New Normal

Schöne, neue Post-Corona-Welt

Kommentar  22.05.2020
Von 
James Kobielus ist Principal Analyst bei Franconia Research.
Wie werden Regierungen in Zukunft auf eine Pandemie reagieren? Sicher scheint: Eine Public-Health-Infrastruktur auf der Basis von Data Analytics, Künstlicher Intelligenz und Internet of Things wird gesetzt sein.

Eine Pandemie versetzt Gesellschaften weltweit in einen Schockzustand. Die Antworten auf eine solche Krise fallen je nach Gesellschaftsformen, Lebensumständen und Entwicklungsstadien der Länder unterschiedlich aus. Eine große Chance liegt im Einsatz neuester Technologien, doch wird es immer dort heftige Diskussionen geben, wo die persönliche Freiheit der Menschen bedroht ist.

Wie sieht die Post-Corona-Welt aus? Wir wagen einen Blick in die Zukunft der für die Bekämpfung eingesetzten Technik.
Wie sieht die Post-Corona-Welt aus? Wir wagen einen Blick in die Zukunft der für die Bekämpfung eingesetzten Technik.
Foto: saranya33 - shutterstock.com

Um die Ausbreitung einer Pandemie zu verlangsamen, braucht es vor allem schnelle und effektive Maßnahmen. Technisch werden Systeme und Lösungen gebraucht, die Remote Collaboration, kontaktlose Transaktionen sowie den Ersatz diverser manueller Abläufe durch automatisierte, beziehungsweise Robotik-basierte Prozesse ermöglichen.

China als Healthcare-Vorbild

Eine sich schnell ausbreitende, ansteckende Krankheit ist ein Krisenfall, auf den schnelle und klare Antworten gefunden werden müssen. Regierungen und Behörden sind in der Verantwortung, ohne das Vertrauen der Bürger wird es schwierig. An dieser Stelle die Bevölkerung zu stark einbeziehen zu wollen, ist kontraproduktiv. Ein Mangel an zentraler Koordination sorgt für Verwirrung und schafft den idealen Nährboden für panikgetriebene Falschinformationen insbesondere über Social Media. Um im Krisenfall auf allen gesellschaftlichen Ebenen angemessen reagieren zu können, werden jede Menge Daten gebraucht. Ohne Big Data/Analytics schwinden die Chancen, die Krise in den Griff zu bekommen.

Außerdem wird im Krisenfall eine klassische Top-Down-Orchestrierung das Verhalten von öffentlichen, privaten und Non-Profit-Organisationen prägen. Chinas Herangehensweise kann dabei - zumindest von der technischen Seite her - als Blaupause gelten. Im Gegensatz dazu schienen die ersten Reaktionen mancher westlichen Länder, etwa die der USA oder von Großbritannien, zunächst einer weit weniger straffen beziehungsweise gar keiner Organisation zu folgen.

In China indes reagierte die Politik schnell und - dank zentraler politischer Strukturen - mit einem landesweit ausgerollten Krisenmanagement-Programm. Die Behörden verwalteten die teilweise spärlichen Ressourcen, kontrollierten die Ausbreitung der Infektion und versorgten die Menschen mit Informationen bezüglich der Durchführung von Tests und Behandlungsmaßnahmen, aber auch mit Verhaltensregeln in der Quarantäne.

Die technischen Schlüsselelemente der chinesischen Reaktion auf das Coronavirus sind und waren:

  • Self-Service-Gesundheitsscans: Mit Hilfe von Self Service Screening Tools konnten die Menschen selbst herausfinden, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit sie sich das Corona-Virus eingefangen hatten. Dadurch wurden unnötige Krankenhausbesuche auf ein Minimum reduziert, was die Auslastung der Pflegekräfte auf einem erträglichen Maß hielt und gleichzeitig das Risiko weiterer Infektionen senkte. Inzwischen bieten Tencent, Alibaba und weitere Unternehmen medizinische Remote Services über Online-Plattformen an: Patienten konsultieren ihre Ärzte virtuell und entscheiden mit den Medizinern gemeinsam, ob weitere medizinische Checks in einer Klinik oder Praxis notwendig sind.

  • Reichweite durch Community: Chinas Digitalplattformen erlauben freiwilligen Helfern, bei der Verteilung von Hilfsgütern oder der Desinfektion öffentlicher Bereiche mitzuhelfen. Zudem erhalten Bürger einen Gesundheits-QR-Code auf ihr Smartphone, der Aufsichtsbehörden im Zweifel zu relevanten Informationen verhilft - etwa wenn der Besitzer in einem besonders betroffenen Gebiet unterwegs war. Die Aggregierung dieser Daten, die in der westlichen Welt aus Datenschutzgründen kaum umzusetzen wäre, hilft den Chinesen bei der Nachverfolgung von Infektionsketten.

  • Remote-Medizin: Digitale Technologien haben auch dafür gesorgt, dass sich die Healthcare-Profis in China von Anfang an auch über sehr weite Distanzen um COVID-19-Patienten kümmern konnten. Die 5G-Netzwerke im Reich der Mitte wurden etwa dazu genutzt, Krankenhäuser - beispielsweise in Wuhan und in Peking - miteinander zu vernetzen und auf Grundlage geteilter Daten entsprechende Echtzeit-Konsultationen durchzuführen.

