Rollt das Auto der Zukunft als Netzwerk?

31.10.2001
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - E-Mails im Auto, vernetzte Diagnosesysteme, intelligente Routenplanung - die Fahrzeuge von morgen entwickeln sich immer mehr zu rollenden Computern. Doch mit ihrer Vernetzung hapert es noch, da bekannte Verfahren wie GSM oder UMTS zu langsam und zu teuer oder auch beides sind. Einen neuen Ansatz propagiert die Münchner Definiens AG mit einem mobilen Peer-to-Peer-Netz.

Mit dem Peer-to-Peer-Networking erlebt ein Netzkonzept seinen zweiten Frühling, das viele Experten im Zuge des Client-Server-Computings bereits abgeschrieben hatten. Während die einen Peer-to-Peer im Internet bei der gemeinsamen Nutzung von Rechenleistung und Plattenplatz eine Zukunft prophezeien, hat die Münchner Definiens AG ein anderes Anwendungsszenario im Visier: Das Unternehmen hat ein Peer-to-Peer-Modell entwickelt, in dem via Funk vernetzte Fahrzeuge als Netzknoten agieren und untereinander die unterschiedlichsten Informationen austauschen.

Dynamische Streckenplanung

  

Thomas Grevel, CEO der Definiens AG: "Warum rüsten wir für viel Geld unsere Rundfunkinfrastruktur auf Digital Audio Broadcast (DAB) um, wenn wir Musik in Form von MP3-Files übertragen könnten?"

 

Eine Anwendung für dieses System wäre etwa das dezentrale Routen-Management (Dynamic Traffic Routing = DTR), um Staus zu umfahren oder Lastkraftwagen im Zuge der Just-in-Time-Produktion schneller ans Ziel zu lotsen. Der Peer-to-Peer-Einsatz muss jedoch nicht zwangsläufig auf das fertige Endprodukt begrenzt bleiben, sondern könnte bereits beim Automobilbau selbst zum Einsatz kommen. Hier eröffnet die drahtlose Vernetzung laut Thomas Grevel, CEO der Definiens AG, für die Hersteller die Möglichkeit, am Fließband über Funk zum Beispiel die Software für Einspritzanlagen und Antiblockiersysteme (ABS) einzuspielen. Auf diese Weise würden sie im Produktionsprozess eine extra Fertigungsstation zum Laden der Daten einsparen.

Der Gedanke der Softwareübertragung könnte dann später im Alltagsbetrieb des Fahrzeuges weiterverfolgt werden, indem etwa Updates via Funk ausgeführt werden. Damit entfiele zum Beispiel für die Hersteller eine kostspielige Rückrufaktion in die Werkstätten, um Softwareprobleme zu beheben. Selbst wenn ein Problem nicht online zu lösen ist, profitieren die Automobilbauer von dieser Kommunikationsform: Die teuren Mailing-Aktionen bei Rückrufen entfallen, da diese Informationen dem Fahrzeug direkt über Funk mitgeteilt werden. In Kombination mit DTR könnte das System den Autofahrer gleich zur entsprechenden Werkstatt lotsen und vorab via Funk die Verfügbarkeit der entsprechenden Ersatzteile abfragen.

Umgekehrt eröffnen sich für die Werkstätten neue Möglichkeiten der Kundenbindung, indem sie den Fahrer etwa über Angebotsaktionen für Winterreifen oder Beleuchtungswochen informieren. Um dabei Streuverluste zu vermeiden - einen Mercedes-Fahrer dürften kaum die VW-Offerten interessieren -, ermöglicht das System in Form der "unicast communication" die gezielte Informationsübermittlung an einen bestimmten Knoten. Ein Feature, das auch die Realisierung von Internet-Services wie etwa E-Mail erlaubt.

Auch wenn obige Szenarien noch Zukunftsmusik sind, schweben Grevel, von den Vorteilen des Ansatzes überzeugt, bereits weitere Einsatzgebiete vor: "Warum rüsten wir für viel Geld unsere Rundfunkinfrastruktur auf Digital Audio Broadcast (DAB) um, wenn wir Musik in Form von MP3-Files übertragen könnten?" Ebenso wäre vorstellbar, dass die Fahrzeuge als mobile UMTS-Antennen agieren und so den Carriern einen Teil des teuren Netzausbaus sowie die leidige Suche nach Antennenstandorten ersparen.

