Referenzmodell für Offene Systeme - Konkretisierung einer Utopie

11.09.1981

Prof. Dr. Sigram Schindler TU Berlin

Eine kaum beabsichtigte Rolle, die die Standardisierungsgremien ISO und CCITT1) übernehmen mußten, ist die des Motors und der Koordinierungsstelle der gesamten relevanten Forschung über Offene Kommunikationssysteme. Die Ursachen für diese Entwicklung sind klar, ihre Auswirkung noch kaum begriffen und derzeit unabsehbar.

Kein Praxisvorlauf

Zunächst zu den Ursachen dieser Entwicklung. Wie in jeder anderen Technologie muß auch in der Kommunikationstechnologie die nationale und internationale Abstimmung von Einzelheiten in den Standardisierungsgremien erfolgen. Während in vielen Technologien diese Abstimmung im wesentlichen eine einvernehmliche Reduktion der Vielgestaltigkeit ihrer Praxis auf einige in der Praxis besonders günstige Muster bedeutet, kann man im Bereich der Offenen Systeme so nicht verfahren, weil es keinen derartigen Vorlauf der Praxis gibt. Ein derartiger Vorlauf scheint hier nicht denkbar zu sein, da

- er anwenderseitig nicht realisiert werden würde: Das Risiko, daß bei einer späteren Umsetzung von einem Offenen System auf ein anderes (der kurzfristig erstellten Produkte) hohe Kosten entstehen könnten, ist nicht von der Hand zu weisen und schwer kalkulierbar;

- er entwicklerseitig auch gar nicht angeboten werden könnte: Es ist gar nicht zu sehen, weshalb Produkte verschiedener Entwickler ohne weitgehend vorhergehende Abstimmung zusammenarbeitsfähig - das heißt, offen - sein sollten. Umfassende Abstimmung bedeutet aber, daß dafür der Personalbestand an Experten mit einem hinreichend breiten technischen Hintergrundwissen in jeder einzelnen Gesellschaft viel zu schmal ist, um eine ganze Offene-Systeme-Technik zu entwickeln. Auch der Versuch der Einzelfirmen, diesem Manpower-Problem zu entkommen durch einen Rückgriff auf die traditionellen wissenschaftlichen Institutionen, kann im Fall der Offenen Systeme nicht gelingen, weil dort noch kaum ein Expertenreservoir entstehen konnte (wie man es dort in anderen Technologien und in allen traditionellen Wissenschaftsbereichen stets findet), vor allem aber, weil diese Institutionen viel zu langsam arbeiten.

Krasses Expertendefizit

Angesichts dieser Mängel - kein Praxisvorlauf bei Offenen Systemen, dagegen ein krasses Expertendefizit - konnte es den Standardisierungsgremien gar nicht erspart bleiben, die Wesensmerkmale Offener Systeme alleine bloßzulegen und abzuklären - das heißt, die Forschung und technologische Ausgestaltung Offener Systeme zu initiieren und abzustimmen.

Über die inhaltlichen Auswirkungen dieser Entwicklung für den Bereich Offener Systeme kann man derzeit nur mutmaßende Fragen stellen. Für den am nächsten liegenden Fragenkomplex steht die Frage "welche Bedeutung haben Offene Systeme potentiell verbessernde individuelle Forschungs-/Entwicklungsergebnisse überhaupt noch, wenn sie in den Standardisierungsgremien nicht durchgesetzt werden (werden können)?". Ein dazu benachbarter Fragenkomplex wird angesprochen durch: "Verbleiben bei Offenen Systemen eigentlich Teilbereiche, die nicht durch Standards in verbindlicher Weise festgelegt sind - und wie groß sind diese verbleibenden Bereiche? Erstarrt hier womöglich jede weitere Entwicklung in einer Fülle von Standards?" Und schließlich kommt man natürlich auf den Fragenkomplex: "Wer kontrolliert beziehungsweise legitimiert das Tun der Standardisierer? Entspricht die Kontrolle/Legitimation der Standardisierungsgremien der Tragweite ihrer Arbeit?"

