Henning Kagermann kündigt unter der Enterprise Services Architecture (ESA) modulare Softwarebausteine an

SAP läutet eine neue Software-Ära ein

21.05.2004
SAP hat auf der Sapphire 2004 in New Orleans den Weg in ein neues Softwarezeitalter eingeschlagen. Rund um die Integrationsplattform "Netweaver" sollen Tausende von "Enterprise Services" entstehen, mit denen die Anwender einzelne Geschäftsprozesse auf der IT-Seite verankern können. An das Web-Services-Paradies, in dem Anwender Applikationen aller Art zusammenschalten können, will SAP-Chef Henning Kagermann jedoch nicht glauben.

"Start now! Es gibt keinen Grund, zu zögern." Mit diesem Appell an seine Klientel, den Wechsel auf die neue "Enterprise Services Architecture" (ESA) zügig anzugehen, beendete SAP-Chef Henning Kagermann seine Eröffnungs-Keynote zur diesjährigen Kundenveranstaltung Sapphire 2004. Zuvor versuchte der teilweise fahrig wirkende Firmenlenker, seine über 7000 Zuhörer im Morial Convention Center in New Orleans, Louisiana, von den Vorzügen der neuen Architektur zu überzeugen.

Die Software soll modularer werden

SAP plant, im Rahmen der ESA-Initiative seine Software künftig stärker zu modularisieren. Das Zentrum bildet dabei die Integrationsplattform Netweaver, über die sich die einzelnen SAP-Bausteine sowie Applikationen von Drittanbietern verknüpfen lassen sollen. Unter Enterprise Services verstehen die badischen Softwerker betriebswirtschaftliche Prozesse, die sich durch einzelne Softwaremodule abbilden lassen. Mit Hilfe eines "Enterprise Service Repository" soll eine Sammlung von Prozessbeschreibungen angelegt werden. Dieses Repository für das Servicemodell entspricht den Beschreibungen von Datenmodellen aus der Client-Server-Architektur. Allen SAP- und Nicht-SAP-Anwendungen sollen die Definitionen dieser Abstraktionsschicht transparent sein. Damit die verschiedenen Anwendungen reibungslos über Netweaver kommunizieren können, müssen die entsprechenden Schnittstellen auf Basis der Web-Services-Standards vereinheitlicht und offen gehalten werden, fordert das SAP-Modell.

Den ganz großen Applaus erntete Kagermann für seine Darlegungen jedoch nicht. Mitreißende Reden seien nicht Sache des Nachfolgers von Hasso Plattner, urteilten anwesende Analysten: "Kagermann ist einfach kein Vertriebler." Auch haben in den vergangenen Monaten Gerüchte und Spekulationen über die künftige Produkt- und Entwicklungsstrategie SAPs sowie damit verbundene Migrationsfragen die Kunden des Öfteren verunsichert. Um weiteren Irritationen vorzubeugen, hat Kagermann erstmals eine Roadmap für die im vergangenen Jahr gestartete ESA-Kampagne bekannt gegeben. Demnach will man bis Ende 2004 ein Inventar verschiedener Enterprise Services zusammenstellen und dieses nach Kundenbedürfnissen gewichten. Bis Ende 2005 soll das Enterprise Service Repository entwickelt werden. Im darauf folgenden Jahr will SAP diese Sammlung von Prozessbeschreibungen praxistauglich machen. Bis Ende 2007 soll dann die gesamte Mysap-Business-Suite ESA-fähig sein.

"Der Übergang von der Client-Server-Welt zu ESA bedeutet einen Paradigmenwechsel", verkündete SAP-Vorstand Peter Zencke. Die Kunden würden damit einen neuen Grad an Flexibilität gewinnen. Im Grunde könne heute niemand mehr sicher sein, ob die Prozesse, die er mit seinen IT-Lösungen stützen muss, in wenigen Jahren noch die gleichen sein werden.

Auch Applikationen von Drittanbietern sollen sich mit Hilfe von Netweaver in der neuen SAP-Welt verankern lassen. Ob diese Integration reibungslos funktionieren wird, bleibt jedoch abzuwarten. Es werde keinen Baukasten geben, aus dem sich die Anwender nach Lego-Manier bedienen können, um sich ihre Mission-critical-Umgebungen zusammenzubasteln, schränkt Kagermann ein. "Das wird ein Traum bleiben." SAP-Vorstand Claus Heinrich geht davon aus, dass auch künftig rund 80 Prozent der Softwarelandschaft eines Kunden als Grundgerüst von einem einzelnen Anbieter stammen werden.

