Restrukturierung und neues Fuehrungsverstaendnis (Teil 1) DV/Org. und Personal werden zur Organisationsentwicklung Von Thomas Mechtersheimer*

17.09.1993

Die weltweite Rezession hat die Notwendigkeit struktureller Aenderungen in Unternehmensorganisationen aufgedeckt. Andere Formen der Arbeitsorganisation werden allerorten angestrebt. Im folgenden Beitrag wird die Rolle der Informationsverarbeitung (IV) bei der Restrukturierung der Unternehmen diskutiert.

Der vorliegende erste Teil des Beitrags fuehrt zunaechst in die angestrebten neuen Organisationsformen und das damit verbundene Fuehrungsverstaendnis ein. Das Ziel besteht im Verstaendnis der dazu notwendigen Organisationsentwicklung. Ein praktisches Vorgehen zur Erreichung dieser Grundlagen wird dabei vorgestellt. Der zweite Teil, der im "Schwerpunkt" der CW 39/1993 erscheinen wird, zeigt dann, was DV zu einer Reorganisation beitragen kann. Thema ist das notwendige Design der DV-Systeme zukuenftiger Organisationsformen. Letztlich wird fuer die Integration der DV/Organisation unter anderem mit der Personalentwicklung in einen Bereich Organisationsentwicklung plaediert.

Wettbewerbsfaehigkeit als Leistung von Strukturen

Die Rahmenbedingungen zeitgemaesser Organisationen sind im Umbruch. Schlanke und flache Organisationskonzepte orientieren sich an den ablaufenden Prozessen. Die Arbeitsablaeufe aendern sich mit der Zielrichtung auf das Endergebnis, der Arbeitsfluss und nicht mehr die Arbeitsteilung ist die Grundlage der Organisationsgestaltung.

Mit kleinen aufgabenorientierten Gruppen (Projektteams bei Sach- und Management-Aufgaben oder Gruppenarbeit in der Fertigung) will man den Anforderungen an Marktorientierung, Schnelligkeit und Qualitaet genuegen.

Lean Management und Lean Production

Vor allem von japanischen Unternehmen uebernimmt man Strategien wie Lean Management oder Lean Production beziehungsweise Kaizen oder Total Quality Control (TQC). Diese Prinzipien sind auf kulturellen Fundamenten gebaut, die sich bis in die Unternehmenswelten erstrecken. Um in Mitteleuropa diese Formen der Unternehmens- und Arbeitsorganisation erfolgreich anzuwenden, muss sich zunaechst die Unternehmens-kultur und das damit verbundene Selbstverstaendnis der Mitarbeiter aendern.

Die Unternehmenskultur wird vor allem durch den jeweils vorherrschenden Fuehrungsstil beeinflusst. Umstrukturierungen hin zu flacheren Organisationen sind erst in der Folge einer kooperativen Fuehrung erfolgreich. Denn eine offene Unterneh-menskultur unter bewusster Nutzung und Unterstuetzung formeller und informeller Kommunikationsstrukturen ist die Basis einer flachen und veraenderungsbereiten Organisation. Dies bedeutet vor allem fuer groessere Organisationen die Aufgabe, einen Prozess der Organisationsentwicklung anzustossen.

Zum Selbstverstaendnis der japanischen Fuehrung

Das Herz der schlanken Produktion und des schlanken Managements in Japan sind dynamische Arbeitsteams. Die Mitglieder der Arbeits- und auch der abteilungsuebergreifenden Projektteams beziehen ihr Selbstverstaendnis und ihre Identifikation mit der Arbeit und dem Unternehmen aus einer der deutschen Denkweise voellig fremden Verbundenheit mit dem Unternehmen, dem "kaisha". "Kai" bedeutet Zusammensein, Zusammenkunft, und "sha" ist der Begriff fuer eine soziale Vereinigung. Japaner sprechen meist vom "uchi no kaisha", was etwa "unser Unternehmen" bedeutet. "Uchi" ist in der japanischen Sprache auch der Begriff fuer Haus und Heim und sogar fuer Familienmitglieder.