Sicherlich kann man die meisten derartigen bangen Fragen nicht beantworten, manche nur auf herbe Weise. Man sollte jedoch sehen, daß es gegenwärtig keine vertretbare Alternative zu den "multinationalen multikonzernanten" Organisationen ISO und CCITT im Kommunikationsbereich zu geben scheint: Jede Alternative zu diesen beiden Multi-Multis, ISO und CCITT, dürfte die "Markt"-Stellung der einzelnen dominierenden multinationalen Konzerne in der bekannten traditionellen Weise verbessern.

Auch diese beängstigenden Perspektiven an der Technologie der Offenen Systeme muß man in ihrer ganzen Tragweite klar erkennen, gerade weil die vielen erfreulichen Implikationen dieser Technologie leicht zu ihrer unbedachten positivistischen Beurteilung führen können. Diese erfreuliche Seite wollen wir nun etwas genauer betrachten.

Modewort oder Schlüsselwort

Die Frage, ob es Offene Systeme überhaupt geben wird oder nicht - das heißt: ob die Diskussion um Offene Systeme vielleicht überhaupt nur den aussichtslosen Versuch eines wissenschaftlichtechnologischen Höhenfluges der ISO darstellte - kann man heute als geklärt betrachten. Den Terminus "Offene Systeme" kann man daher nicht mehr als Schlagwort mit dem Beigeschmack eines Modewortes abtun, auch wenn es von Vertretern einiger "Markt"-führender Firmen immer wieder versucht wird. Der Terminus "Offene Systeme" ist mittlerweile mehr als nur ein hoffnungsvolles Schlagwort, es ist ein Synonym für eine der wichtigsten zukünftigen Schlüsseltechnologien, nämlich für eine computergestützte Kommunikationstechnologie, die weitergehend als es bisher geschah - einerseits den betrieblichen und nationalökonomischen Notwendigkeiten entspricht und andererseits übermittlungs- und computertechnische Fortschritte praktisch nutzbar macht.

Wie weitgehend diese computergestützte Kommunikationstechnologie neuer Qualität die bisherigen Entwicklungen im Bereich der Datenfernverarbeitung ergänzen, ablösen oder sogar verdrängen wird, ist derzeit natürlich noch nicht absehbar. Dies ist nicht weiter schlimm: Wichtiger ist ohnehin, daß die Technologie der Offenen Systeme neue Entwicklungen in großer Breite in die Wege leitet, sozusagen einen "Innovationsschub" auslöst. Im Zuge dieser neuen Entwicklungen soll der computerunterstützten Kommunikationstechnologie - und in ihrem Gefolge der Computertechnologie schlechthin - der Zugang zu den unterschiedlichsten Lebensbereichen eröffnet werden. Dabei soll das entscheidende Merkmal dieser neuartigen Kommunikationsbeziehungen darin bestehen, daß sie die Intelligenz der in ihnen integrierten Computersysteme voll an die kommunizierenden Partner weiterreichen.

Barrieren beseitigen

Während also in der bisherigen "Datenfernverarbeitungs"- Kommunikation die Zusammenarbeit zwischen den kommunizierenden Partnern häufig erschwert wurde durch die technischen Beschränkungen, die die beteiligten Rechner in diese Kommunikationsbeziehung einbrachten, sollen "Offene" Kommunikationsbeziehungen A) frei sein von solchen bisherigen technischen Barrieren, und B) auch noch diejenigen Kommunikationsbarrieren beseitigen, die Computerintelligenz überwinden kann. Unter B) sind dabei unter anderem Kommunikationsbarrieren angesprochen, die sich daraus ergeben, daß die kommunizierenden Partner unterschiedliche Darstellungen (in Bild, Ton, Schrift, Sprache) für die auszutauschenden Ideen und Aussagen benutzen, und sie einander ohnehin nur verstehen können, solange sie ihrer Kommunikation den gleichen Kontext zugrunde legen.

