SAP: Man sollte die Kirche im Dorf lassen

27.04.1995

Kurt Striedacher, geschaeftsfuehrender Gesellschafter

des Softwarehauses Kumatronik, Markdorf am Bodensee

Die Jagd ist eroeffnet", hat man den Eindruck, wenn man die derzeitige Berichterstattung ueber den Marktfuehrer SAP liest. Nach den Beitraegen in der CW (siehe beispielsweise Nr. 6 vom 10. Februar 1995, Seite 1 und Nr. 7 vom 17. Februar 1995, Seite 1 und 56) erreichte die Negativpresse ueber das Walldorfer Softwarehaus mit dem Artikel in der "Wirtschaftswoche" Mitte Maerz einen neuen Hoehepunkt.

Obwohl wir als unabhaengiges Software- und Beratungshaus nichts mit SAP oder R/3 zu tun haben, verfolgten wir die Berichterstattung zu Beginn mit grossem Interesse und - zugegeben - auch mit etwas Genugtuung, wurden wir doch in der Vergangenheit selbst mit der beschriebenen Einstellung von DV-Verantwortlichen konfrontiert, die lieber auf Nummer Sicher gingen und beinahe blind SAP waehlten.

Mittlerweile macht uns der frappierende Stimmungsumschwung nachdenklich. Aus dem Vorzeigeunternehmen der deutschen DV-Branche soll nun innerhalb weniger Wochen ein provisionen- und beratungssaetzeabzockender Moloch mit veralteter Softwaretechnologie geworden sein, die Investitionsruinen hinterlaesst? Und muendet fortan jede Zusammenarbeit mit Hardwarepartnern in den Geruch der Vorteilsnahme und Parteilichkeit? Auch wir haben juengst ein Competence Center mit HP gegruendet, ohne unsere faktische und gedankliche Unabhaengigkeit aufgegeben zu haben oder hinter dem Ruecken des Kunden zusaetzliche Vermittlungsprovisionen zu kassieren.

Ohne die genauen Beweggruende der Kritiker im Detail zu kennen, sollte man hier doch etwas mehr auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Oder ist eine objektive Betrachtung, ein Mittelweg zwischen euphorischem Hochjubeln und enthusiastischem Verdammen in unserem Lande nicht mehr moeglich? SAP hat nach wie vor unbestrittene Staerken, sonst haette das Unternehmen seine Position im Markt nicht erreichen koennen. Dies heisst aber keineswegs, dass R/3 in jedem Fall die richtige Loesung sein muss oder dass ein derartig explosionsartiges Unternehmenswachstum ganz ohne Probleme zu verkraften waere. Zu dieser Erkenntnis haette man aber nicht erst kommen koennen, seit man die angeblichen Leichen, die auch andere im Keller haben, nun ploetzlich in den Vordergrund stellt und nur noch auf diese starrt.

Als positiven Effekt dieser Medienkampagne wuenschen wir uns, dass die Entscheidungen fuer die Neueinfuehrung einer DV-Plattform in Zukunft nicht mehr blind mit einem Namen verbunden sind, sondern individuelle Preis-Leistungs-Vergleiche und der Blick in das eigene Pflichtenheft wieder zum alleinigen Massstab fuer Entscheidungen werden. Es gibt hervorragende Loesungen jenseits von Walldorf. Ganz besonders gilt dies fuer den Mittelstand. Hier sind nach unseren Erfahrungen die Anforderungen an eine Standardsoftware doch wesentlich anders als bei Grossunternehmen. Mittelstaendische Unternehmen, die nicht auf eine personell gut ausgestattete DV-Abteilung zurueckgreifen koennen, sind darauf angewiesen, dass die Bedienung beziehungsweise Betreuung einer Softwareplattform moeglichst einfach ist, ohne die Flexibilitaet einzuschraenken.

Hier scheint die Vielzahl von Moeglichkeiten und Optionen von R/3, die sich in einem enormen Quellcode von mehreren Millionen Lines of Code niederschlaegt, viele kleinere Unternehmen zu ueberfordern. In Zeiten, in denen die Schlankheit eines Unternehmens zur Ueberlebensfrage wird, wirken zu komplexe Softprodukte, die im Bereich der Grossunternehmen notwendig und richtig sind, gerade im Mittelstand kontraproduktiv.

Gleiches gilt auch fuer den Support: Der Bedarf an guten Beratern, die sich in solch einem maechtigen System auskennen, drueckt natuerlich auf den Preis, vor allem derzeit, da viele Unternehmen laengerfristig geplante DV-Projekte forcieren. Dies ist eine Gesetzmaessigkeit der Marktwirtschaft, die SAP nicht angekreidet werden kann. Dennoch sind die in einer Anzeige in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" von der SAP genannten durchschnittlichen Beratersaetze von 1750 Mark nach unserer Kenntnis in weiten Bereichen des Mittelstandes kaum durchzusetzen. Jenseits von R/3 wird bei Tagessaetzen ueber 1400 Mark die Luft schon sehr duenn, oder wie ein sueddeutscher Kunde juengst zu uns sagte: "Ich wollte Euch nicht kaufen, sondern brauche nur eine kleine Anpassung."

Die Offensive der Walldorfer wird daher in diesem Markt unserer Einschaetzung nach auf groessere Probleme stossen. Konkurrenzprodukte wie beispielsweise auf den Mittelstand zugeschnittene Systeme sind aufgrund ihres wesentlich guenstigeren Preis-Leistungs- Verhaeltnisses ernsthafte Alternativen. Wenn sich also nach dem Ende der Schlammschlacht eine objektivere Betrachtung des Angebotes an kaufmaennischen Komplettloesungen einstellen sollte, dann haette das derzeitige Spiessrutenlaufen der Walldorfer Kollegen, die mir wegen der in weiten Teilen ueberzogenen Kritik leid tun, fuer die Branche insgesamt positive Auswirkungen.