Geschäftsmodelle für den E-Commerce/Widersprüchliche Urteile gegen Internet-Apotheke

Rechtliche Hürden beim Web-Versand

16.03.2001
Bei der Erschließung neuer Vertriebswege haben die Betreiber von Online-Handelsformen häufig mit rechtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Das Beispiel einer niederländischen Internet-Apotheke zeigt, wie die Anbieter versuchen, die strikten deutschen Bestimmungen zu umgehen. Von Jürgen Heilbock*

Während es unter den Wirtschaftswissenschaftlern umstritten ist, ob es überhaupt einen Streit New versus Old Economy gibt, kann diese Frage von den Juristen eindeutig mit ja beantwortet werden. Abgesehen von den zahlreichen Gerichtsentscheidungen, die Grundlagen des Internet - etwa Domain-Namen - betreffen, landen auch die Betreiber Web-basierender Geschäftsmodelle immer wieder vor dem Kadi. Vor allem die Online-Auktionshäuser und gewisse Ausprägungen des Musikvertriebs via Web - bestes Beispiel: die MP3-Tauschbörse Napster - haben hier Geschichte geschrieben.

Seit den Urteilen gegen die niederländische Internet-Apotheke Doc Morris zählt auch der Online-Vertrieb von Medikamenten zu den rechtlich umstrittenen Business-Modellen im Netz. Die Gegner warnen davor, dass das Unternehmen die kontrollierte Abgabe von Arzneimitteln unterlaufe und damit die Volksgesundheit gefährden könne. Bei der Auseinandersetzung zwischen dem Internet-Versender auf der einen Seite und dem Apothekerverband sowie einzelnen Pharmagroßhändlern auf der anderen, muss man jedoch wissen, dass hinter Doc Morris eine reale Apotheke und ein in vollem Umfang lizenzierter Apotheker mit dem Namen Jack Waterval stehen. Trotz zahlreicher Versuche von Testkäufern hat Doc Morris zu keinem Zeitpunkt verschreibungspflichtige Medikamente ohne Rezept über das Internet vertrieben. Wer ein solches Arzneimittel bei dem Internet-Anbieter kaufen will, muss genau wie in einer deutschen Apotheke das entsprechende Rezept vorlegen. Der einzige Unterschied zur "realen" Apotheke besteht darin, dass der Kunde sein Medikament online bestellen kann und es nach Hause geliefert bekommt. Vor allem für dauerhaft kranke Patienten, die ihre Wohnung kaum verlassen können oder über Jahre hinweg täglich die gleichen Tabletten einnehmen müssen, stellt dies sicherlich eine große Erleichterung dar.

Abgeschottete WertschöpfungsketteBei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln bilden staatlich lizenzierte Apotheker in Deutschland traditionell die Schnittstelle zum Endkunden. Lieferanten der Apotheken sind Pharmagroßhändler und -hersteller. Wettbewerb findet damit nur innerhalb einer Wertschöpfungskette statt. Der Endkunde hat zwar die freie Wahl zwischen den einzelnen Apotheken. Einen Versandhandel oder eine Art "Aldi für Medikamente" - wie zum Beispiel die Drugstore-Ketten in den USA - gibt es hierzulande jedoch nicht.

Während es die Apotheken schon immer geschickt verstanden haben, ihr Produktsortiment zu Lasten etwa der Drogerien auszudehnen, verteidigen sie ihr Vertriebsmonopol gegen etwaige Konkurrenz hartnäckig. Das bleibt nicht ohne Einfluss auf die Preise der Medikamente. Auf diesen Zusammenhang hat auch der Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Union hingewiesen, als er in einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme empfahl, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Vertriebssysteme weiterzuentwickeln, um die Arzneimittelausgaben einzudämmen. Alternative Verkaufskanäle wie der elektronische Handel dürfe man dabei nicht verteufeln. Sinnvoll sei es vielmehr, so die Experten, eine Liste der Medikamente zusammenzustellen, die sich aufgrund ihrer geringen Risiken auch über andere Verkaufsstellen als Apotheken vertreiben ließen.

Die deutschen Gerichte sind sich allerdings bislang nicht einig, wie mit dem Online-Vertrieb von Arzneimitteln verfahren werden soll. Im November vergangenen Jahres fällte das Landgericht (LG) Frankfurt am Main zwei Entscheidungen gegen Doc Morris. Kläger waren der Deutsche Apothekerverband und der Pharmagroßhändler Gehe AG. In beiden Fällen wurde es der hölländischen Online-Apotheke untersagt, Medikamente im gewerbsmäßigen Versandhandel via Internet mit einer an deutsche Endverbraucher ausgerichteten Angebotsstruktur nach Deutschland zu liefern.

Nach Ansicht der Frankfurter Richter dürfen Arzneimittel nur über Apotheken und nicht über den Versandhandel an den Endverbraucher verkauft werden - unabhängig davon, ob es sich dabei um verschreibungspflichtige Produkte handelt oder nicht. Das Gericht wies zudem darauf hin, dass beim Internet-Vertrieb von Medikamenten ein Verstoß gegen das Heilmittelwerbegesetz vorliege: Da die Bestellformulare auf der Web-Seite Produktinformationen enthielten, stelle dies Werbung für zulassungspflichtige Arzneimittel dar, so die Richter.