Das Managen dieses gemeinsamen Hauses beruht auf Konsensprinzipien und der gleichzeitigen Verpflichtung aller, die Einzelziele dem einmal beschlossenen Gesamtziel der Gruppe unterzuordnen. Dieses Gesamtziel ist daher Gegenstand umfangreicher Eroerterungen und Diskussionen unter Beteiligung aller Mitglieder.

Diese Vorgehensweise ist dem Management-Verstaendnis in der BRD genau entgegengesetzt. Entscheidungen werden nicht einfach qua Hierarchie getroffen und dann gegen alle berechtigten und unberechtigten Widerstaende durchgesetzt, sondern zuerst wird ein oft langwieriger Prozess zur Konsensfindung abgeschlossen, der "nemawashi".

Die Frage der Uebertragbarkeit

Fuer die Betriebe hat dies zum Ergebnis, dass etwa 70 Prozent der Produktionsmitarbeiter in kleinen Teams organisiert sind und Jobrotation fuer junge Nachwuchskraefte ein selbstverstaendlicher Bestandteil ihrer Arbeit ist. Der stundenmaessige Ausbildungsaufwand japanischer Automobilunternehmen fuer neue Mitarbeiter ist etwa doppelt so hoch wie in Europa. Dies fuehrt dazu, dass in der japanischen Produktion jeder Mitarbeiter alle Jobs der Gruppe bewaeltigt. Er fuehrt einfache Reparaturen und die Reinigung seiner Maschine selbst aus, und er traegt die TQC und den Prozess der staendigen Verbesserung (Kaizen) eigenverantwortlich mit.

Auf den operativen Management-Ebenen fuehrt dies dazu, dass Entscheidungen mittels eines Umlaufverfahrens ("ringi") getroffen werden, oder dass Projekte nach einmal getroffener Entscheidung von allen getragen werden und schnelles, paralleles Vorgehen bei der Umsetzung erlauben ("Simultaneous Engineering" oder "Speed Management" bilden das bei uns propagierte Pendant).

Nicht Gruppenarbeit als solche oder flachere funktionale Hierarchien sind daher die Eckpfeiler des japanischen Systems. In Japan sind sie das Ergebnis von natuerlichen Entwicklungen, da hier die Fragestellung nach effizienten und produktiven Arbeits- und Management-Methoden auf der Basis der existierenden Kultur geloest wurde. Die Systeme sind in ihrer Form lebensfaehig, weil sie auf gemeinsamen Wertvorstellungen beruhen.

Der Weg zu Teamarbeit und flachen Strukturen

Wollen europaeische Unternehmen also ebenfalls leistungsfaehigere, schlanke Strukturen und Arbeitsgruppen zum Leben bringen, so muessen diese in den Unternehmen von kommunikationsfaehigen und - willigen Mitarbeitern gelebt werden. Dann bestimmen die Prozesse die aufbauorganisatorische Struktur, nicht umgekehrt.

Das erste Etappenziel ist eine kooperative Fuehrung, die die Mitarbeiter (MA) glaubhaft und dauerhaft in die Entscheidungen einbezieht.

Die Massnahmen zum ersten Etappenziel betreffen das Funktionieren von Kommunikation und Kooperation in Teams. Wer heutzutage in den Unternehmen Mitarbeiter parallel zu Umstrukturierungen mit organisationsentwicklerischen Massnahmen betreut, spuert die Problematik schnell: Die Mitarbeiter werden meist nach alter Tradition vor die Tatsache gestellt, nach einem von oben bereits beschlossenen Konzept in Zukunft etwa Gruppenarbeit zu leisten. Vorherige Kommunikation wird nicht betrieben.

"Fuehren mit Zielen" gilt als kooperative Fuehrungsform

Man hat angesichts der wirtschaftlichen Lage "keine Zeit". Wieviel Zeit aber durch das Schaffen und Schueren von Aengsten oder auch die Trennung zwischen "oben" und "unten" bei der Einfuehrung neuer Arbeitsformen verlorengeht, wird selten festgehalten. Durch die tayloristische Aus- und Abgrenzung von Funktionen und Verantwortungen ist eine Kultur entstanden, die der fuer die Arbeit in Teams notwendigen Kommunikationsfaehigkeit und uebergreifenden Blickweise voellig entgegensteht.

