Schnürsenkel mit Funkchip

10.10.2006
Radiochips machen es möglich: Waren aller Art melden sich inzwischen selbsttätig per Funk an unterschiedlichen Orten entlang der Logistikkette. Der neue digitale Reisepass kann seine Daten drahtlos an die Lesegeräte der Grenzbehörden senden. Aber während Handels- und Logistikunternehmen wegen hoher Investitionen und komplexer IT-Prozessorganisation die Funkschips noch nicht flächendeckend einsetzen, sind sie bei Massensportveranstaltungen schon lange nicht mehr wegzudenken: Bei allen großen Volks- oder Marathonläufen sorgt der Funkchip für die exakte und fehlerfreie Zeitmessung und kann mit intelligenter Software sogar Betrüger entlarven.

Der letzte Berlin-Marathon war ein voller Erfolg: Zwar verfehlte der Sieger Haile Gebrselassie knapp den Weltrekord – aber mit persönlicher Bestleistung. Mit mehr als 40 000 Teilnehmern, einer Million Zuschauern und guter Stimmung an der Strecke blicken die Veranstalter auf einen gelungenen Volkslauf zurück. Unter die Läufer hatten sich indes auch einige Betrüger gemischt: „Wir haben etwa 80 Läufer anhand der Zwischenzeiten identifiziert, bei denen es unmöglich mit rechten Dingen zugegangen sein kann“, sagt Harald Mika, Geschäftsführer des auf Zeitmessung spezialisierten Unternehmens Mika-Timing aus Bergisch Gladbach. „Wenn jemand für die ersten fünf Kilometer 40 Minuten braucht, und dann mit einer Zeit unter drei Stunden ins Ziel kommt, ist das einfach unmöglich.“ Ob die schwarzen Schafe einen Teil der Strecke mit Taxi oder Bus zurückgelegt haben, weiß man nicht. Sicher aber ist, dass sie sich über die Funktionsweise der Zeitmessung nicht im Klaren waren, sonst hätten sie gewusst, dass der Betrug auffliegen muss.

Denn Stoppuhren kommen bei Massenläufen schon lange nicht mehr vor: Jeder Teilnehmer ist mit einem Champion-Chip-Transponder ausgestattet, der sich während des Laufes bei den Antennen der Messpunkte automatisch meldet. Der Läufer bekommt davon kaum etwas mit: Der münzgroße RFID-Chip ist am Schnürsenkel befestigt, die Scan-Station befindet sich in quer über die Strecke gelegten Tartanmatten. „Üblicherweise haben wir bei Marathonläufen alle fünf Kilometer eine Messstation“, sagt Mika. Die Zwischenzeiten der Läufer werden von einer Software erfasst und in einer Datenbank abgelegt.

„Die Läufer legen besonderen Wert darauf, ihre exakten Zwischenzeiten und ihre Nettozeit zu bekommen“, weiß Experte Mika, der nicht nur bei den großen deutschen Marathons dabei ist, sondern auch bei den Volksläufen in Boston, Chicago und New York für die Zeiterfassung sorgt. „Nettozeit“ heißt, dass die Messung den exakten Zeitpunkt des Starts und Zieleinlaufs erfasst. Denn bei einem Marathon mit mehr als 40 000 Teilnehmern ist die persönliche Startzeit den Läufern besonders wichtig. Es können bis zu 30 Minuten vergehen, bis der letzte Läufer die Startlinie überquert hat. Und hier liegt auch ein Problem: „Man braucht wirkliche Hochleistungsscanner, um die Zehntausende von Funksignalen, die besonders beim Start in kurzer Zeit anfallen, fehlerfrei zu erfassen. Wir benutzen deshalb die leistungsfähigsten Erfassungsgeräte, die weltweit verfügbar sind“, sagt Mika.

Auch unter anderen Aspekten stehen die Ansprüche an Mikas IT-Systeme denen in Unternehmen in nichts nach: Echtzeitverarbeitung und Ausfallsicherheit sind auch für die Zeitmessung entscheidend. „Bei großen Läufen liefern wir die Zeiten auch für die Live-Übertragung an das Fernsehen – es wäre eine Katastrophe, wenn das nicht klappte“, weiß Mika. Nicht umsonst gehört er weltweit zu den ersten Adressen, wenn es um Zeitmessung bei Großveranstaltungen geht.