  • Lieferketten-Orchestrierung: Mit Hilfe des Internet of Things war es China möglich, die Lieferketten für Produktion, Logistik und Healthcare dynamisch an die durch die Pandemie entstandenen Bedürfnisse anzupassen. So wurde unter anderem auch die Herstellung von Corona-Test-Equipment durch branchenfremde Unternehmen koordiniert. Das gleiche gilt für die Produktion von Desinfektionsmitteln, Schutzmasken und -kleidung.

  • Location Matching: Mit Hilfe von Big Data Analytics und Künstlicher Intelligenz wurde in China ermittelt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine bestimmte Region oder ein Individuum dem Coronavirus ausgesetzt war. Das wurde durch die Korrelation von Smartphone-Daten möglich, die Aufschluss über die Standorte von Infizierten geben. Personen, die ein besonders hohes Infektionsrisiko aufweisen, werden so ermittelt und einem staatlich angeordneten COVID-Test unterzogen.

Die 4 Säulen der neuen Normalität

Auch im benachbarten Taiwan setzte man mit Erfolg auf ein technikgeprägtes Maßnahmenpaket gegen COVID-19. Basierend auf den Erfahrungen der beiden asiatischen Länder lässt sich ableiten, was alle Länder übernehmen sollten, damit eine weltweite Pandemie nicht mehr in diesem Tempo um sich greifen kann. Vier Elemente sind dabei besonders wichtig:

  • Anti-Seuchen-Zentren: Die meisten Länder werden dazu übergehen, Zentren zur Seuchenbekämpfung einzurichten, um Maßnahmen zur Eindämmung optimal zu koordinieren. Dazu dürften Informationen aus Gesundheits-, Einwanderungs-, Zoll-, Telekommunikations- und Reisedatenbanken konsolidiert werden. KI-Algortihmen können helfen, Infektionen zu erkennen, Warnhinweise auszusenden und medizinische Behandlungen zu initiieren. Echtzeit-Streaming-Apps werden zur Überwachung von Hotspots, Landesgrenzen und Häfen zum Einsatz kommen.

  • Quarantäne-Orchestrierung: Künftig werden Gesundheitseinrichtungen Predictive-Analytics-Werkzeuge einsetzen, um die Ausbreitung von Viren zu erkennen und einzudämmen. Community Dashboards stellen den Menschen in den Regionen Realtime-Daten zum Verlauf der Pandemie zur Verfügung, so dass sehr schnell Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung greifen können. Diese und weitere Datenquellen dürften auch den Unternehmen und Organisationen helfen, besser zu planen: Wo sollten Mitarbeiter aus dem Homeoffice arbeiten und wo kann der Betrieb störungsfrei weiterlaufen? Das kann auch dabei helfen, den richtigen Zeitplan für eine Rückkehr ins Büro aufzustellen, auch wenn die Pandemie noch im Gange ist. Solche Entscheidungen lassen sich dann datenbasiert herbeiführen.

  • Social Distancing: Das vielerorts verordnete Abstandsgebot einzuhalten, ist für die Menschen rund um den Globus offenbar schwierig. Denkbar ist, dass auch an dieser Stelle irgendwann künstliche Intelligenz zum Einsatz kommt. Smartphones und Wearables dürften künftig mit Näherungssensoren ausgestattet sein, so dass Echtzeit-Informationen über Gruppenbewegungen verfügbar werden. Computervision-Software könnte bereits jetzt dabei helfen, Menschen in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz oder beim Einkaufen zu überwachen - auch wenn wir das nicht wollen. Echtzeit-fähige KI-Tools, die Menschen bei der Nichteinhaltung von Abstandsregeln im persönlichen Gespräch oder in der Schlange beim Einkaufen aufmerksam machen, dürften künftig wohl zur Grundausstattung vieler Behörden und Geschäfte gehören. Die Nutzungsrate von Machine Learning beziehungsweise Computervision dürfte ebenfalls deutlich steigen.

  • Comprehensive Biosensing: Die COVID-19-Pandemie beschleunigt die IoT-Sensorrevolution und es besteht wenig Zweifel daran, dass die Innovationen die hier entstehen, auch in der öffentlichen Infrastruktur Einzug halten werden. Zum New Normal werden irgendwann wohl auch Biosensoren gehören, die Viren und Erreger in der Luft, am Boden, im Wasser, auf Oberflächen oder auch in menschlichem und tierischem Gewebe feststellen können. Diese Sensoren könnten in Wearables integriert werden, die sich anschließend über soziale Netzwerke miteinander vernetzen lassen.

    Infektionsketten könnten sich so sowohl auf der Basis von Einzelpersonen, als auch wenn es um Gruppen geht (beispielsweise Patienten eines Krankenhauses), wesentlich schneller und einfacher nachvollziehen lassen. Auch KI-basierte Serviceroboter, die in der Öffentlichkeit Symptomtests durchführen, liegen im Bereich des Möglichen. Ebenso wie multimodale KI-Instanzen, die unsere komplette Umgebung überwachen. Nicht allzu utopisch ist hingegen der Einsatz von Thermalscannern, um Infizierte anhand ihrer Körpertemperatur zu erkennen. Diese Praxis dürfte künftig Usus an Flughäfen und Grenzübergängen werden - ebenso wie verpflichtende Tracking Apps auf unseren Mobiltelefonen.

Um diese Vision des New Normal Wirklichkeit werden zu lassen, ist eine umfassende Infrastruktur aus Künstlicher Intelligenz, Cloud Computing, Streaming und Internet of Things nötig. Wird diese als Public-Health-Infrastruktur im Sinne der Allgemeinheit gemanagt, könnte die Menschheit gegenüber künftigen Pandemien besser gewappnet sein. (fm)

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation Infoworld.com.