Revolutionaere sterben nicht immer ruhmreich

10.12.1993

Betrifft CW Nr.48 vom 26. November 1993, Seite 1: "'Time to market' ist mit Cobol nicht zu realisieren"

Der beste Weg zum Untergang eines Unternehmens ist der, den existierenden Bestand an Applikationen zum alten Eisen zu werfen. In saemtlichen Companies weltweit sind Wissen, Sachverstand und Prozessablaeufe der jeweiligen Unternehmensstrukturen in den Anwendungscodes konserviert. Die Codes sind das Ergebnis unzaehliger Mannjahre an muehsamer Arbeit.

Obwohl es verlockend ist, "ein Unternehmen umzubauen" und den bestehenden Code zu ignorieren, wird dies jeder, der ueber ein geringes Mass an Erfahrung verfuegt, nur unter extremen Umstaenden in Erwaegung ziehen. Zugegeben, Revolutionen sind aufregend, jedoch sind sie auch mit hohen Risiken verbunden. Sie scheitern oefter, als dass sie zum Sieg fuehren - dabei sterben die Revolutionaere meistens eines nicht sehr ruhmreichen Todes.

Die Herausforderung, der unsere Branche heute gegenuebersteht, besteht darin herauszufinden, wie all die aufsehenerregenden neuen Hard- und Softwaretechnologien nutzbringend eingesetzt werden koennen - und zwar ohne den Segen der vergangenen 30 Jahre auf den Muell zu werfen. Und Segensreiches gab es mehr als genug. Sehr viele Arbeitsprozesse sind ohne die in den letzten Jahrzehnten entwickelten computerisierten Ablaeufe und Informationssysteme undenkbar geworden.

Wir sind von Gelehrten angegriffen worden, die uns weismachen wollen, die Applikationen seien "Spaghetti-Codes". Das ist nicht richtig. Auf einige mag das zutreffen, doch in den meisten Faellen handelt es sich um hervorragend geschriebene State-of-the-art- Anwendungen.

Kritikaster behaupten, die Anwendungen seien monolithisch. Auch dies ist aus den gleichen Gruenden nicht richtig. Ebenfalls ist es falsch zu sagen, die Anwendungen seien kompliziert, weil in Cobol geschrieben. Sie stellen sich oft nur deshalb als kompliziert dar, weil sie von ihrer Funktionalitaet her so weitreichend sind.

Ein weiteres Argument, das Kritiker uns entgegenbringen, lautet, Cobol sei eine 3GL-Sprache, Applikationen sollten aber heute in einer 4GL geschrieben werden. Schauen Sie genauer hin, werden Sie feststellen, dass eine "4GL"-Applikation meistens eine Kombination aus 4GL und C ist - man koennte sagen, ein hoeheres Assembler.

In begrenzten Anwendungsbereichen koennen 4GLs die Produktivitaet erhoehen. Doch ist es zur Zeit immer noch das Beste, kommerzielle Anwendungen in Cobol zu schreiben. Zusammen mit der passenden Umgebung ist dies eine hoechst produktive Entwicklungssprache, die enorme Performance gewaehrleistet. Und nicht zu vergessen, es handelt sich um eine offene Standardsprache, die an keinen Anbieter gebunden ist.

Cobol ist auch wegen der Wartbarkeit die beste Sprache. Dies ist insbesondere wichtig, wenn der mit einer Anwendung befasste Programmierer ein anderer ist als der, der das Programm urspruenglich geschrieben hat.

Ein Blick in die Zukunft zeigt, dass massive Produktivitaetssteigerungen im Zuge der Objektorientierung vorauszusehen sind. Wir sind der Ansicht, dass objektorientiertes Cobol weitreichende Gelegenheiten bietet, um den Uebergang zwischen der alten und der neuen Welt zu meistern. Es verfuegt ueber die Vorteile des objektorientierten Ansatzes und ermoeglicht Programmierern, die ueber die Kenntnis ihrer Unternehmens-DV verfuegen, mit geringem Umschulungsaufwand objektorientierte Systeme zu entwickeln. Damit sich Objektorientierung auch innerhalb eines Unternehmens entfalten kann, das grosse Investitionen in bestehenden Applikationen hat, muss so viel wie moeglich vom bestehenden prozeduralen Code wiederverwendet werden koennen.

Es ist unlogisch, den Gedanken der Wiederverwendung von vorhandenem Code in einer objektorientierten Welt zu predigen und zugleich die Ansicht zu vertreten, schaetzungsweise 100 Milliarden Zeilen Code wuerden nicht wiederverwendet werden.

Tatsaechlich koennten die "vorgefertigten Komponenten", von denen viele Promotoren der Objektorientierung sprechen, aus diesen bereits existierenden Codes stammen.

Die Entwicklung der 90er Jahre wird noch schneller voranschreiten als die der 80er. Daher sollten Unternehmen nicht versuchen, das Rad neu zu erfinden, indem sie bestehende Applikationen umschreiben, wo dies gar nicht noetig ist. Sie sollten, wo immer moeglich, auf bestehende Investitionen setzen. Diese Strategie wird sie in die Lage versetzen, sich auf das Aufsehenerregende, Neue zu konzentrieren, bei dem Cobol in absehbarer Zukunft noch ein Woertchen mitreden wird.

Paul O'Grady, Chief Executive Officer der Micro Focus Ltd., Newsbury.