Eine kooperative Fuehrungs-form, die in vielen Unternehmen zumindest schon angestrebt wird, ist das "Fuehren mit Zielen". Es bietet den Vorteil, dass es zunaechst auf eine bestehende, gaenzlich funktionale Hierarchie aufsetzen kann.

Hierbei ist es wichtig, dass fuer die Zielfindung ein Gegenstromverfahren eingefuehrt wird. Dies bedeutet eine Abfrage der Zielvorstellungen von unten nach oben, um dann realistische Ziele von oben nach unten vorzuschlagen. Die Instrumente dazu sind Mitarbeitergespraeche und moderierte Runden fuer Abteilungen oder kleinere Gruppen der existierenden Linie. Wo noch nicht vorhanden, ist das Vorschlagswesen ein weiteres Instrument zur staerkeren Einbeziehung der Mitarbeiter, auch hier gilt: Die Rueckmeldung nach einem Vorschlag mit Begruendung der Annahme beziehungsweise Ablehnung laesst ein Gefuehl der Glaubhaftigkeit entstehen, nicht einen toten Briefkasten. Erste neue und brauchbare Kommunikationskaenale entstehen, und in den Augen der Mitarbeiter "bewegt sich etwas".

Probleme beim Projekt-Management

Dieses Vorgehen sollte von Beginn an personalentwicklerisch flankiert werden. In Konzepte eingebettet, sind solche Massnahmen auch mehr als Alibiveranstaltungen und versanden nicht beim Versuch des Transfers in den Unternehmensalltag.

Das bekannteste Beispiel fuer die Wichtigkeit des genannten Vorgehens ist die schon seit Jahren allerorten in Angriff genommene Einfuehrung von abteilungsuebergreifender Projektarbeit. Die ganzen Probleme unserer bislang gelebten Unternehmenskulturen tauchen beim Projekt-Management auf:

- die Unfaehigkeit, in Teams zu arbeiten,

- Abteilungsegoismen und Erbhoefe,

- die Unfaehigkeit, Teams zu moderieren,

- die Schwierigkeiten von hierarchischen Funktionstraegern, sich Sachzwaengen und hierarchisch tieferstehenden Personen unterzuordnen,

- das Benutzen von Informationen als Machtinstrumente sowie

- das funktionale, tayloristische anstatt dem prozessorientierten Denken (es zaehlen Ergebnisse und Abgrenzung und nicht durchgaengige Prozesse).

Diese Probleme sind ein Spiegelbild unserer Fuehrungskultur, in der die Teamfaehigkeit zu kurz kam. Erst jetzt, wenn die Aenderung der Unternehmenskultur glaubhaft und mit ersten Ergebnissen sinnvoll im Unternehmen begonnen hat, machen strukturelle Aenderungen einen Sinn. Dies ist die Umsetzung des einfachen Grundgedankens, dass Schwierigkeiten und Hindernisse zuerst ausdiskutiert und angegangen werden, um im zweiten Schritt bei der Umsetzung an einem Strang zu ziehen.

Die IV als Mittel der Reorganisation

Informationsverarbeitung als strategischer Erfolgsfaktor soll einerseits die Realisierung von Wettbewerbsstrategien ermoeglichen, andererseits zur Restrukturierung der Unternehmensorganisation beitragen. Der technologische Stand der IV und die Natur der angestrebten Systeme (Client-Server-Prinzip, Groupware-Konzepte) sind in einem engen wechselseitigen Zusammenhang mit den Anforderungen an die aufbau- und ablauforganisatorischen Veraenderungen zu sehen. Kooperative Fuehrungsformen wie zum Beispiel das Fuehren mit Zielen und geaenderte Strukturen in der Fertigung wie die Fertigungssegmentierung und Gruppenarbeit werden mit DV-Unterstuetzung realisiert und sollen zu einem prozessorientierten Unternehmen fuehren. Umgekehrt ist eine kooperative Form der Fuehrung und eine offene Unternehmens-kultur aber auch Voraussetzung fuer das Funktionieren von offenen und dezentralen Informationssystemen. Diese wechselseitige Abhaengigkeit gibt somit die Richtung zukuenftiger Grund- designs von IV-Systemen vor. (Teil 2 folgt in der naechsten CW im Schwerpunkt "Groupware")

*Thomas Mechtersheimer ist Systemberater bei der Swap-Computer GmbH, Kehl am Rhein