Diese verschiedenen Szenarien basieren letztlich auf der Idee, dass die Autos als gleichberechtigte Peers im Netz agieren. Die Fahrzeuge fungieren dabei als Netzwerkknoten, die mit anderen via Funk Informationen austauschen und dabei selbständig ein spontanes Netz organisieren. Dieses Verfahren, auch als "Autonomous Mobile Agents in Cluster Communications Systems" (Amaccs) bekannt, basiert auf der Idee des "Cognition Network" von Gerd Binning, Nobelpreisträger für Physik und einer der Gründer von Definiens.

Dahinter verbirgt sich das Prinzip eines dezentralen Datenaustausches, der multiskalar erfolgt. So bilden die Fahrzeuge - vergleichbar mit den Knoten eines Netzes - abhängig von der Reichweite ihrer Funksignale und ihren wechselnden Positionen Kommunikationsgruppen (ähnlich virtuellen LANs in Corporate Networks), deren Zusammensetzung ständig wechselt. "In diesen Gruppen", erklärt CEO Grevel, " sammeln, verarbeiten und tauschen sie Informationen untereinander aus."

Siebenstufiges Routing

Sind nun Informationen über eine größere Entfernung, etwa von Hamburg nach München, zu transportieren, sorgen dynamische Ad-hoc-Routing-Protokolle über eine sieben Stufen umfassende Hierarchie für die Weitervermittlung der Informationen von Gruppe zu Gruppe. Wie diese Routing-Protokolle im Detail funktionieren, wollte der Manager nicht erläutern, "denn genau hier steckt das Know-how von Definiens". Damit in der Bundesrepublik diese Art von mobilem Peer-to-Peer-Networking funktioniert, so ist Grevel überzeugt, sind lediglich 100 000 entsprechend ausgestattete Fahrzeuge erforderlich. Die entsprechenden Mehrkosten für die Elektronik schätzt der Manager in der Großserienfertigung pro Wagen auf rund 100 Euro.

Die Funktionsfähigkeit dieser Art von Networking will Definiens mit einem derzeit laufenden Praxisversuch im Münchner Stadtgebiet untermauern. Als erste Applikation kommt dabei ein "Dynamic Traffic Routing" (DTR) zum Einsatz. Dabei tauschen die Fahrzeuge via Funk Daten wie Geschwindigkeitsverteilung und Verkehrsdichte untereinander aus. Über ein Application Programming Interface (API) fließen diese Informationen dann in die Routenberechnung herkömmlicher Navigationssysteme etwa von Blaupunkt, Becker oder VDO ein.

Verzicht auf Sendemasten

Der Datenaustausch selbst erfolgt via Funk im freien ISM-Band bei 868 Megahertz. Grevel zufolge haben diese Funksysteme, die mit einer Leistung von 0,5 Watt senden, je nach Gelände eine Reichweite von 300 Metern bis zu 20 Kilometern. Dabei erreicht das System im fahrenden Fahrzeug eine nutzbare Nettoübertragungsrate von rund 50 Kbit/s. Glaubt man Grevel, so bietet dieses Verfahren gegenüber herkömmlichen zentralen Systemen zwei wesentliche Vorteile: "Wir vermeiden die Stauoszillation, und es wird keine aufwändige Infrastruktur mit Sensoren und Sendemasten benötigt." Heutige Systeme wie ARI, TMC oder CSM, die ihre Daten zentral aufbereiten und nach dem Client-Server-Prinzip Ausweichempfehlungen an alle Fahrzeuge übermitteln, besitzen nämlich die Tendenz, auf den Entlastungsstrecken zu einer Überlastung zu führen, nämlich der Stauoszillation.

Ferner habe das System gegenüber dem herkömmlichen Datenaustausch via GSM- und GPRS-Netze Vorzüge. So entfielen die hohen Tarife der Netzbetreiber, und die propagierten Übertragungsraten seien im Gegensatz zu den Handy-Netzen auch bei schnell fahrenden Fahrzeugen zu realisieren.

Das jetzt in München getestete DTR ist jedoch nur ein Anwendungsszenario für mobile Peer-to-Peer-Funknetze. Für Unternehmen dürfte diese Kommunikationsform künftig in Sachen Flotten-Management sowie in allen Bereichen der Logistik interessant sein. Werden nämlich andere Funkfrequenzen zur Übertragung genutzt, ist etwa eine Portierung in die Schifffahrt denkbar. Ebenso ließe sich so die Übertragungsrate erhöhen.