EU-Studie warnt vor Risiken der Informationsgesellschaft

Roland Berger sieht Multimedia als Zukunftschance und Jobkiller

02.02.1996

Einen radikalen Strukturwandel durch die zunehmende Verbreitung von Multimedia-Loesungen prophezeit der Muenchner Unternehmensberater Roland Berger der deutschen Wirtschaft. "Der Anwendungsstau in der IT- und TK-Technik ist ueberwunden", erklaerte Berger vor Journalisten in Muenchen. Ausdruecklich warnte er jedoch vor zu hochgesteckten Erwartungen an zusaetzliche Impulse fuer den Arbeitsmarkt: "Multimedia wird sowohl Beschaeftigungsmotor als auch Jobkiller sein."

Nur 100 000 neue Arbeitsplaetze realistisch

Eine halbe Million neue Arbeitsplaetze in Deutschland bis zum Jahr 2000 waeren Berger zufolge schon viel, 100000 neue Stellen seien nach juengsten Schaetzungen realistischer. So wuerden durch Multimedia letztlich nur ein Grossteil alter Arbeitsplaetze und Dienstleistungen in bestehenden Branchen durch neue ersetzt. Dies fuehre zu einer radikalen Vereinfachung von Geschaeftsprozessen - auf Kosten zahlreicher Arbeitsplaetze. Hinzu kaemen nicht zu unterschaetzende Auswirkungen auf die Gesellschaft. Freier Zugang zu Informationen und Vereinsamung am Arbeitsplatz duerften nach den Worten Bergers zu ganz aktuellen Themen werden.

Trotz der mit Multimedia verbundenen Risiken (unausgereifte Technologien sowie unsichere Kundenakzeptanz und Marktprognosen) muessten Unternehmen fruehzeitig die Initiative ergreifen, auch wenn dabei zunaechst "Milliarden versenkt werden". Nur wer fruehzeitig einen neuen Markt fuer sich entdecke, sei uneinholbar. Neue Geschaeftsmoeglichkeiten sieht der Unternehmensberater neben dem Bereich Business-Multimedia zunaechst nur bei Online-Diensten und mittelfristig bei Angeboten wie Teleshopping und interaktivem Fernsehen. Voraussetzung dafuer seien aber einheitliche und einfache Benutzeroberflaechen.

Aehnlich kritisch wie Roland Berger setzte sich auch eine von der EU-Kommission beauftragte Expertengruppe mit dem Thema Multimedia auseinander. Das im Mai 1995 eingesetzte, aus 13 unabhaengigen Experten bestehende Gremium legte dem "Handelsblatt" zufolge vergangene Woche in Bruessel einen Zwischenbericht vor, in dem insbesondere vor den gesellschaftlichen Risiken der Informationsgesellschaft gewarnt wird. Dies ist um so erstaunlicher, als damit nach Ansicht von Insidern erstmals ein deutlicher Kontrapunkt zum bis dato eher unkritischen Kurs von Industriekommissar Martin Bangemann gesetzt wird.

Nach Auffassung der Autoren der Studie bietet die Informationsgesellschaft zwar fraglos ungeahnte Moeglichkeiten in puncto Innovation und Fortschritt; fuer die von ihren Befuerwortern immer wieder ins Feld gefuehrten positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gebe es allerdings derzeit keine Gewaehr. Generell habe Bruessel bislang wichtige kulturelle sowie politische Aspekte unzureichend beruecksichtigt. Die neuen Technologien muessten "den Menschen in den Mittelpunkt" stellen. Zudem muesse sich das Multimedia-Zeitalter auf eine "Gesellschaft des Lernens" gruenden, die auf dem Wissen und der Erfahrung von Menschen beruht, nicht auf maschinell abrufbaren Informationen.