Analysten: Kunden werden abwarten

SAP lässt sich die neue Softwarewelt einiges kosten. Rund die Hälfte des Entwicklungsetats soll in den nächsten Jahren in das ESA-Projekt fließen. Wann sich diese Investitionen auszahlen, ist indes ungewiss. Nils Niehörster, Chef des Beratungsunternehmens Raad Consult, geht nicht davon aus, dass die Kunden schnell auf die neue Architektur wechseln werden. Viele würden erst einmal abwarten, wie sich ESA in den nächsten Jahren entwickle. Unter dem Gesichtspunkt der Investitions- und Planungssicherheit sei es aber an der Zeit gewesen, dass SAP eine Roadmap präsentiert habe. Allerdings habe er damit gerechnet, dass der Hersteller bereits weiter sei: "Im Grunde sind das die ersten Schritte im Markt."

SAP verspricht schrittweise Migration

Die SAP-Verantwortlichen wollen ihre Kunden behutsam in das neue Zeitalter führen. Der Wechsel auf die ESA-Architektur sei ein evolutionärer Prozess, erläuterte Kagermann. "Wir werden niemanden zur Migration zwingen." Außerdem dürfe man nicht vergessen, dass viele Kunden nach wie vor R/3 im Einsatz hätten und damit zufrieden seien. SAP will die Anwender schrittweise von ESA überzeugen. So soll sich die Architektur langsam von Prozess zu Prozess implementieren lassen.

Es werde für die Anwender künftig beispielsweise einfacher, unternehmensspezifische Anpassungen zu implementieren, erläutert Zencke. Mit Hilfe der offenen und standardisierten Schnittstellen zur Integrationsplattform Netweaver sei es gelungen, ein altes Problem zu lösen. Früher hätten die Kunden ihre SAP-Software modifiziert und damit aktuelle Defizite behoben. Komplikationen tauchten aber in aller Regel dann auf, wenn es daran ging, diese angepasste Lösung auf ein neues Release zu migrieren, räumt Zencke ein. Mit der sauberen Trennung durch über Release-Wechsel hinweg standardisierte Schnittstellen sei künftig jedoch sichergestellt, dass Erweiterungen auch auf neuen Versionen liefen.

Für Administratoren dürfte die SAP-Welt kaum einfacher werden, vermutet dagegen Niehörster. Statt aufwändiger Migrationsprojekte in größeren Zeitabständen drohe mit dem ständigen Einspielen von Servicemodulen ein kontinuierlicher Strom vieler kleiner Release-Wechsel. Wie mühsam diese seien, werde davon abhängen, ob SAP die standardisierten Schnittstellen kontrollieren kann. Niehörster bezweifelt jedoch, dass SAP die zu erwartenden sehr vielen Web-Services im Griff behalten wird.

Mit der Definition der Services steht SAP vor keiner leichten Aufgabe, räumt Heinrich ein: "Wenn es auf einmal Hunderttausende sind, haben wir ein Problem." SAP müsse in diesem Zusammenhang eine gewisse Führungsrolle übernehmen. Um einem möglichen Wildwuchs vorzubeugen, werde das Unternehmen eine ESA-Zertifizierung einführen. Ob sich die wachsende Entwicklergemeinde für jedes neue ESA-Modul einen SAP-Stempel holt, sei jedoch fraglich, prognostiziert Niehörster.

Neue Freundschaft mit Microsoft

Zudem dürfte sich die Zahl der Entwickler im SAP-Umfeld mit der ebenfalls zur Sapphire verkündeten Kooperation mit Microsoft deutlich erhöhen. Beide Softwareanbieter wollen künftig enger kooperieren, um die Interoperabilität zwischen SAPs Netweaver- und Microsofts .NET-Plattform sicherzustellen. Neben der gegenseitigen Lizenzierung von Patenten sollen die Microsoft-Anhänger in der weltweiten Entwicklergemeinde über ein Software Development Kit (SDK) die Möglichkeit bekommen, Erweiterungen für SAP-Lösungen zu programmieren.

Branchenbeobachter monieren, dass SAP in Sachen Microsoft einen kaum berechenbaren Schlingerkurs fahre. Nachdem die Walldorfer lange Jahre mit dem US-amerikanischen Konzern kooperiert hatten, kühlte sich das Verhältnis ab der Jahrtausendwende merklich ab. Der wachsende Wettbewerb zwischen beiden Unternehmen, den SAP mit seinem Engagement im Infrastrukturbereich und Microsoft mit dem Kauf der Applikationsanbieter Great Plains und Navision anheizte, sei dafür verantwortlich gewesen.