Das LG Berlin hat die Vertriebspraxis von Doc Morris dagegen für rechtmäßig erklärt. In ihrem Urteil beriefen sich die Richter auf die EU-Ausnahmevorschrift, wonach die Verbraucher in anderen Mitgliedsländern zugelassene Arzneimittel online beziehen dürfen, sofern dies ohne gewerbs- oder berufsmäßige Vermittlung erfolgt. Anders als die Kollegen in Frankfurt erklärte das LG Berlin, das Recht, im EU-Ausland erworbene Medikamente in die Bundesrepublik einzuführen, beinhalte auch das Recht der Endverbraucher, sich diese Arzneimittel zusenden zu lassen. Damit sei es wiederum für eine Internet-Apotheke legal, solche Arzneimittel nach Deutschland zu versenden.

Da lediglich ein Vertrieb zwischen Doc Morris in Holland und den Endverbrauchern in der Bundesrepublik erfolge, liege auch kein verbotenes Vermittlungsgeschäft vor, da dies ein Dreipersonenverhältnis - beispielsweise einen Agenten - voraussetzen würde. Den in Frankfurt erhobenen Vorwurf der unerlaubten Heilmittelwerbung wiesen die Berliner Richter ebenfalls zurück. Ihr Argument: Die auf den Online-Formularen enthaltenen Angaben zu Preisen und Produkten seien unerlässlich, um einen Internet-Verandhandel überhaupt betreiben zu können.

Damit ist das LG Berlin auf der gleichen Linie wie der EU-Wirtschafts- und Sozialausschuss, der beim Arzneimittelvertrieb mehr Aufklärung für die Konsumenten gefordert hat und das generelle Verbot des Internet-Vertriebs in diesem Bereich als falsch verstandenen Verbraucherschutz bezeichnet. Auch die so genannten "Cyberletters" der US-amerikanischen Bundesbehörde Food and Drug Administration sowie die Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO gehen in diese Richtung.

EU-WarenverkehrsfreiheitGrundsätzlich kann sich der Internet-Versender Doc Morris auf die EU-Warenverkehrsfreiheit berufen, wenn die Lieferung in die Bundesrepublik aus Holland erfolgt. Wettbewerber, die dies anzweifeln, haben es nicht leicht, das Gegenteil nachzuweisen - etwa, dass die Lieferung aus Deutschland stamme. Das zeigt der Fall eines Pharmagroßhändlers, der Doc Morris vor dem LG Stuttgart verklagt hatte. Hinzu kommt, dass das Prozessrisiko für die klagenden Wettbewerber stark ansteigen kann. Beispielsweise ist es möglich, dass das deutsche Gericht das Verfahren aussetzt und einzelne Rechtsfragen dem Europäischen Gerichtshof vorlegt. Und dass dieser das traditionelle deutsche Arzneimittelvertriebswesen freier auslegt als ein deutsches Gericht, liegt nahe. Um dies zu vermeiden, hatte sich der klagende Pharmagroßhändler im Stuttgarter Verfahren dann auch gar nicht erst auf die Rechtswidrigkeit einer Lieferung aus Holland berufen.

Die Erfahrungen mit Internet-Versteigerungen und dem Online-Musikvertrieb zeigen, dass die Old Economy mit Gerichtsprozessen dieser Art lediglich Zeit gewinnt - aufhalten kann sie die Entwicklung nicht. Verkrustete Vertriebsstrukturen, hohe Profite innerhalb einer vom Wettbewerb abgeschotteten Wertschöpfungskette und mangelnde Kundenorientierung sind eine ständige Einladung an die New Economy, mit Web-basierten Vertriebswegen und E-Commerce-Lösungen neue Wege zu beschreiten und mit "Kill-the-Middleman"-Strategien neue Wertschöpfungsketten zu schaffen.

Innovationshemmende GesetzeNoch sind solche Fälle rechtlich umstritten. Während einige Gerichte kein Problem damit haben, bestehende Regelungen wie das Arzneimittelgesetz zum Schutz von bestehenden Vertriebsstrukturen auch im Internet einzusetzen, sind andere Richter bestrebt, einen wettbewerbsneutralen Standpunkt einzunehmen, bis der Gesetzgeber - mit einigen Jahren Verzögerung - neue Regelungen geschaffen hat, die dem freiheitlichen Wirtschaftsmodell der Bundesrepublik besser entsprechen. Da wundert es kaum, dass immer wieder Klagen über die bestehenden Innovationshemmnisse und die mangelnde Internet-Eignung des Rechtssystems laut werden.

Lockerung der Gesetze in SichtIn den USA hat man die Bedeutung des Internet für die amerikanische Wirtschaft bereits Mitte der neunziger Jahre erkannt und eine hochrangige Regierungskommission ins Leben gerufen. Diese durchforstet die Gesetze systematisch nach ihrer Internet-Eignung und erarbeitet Vorschläge zur Beseitigung von Hemmnissen. Hierzulande sind inzwischen erste Ansätze - etwa die Lockerung des Rabattgesetzes und die jüngste Entscheidung zum Urheberrecht - erkennbar. Auch das deutsche Verbot des Internet-Versandhandels mit Medikamenten sieht Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) nicht mehr länger als haltbar an. Zudem ließen sich solche Verbote mit Lieferungen über Kuriere in die Bundesrepublik leicht umgehen. "Wir können keine Mauer um Deutschland machen", so die Politikerin.

*Jürgen Heilbock ist Rechtsanwalt bei der Sozietät Wessing in Frankfurt am Main

Abb: Preise für Medikamente in der EU

Arzneimittel sind in den Niederlanden deutlich billiger als in Deutschland. Der holländische Internet-Versender Doc Morris bietet eigenen Angaben zufolge Medikamente an, die um durchschnittlich 20 Prozent unter den Abgabepreisen der deutschen Apotheken liegen. Quelle: Industriewissenschafltiches Institut Wien