Selbstverständlich kann Computerintelligenz in absehbarer Zukunft nur gewisse Klassen von Kommunikationsschwierigkeiten überwinden, die aus dieser Darstellungsproblematik und aus dieser Synchronisierungsproblematik entstehen können. Theoretisch gesehen mögen diese Klassen sehr beschränkt wirken, wie groß diese Klassen in der Praxis gemacht werden können und empfunden werden, muß man abwarten - allein angesichts der zukünftigen ungeheuren Leistungsfähigkeit von Mikros, Packungsdichten von Speichern, Übertragungsleistungen von Glasfasern braucht man eine zu große Ärmlichkeit dieser Klasse nicht zu befürchten.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie weitgehend Computerintelligenz behilflich sein kann Kommunikationsbarrieren zu überwinden, kennen wir aus dem Bereich der Betriebssysteme. Einem normalen Rechenanlagenbenutzer ist absolut unverständlich, wie die Kommunikationsrituale der von ihm benötigten Betriebsmittel (Terminal, Platte, Prozessoren, ...) aussehen - er könnte auf gar keinen Fall mit ihnen direkt kommunizieren. Aus technischer Sicht gesprochen reicht menschliche Intelligenz einfach nicht aus um die Vielfalt der Steuerungs-Kontroll- und Koordinierungsmaßnahmen, das heißt, um diese Kommunikation, vernünftig abzuwickeln. Diese Kommunikationsbarriere ist durch Computerintelligenz überwindbar, ein ordentliches Betriebssystem gestattet seinen Benutzern die problemfreie (lokale) Kommunikation mit allen von ihm benutzten Betriebsmitteln.

Großartige Perspektive

Der Technologie der Offenen Systeme liegt jedenfalls eine klare Erkenntnis dieser beiden "üblichen" Klassen von Kommunikationsbarrieren zugrunde - sie sieht deshalb explizite Mechanismen zur Überwindung von Darstellungs- und Synchronisationsschwierigkeiten für jede Kommunikationsbeziehung zwingend vor. Es sollte damit deutlich sein, daß den "offenen" Kommunikationsbeziehungen eine grundsätzlich andere Qualität zukommt, als wir sie bisher gekannt haben, sowohl in der Mensch-Mensch-Kommunikation als auch in der Mensch-Maschine-Kommunikation.

Insgesamt sollte man davon ausgehen, daß der Idee der Offenen Systeme eine sehr starke innere Überzeugungskraft innewohnt, deren Bedeutung die technisch/ökonomischen Für und Wider Offener Systeme bei weitem übertreffen könnte. Es wird in keinem der Standardisierungselemente ausgesprochen: Offene Systeme verfügen über eine großartige letztendliche Perspektive - eine Verheißung darf man vielleicht sogar sagen - wie man sie in den Computertechnologien sonst kaum findet. Offene Systeme beinhalten die Utopie von einer Form von Kommunikation, die - freizügiger ist weil frei von unnötigen räumlichen, technischen und kulturellen Barrieren, und - intensiver ist, weil stets alle benötigten Informationen verfügbar und austauschbar sind, als es Menschen je erleben konnten, wie sie es aber stets erstrebt haben.

Strukturvorschlag

Analogien zur Entwicklung in der Flugtechnik bieten sich an. Auch dort war es ein alter Menschheitstraum, der zur Entwicklung funktionsfähiger Flugapparate führte, nämlich die Utopie, dem Menschen die Fähigkeit des freien Fluges zu geben. Auch dort hat die Entwicklung einer unglaublich vielseitigen Lufttransporttechnologie die bereits vorhandenen Transporttechnologien, also die bereits vorhandenen schienengebundenen, landgebundenen oder wassergebundenen Transporttechnologien nicht verdrängt, doch aber ergänzt und verändert. Und schließlich: Dort entfaltete die reine Utopie (vom freien Flug) erst dann ihre volle intensive Produktivkraft, als ihr eine technologisch günstige konkrete Utopie an die Seite gestellt werden konnte, das heißt, eine Struktur für einen Flugapparat (die vorsah die Gliederung in: Tragwerk, Leitwerk, Antriebsaggregat, ... in der uns allen bekannten materiellen Ausprägung und physikalischen Anordnung) gefunden wurde, die in günstiger Weise beim Fliegen wirkenden Gesetze ebensogut berücksichtigte wie den Stand der Produktionstechnik der zur Realisierung benötigten Materialien. Im Bereich der Kommunikationstechnologie stellte das Referenzmodell für Offene Systeme eine solche Konkretisierung der Utopie dar, das heißt, einen konkreten Strukturvorschlag. Die Zukunft wird uns zeigen, ob er technologisch hinreichend günstig war.

Aus einem Referat, gehalten auf dem Online-Kongreß ´81 in Düsseldorf (10. bis 13. Februar).

ISO = lnternational Organization for Standardization; CCITT = Comité Consultativ International de Telegraphie et Telephonie