Den plötzlichen Schmusekurs begründen beide Seiten mit den Forderungen der Kunden, die auf eine verbesserte Integration beider Softwarewelten drängten. Rund 40 000 SAP-Installationen würden weltweit auf Microsoft-Plattformen laufen, gab Microsofts Chief Software Architect Bill Gates in einer Videoeinspielung während der Kagerman-Rede bekannt. Rund zwei Drittel aller SAP-Neuinstallationen würden unter einem Windows-Betriebssystem eingerichtet. Den seit Jahren wachsenden Wettbewerb versuchten beide Seiten herunterzuspielen. Konkurrenz gebe es nur in eng begrenzten Marktsegmenten. Zu dieser Aussage passt jedoch nicht so recht, dass SAP vor kurzem Microsoft erstmals in seine Peergroup der engsten Wettbewerber aufgenommen hat. Hier vergleichen die Walldorfer jedes Quartal ihre Marktanteile mit denen der schärfsten Konkurrenten.

"Natürlich gibt es einen Wettbewerb bei den Infrastrukturplattformen", räumt Zencke ein. Daher habe es auch eine Weile gedauert, die Kooperation mit Microsoft auszuhandeln. Das bedeute aber nicht, dass SAP künftig nur noch in diese Richtung agiere, stellt sein Vorstandskollege Heinrich klar. Man sei mit Netweaver genauso in Richtung IBMs Middleware-Plattform Websphere offen. SAP habe nicht die Absicht, hier irgendwelche Fronten aufzubauen.

Als gelte es, den Eindruck einer einseitigen Ausrichtung zur Microsoft-Welt zu vermeiden, kündigte SAP auf der Sapphire ebenfalls eine Kooperation mit IBM an. Beide Unternehmen beabsichtigen, künftig ein durchgängiges Lösungsportfolio für den Einzelhandel anzubieten. Überhaupt stand die diesjährige Kundenveranstaltung im Zeichen der großen Bündnisse. Neben den Kooperationen mit Microsoft und IBM kündigte SAP mit seiner "Adaptive-Computing"-Initiative eine intensivere Zusammenarbeit mit verschiedenen Hardwareherstellern an.

Über den Wert dieser Kooperationen ist man unter den Analysten geteilter Meinung. Während viele Branchenbeobachter die Vorteile herausstellen, warnt Philip Carnelly, Research Director von Ovum, deren Wert zu überschätzen. Im Grunde müsste die Zusammenarbeit zwischen IT-Anbietern selbstverständlich sein. "Je mehr Partnerschaften dieser Art es gibt, desto weniger strategisch scheinen sie zu sein."

Martin Bayer, mbayer@computerwoche.de

Plattner gibt keine Ruhe

SAP-Chairman Hasso Plattner sucht neue Wege in der Softwareentwicklung. Gut gelaunt und gewohnt souverän präsentierte der SAP-Mitbegründer am zweiten Tag der Sapphire in New Orleans dem Publikum seine Vorstellung davon, wie sich in Zukunft Applikationen entwickeln ließen. Dies solle weniger aus der Perspektive der Entwickler geschehen. Sie seien zu sehr in ihren Code verliebt und würden die Softwarepakete zunehmend mit immer neuen Funktionen überfrachten. Stattdessen müssten Anwendungen mehr aus der Sicht der Nutzer geschrieben werden. Dazu sei es nötig, möglichst viele Meinungen aus den unterschiedlichsten Bereichen zu sammeln. Im Laufe des Entwicklungsprozesses müsse man die eigene Arbeit immer wieder hinterfragen: "Wir müssen wieder mehr debattieren." Am Ende sollen modular aufgebaute "Knowledge Workplaces" für die SAP-Anwender stehen, auf denen alle wichtigen Informationen weitgehend automatisiert zusammenfließen sollen. Plattner, der den CEO-Posten vor rund einem Jahr an Henning Kagermann abgetreten hatte, arbeitet zurzeit mit einem kleinen Team an einzelnen Prototypen. Ob diese irgendwann in die SAP-Roadmap einfließen werden, ist noch ungewiss. Wer den 60-jährigen Manager kennt, weiß allerdings, dass er sich kaum mit theoretischen Spielereien zufrieden geben wird.