, gleicht sie im Südwesten der Highlands eher der irischen.

Trotz denkbar schlechter wirtschaftlicher Voraussetzungen konnte die Abwanderung der Bevölkerung aus den Highlands in die Städte gestoppt werden.

Das ist vor allem der Ölindustrie und dem Unternehmen Highlands and Islands Enterprise (HIE) zu verdanken.

Selbige haben sich für die Entwicklung der nördlichen Region engagiert und bilden insofern ein privates Pendant zur staatlichen LIS. "Wissen, Information und Telekommunikation ist die Zukunft", erwartet David Henderson, der bei HIE für den Bereich Knowledge, Information, Telecommunication (KIT) zuständig ist. 80 Prozent der Bevölkerung in den Highlands verfügen bereits über einen Anschluß an digitale Telecom-Dienste.

Ländliche Regionen haben auch positive Seiten, urteilt Henderson. So hält er zum Beispiel die Ausbildung dort für überdurchschnittlich gut. Außerdem wechseln die Menschen auf dem Land nicht so oft ihren Arbeitsplatz. "Der Klassenkampf ist hier nicht ausgetragen worden: Die Gleichung ,Der Boß ist der Feind' gilt hier nicht", zählt Hendersen als weiteren Vorteil auf. Die Arbeitsformen in den Highlands umfassen sowohl größere Zusammenschlüsse von Telearbeitern wie zum Beispiel die Highland Telematics Ltd. in Inverness-Shire oder Cap Gemini in Forres bei Inverness als auch Einzelpersonen, die als Übersetzer oder ähnliches tätig sind. In Cap Gemini werden Strafzettel aus London eingescannt, überprüft und auf elektronischem Wege in die Hauptstadt zurückgeschickt.

Das Management-Unternehmen Telematics beschäftigt rund 200 Teleworker, die größtenteils zu Hause arbeiten. Alle Büros und Telearbeiter verfügen über eine Verbindung via E-Mail, Video-Conferencing befindet sich noch im Entwicklungsstadium. Das Unternehmen wirbt für sich mit den geringeren Kosten: keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder im Urlaub, weder Versicherungs- noch Pensionskosten fallen an, da die Beschäftigten auf selbständiger Basis arbeiten.

Was für Festangestellte eher eine Art Horrorgemälde ist, erscheint den Betroffenen oft dennoch in einem rosigen Licht, denn sie haben meistens nur die Wahl zwischen einem ungesicherten Arbeitsverhältnis oder überhaupt keiner Arbeit.

Durch die Vergabe von Arbeit an Telearbeiter können Unternehmen Schwankungen in der Auftragslage flexibel ausgleichen. Zum Vorteil ganz anderer Personengruppen übrigens, denn auch behinderten Personen oder Eltern kleiner Kinder ist so die Teilnahme am Erwerbsleben möglich. Die Mitarbeiter setzen sich zu etwa gleichen Teilen aus Männern und Frauen zusammen, wobei die Männer eher technische Aufgaben übernehmen wie zum Beispiel die Konstruktion einer Web-Site, während die Frauen oft als Datentypistinnen beschäftigt sind.

Europäischer Gerichtshof reduzierte die Arbeitszeit

Zu den Kostenvorteilen, die Telematics für sich geltend macht, kommen noch andere Besonderheiten hinzu, die den Standort Schottland für Arbeitgeber, aber nicht unbedingt für dort Beschäftigte attraktiv erscheinen lassen: In Schottland gab es bisher keine gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit pro Woche oder pro Tag. Im Durchschnitt werden laut LIS allerdings nicht mehr als 39 bis 40 Stunden pro Woche gearbeitet. Um den krassesten Fällen von Ausbeutung einen Riegel vor- zuschieben, hat nun der Euro- päische Gerichtshof in Luxemburg entschieden, daß auch das Vereinigte Königreich die EU-Mindestnorm über "Schutz und Gesundheit der Arbeitnehmer" zu achten hat. Danach sollen künftig alle britischen Arbeiter maximal 48 Stunden pro Woche arbeiten müssen (dürfen).

Alles in allem nutzen die Schotten also ihre Stärken und haben ihr Ohr am Puls der Zeit. Man hat mittlerweile mehr als Dudelsack-Folklore und Whiskey zu bieten. Den Projekten liegen gute Ideen zugrunde, allerdings erscheint die Umsetzung vielen Fachleuten oft noch wenig professionell. Um etwa das Know-how bei solchen High-Tech-Dienstleistungen auszubauen, wäre teilweise eine weitere Spezialisierung vorteilhaft. Doch daran hapert es. Bezeichnenderweise lautete die Antwort eines Schotten auf die Frage: "Was machen Sie denn beruflich?" - "Oh, ich mache alles!"