Ausgereifte Technik

Das technische Prinzip ist einfach und ausgereift. Bei der Zeitmessung kommen so genannte „passive“ Chips zum Einsatz, die selbst keine Energiequelle benötigen und meist nur eine eindeutige Identifikationsnummer enthalten. Die persönlichen Daten des Läufers wie Startnummer, Geschlecht, Alter, Adress- und Messdaten werden erst in der Datenbank mit der Chip-ID verknüpft. Ausgelesen wird der Radiochip an den Messstationen. Ein schwaches elektrisches Feld liefert die nötige Energie und stößt gleichzeitig die Transponder an, ihre Daten auf einer Funkfrequenz zu senden. Das Empfangsteil des Scanners nimmt die Daten entgegen und legt sie in einer Datenbank ab.

Im Gegensatz zu den passiven Transpondern übertragen aktive Transponder selbstständig Signale und können teilweise sogar Rechenoperationen durchführen. Mit ihrer eigenen Energiequelle funken sie üblicherweise in einem Umkreis bis zu 30 Metern. Passive Chips – klein und billig

Die Reichweite passiver Chips hingegen liegt in einer Größenordnung von maximal fünf Metern. Sie überzeugen allerdings durch ihre einfache und robuste Bauart, nahezu unbegrenzte Lebensdauer und den niedrigen Preis von wenigen Eurocent. Zudem lassen sie sich fast beliebig verkleinern und sind auch in Folienform verfügbar. So hat etwa der japanische Elektronikkonzern Hitachi den extrem kleinen Mu-Chip entwickelt, der Geldscheine fälschungssicher machen soll. Das österreichische Maut-System nutzt Plaketten mit integriertem Funkchip. Die US-Armee will ihre Soldaten mit einem RFID-Armband ausrüsten und damit die Erkennungsmarke ersetzen.

Aber besonders interessant sind die funkenden Winzlinge für den Handel und das Logistikgewerbe: In der Prozesssteuerung und Lagerhaltung versprechen RFID-Projekte enorme Effizienzpotenziale. Die Studie „RFID-Funkchips“ der „Deutsche Bank Research“ vom Januar dieses Jahres etwa beziffert das Einsparvolumen eines mittelgroßen Siemens-Distributionszentrums auf 500 000 Euro pro Jahr. Nur etwa fünf Prozent dieser Summe würden über niedrigere Personalkosten erreicht. Der Löwenanteil entfiele auf einen geringeren Anteil falsch bepackter Paletten. Auch der Einzelhandel könnte mit positiven Effekten rechnen: Wegen des effizienteren Bestellwesens würde der Kunde nur noch sehr selten vor ausverkauften Regalen stehen. Einer Studie von Soreon Research zufolge entfielen bei der Ersparnis- und Ertragsanalyse 45 Prozent auf den Posten „vermiedene Out-of-Stocks“, 36 Prozent auf vermiedene Diebstähle und 18 Prozent auf effizientere Unternehmensprozesse.

Doch so beeindruckend die einzelnen Beispiele auch sein mögen – es bleiben Insellösungen. Bei Handel und Logistik, wo Experten das größte Potenzial der RFID-Chips sehen, ist der Verbreitungsgrad noch eher gering. Zwar hat die Metro-Group schon 2003 in ihrem „Future Store“ in Rheinberg bei Düsseldorf vorgeführt, dass die RFID-Technologie ausgereift ist und für den Praxiseinsatz taugt. Aber vor allem unternehmensübergreifende Systeme und Anwendungsszenarien sind noch die Ausnahme.

Noch keine globalen Lieferketten

Besonders die Metro-Group entwickelt an vorderster Front RFID-Lösungen und setzt sie bereits in verschiedenen Unternehmensbereichen ein. Flächendeckende Lösungen aber, die entlang der gesamten Logistikkette vom Hersteller über Händler, Spediteur, Frachtlinie und Umschlagsbetrieb bis hin zum Kunden reichen, gibt es bisher kaum. Fehlende internationale Standards, gewaltiger Investitionsbedarf, IT-Integration über Unternehmensgrenzen hinweg, vor allem aber die Reorganisation der komplexen Prozesslandschaft stehen der großflächigen Verbreitung noch entgegen. Sicher ist: Die RFID-Technologie wird die Handels- und Transportbranche grundlegend verändern. Wann das passiert, ist schwer abzuschätzen. Der Einzug von RFID in die globalen Lieferketten ähnelt einem Marathonlauf.