Mit Tintenfischen dem Computer von morgen auf der Spur:

Rechner sollen biologische Strukturen nachahmen

07.06.1985

Von CW-Mitarbeiter Egon Schmidt

Wenn man heute aus Japan hören kann, in elektronischen Forschungslabors des Industrieministeriums "MITI" werde mit Tintenfischen gearbeitet, so darf das eigentlich nur auf den ersten Blick verwundern. Denn gleich darauf erinnert man sich ja, daß vor knapp 200 Jahren ein gewisser Luigi Galvani in Bologna die Grundlagen der gesamten Elektrotechnik mit Froschechenkel-Versuchen gelegt hat.

Dennoch ist damit aber noch keineswegs klar, was Tintenfische mit der Erforschung denkbar neuer Computer-Strukturen zu tun haben sollen, die vielleicht erst nach Beginn des nächsten Jahrtausends halbwegs greifbare Gestalt annehmen werden. Aber Gen Matsumoto -er betreut die vielarmigen Meerestierchen - erläutert jedem Besucher seines Labors in der Wissenschaftler-Stadt Tsukuba gern, welchem Zweck die momentanen Arbeiten denn nun eigentlich dienen. "Ganz einfach: Wir wollen eines Tages einen Bio-Computer bauen."

So ein Bio-Computer, kann man hören, soll ein "informationsverarbeitendes System sein, das in seiner Funktionsweise dem Gehirn eines Lebewesens entspricht". Und wenigstens Matsumoto sieht auch schon dringend Bedarf an Strukturen dieser Art, denn "wir haben doch heute alle das Problem, daß die Rechner immer komplexer werden - und im gleichen Maße benötigen sie immer mehr und immer raffiniertere Software". Schon heute dauere es oft länger, das Betriebssystem für einen Rechner zu schreiben, als die Hardware selber zu entwickeln und auf Band zu legen. "Denken Sie bloß einmal an die Anwendungssoftware für eine große Bank - sie zu entwickeln, bis zu drei Jahren dauern."

Im Angesicht dieser Entwicklung wünscht sich nun nicht nur Matsumoto einen Computer, der "seine Programme einfach selber schreiben" soll. Aber er weiß auch, daß die heutigen Maschinen derartigen Forderungen in keiner Weise nachkommen können. Und auch die heute vielzitierten Rechner einer "neuen" Computer-Generation "werden dieses Software-Problem nicht lösen können, denn es rührt ja direkt von der überkommenden Struktur der heutigen Digital-Rechner her".

Ganz anders hingegen das Gehirn des Menschen, schwärmt Matsumoto: Es programmiere sich selber und es brauche dazu keinerlei von außen eingegebene Software. Die Frage aber ist: wieso?

Und gleich noch eine weitere Frage bewegt den japanischen Wissenschaftler: Nämlich die nach der unglaublichen Fehlertoleranz des Gehirns biologischer Systeme. Das Gehirn sei nämlich nicht nur unempfindlich gegen widrige Außen-Bedingungen wie erhöhte Temperatur, es bedürfe ja auch keiner Service-Mannschaft die regelmäßig vorbeischaut, und in vielen Fällen arbeite es auch dann problemlos weiter, wenn einmal partiell Defekte auftreten. Außerdem sei es eine Struktur, die sich - beim Wachsen - selbst organisiere.

Kampf gegen

Ausfallerscheinungen

Computer hingegen erschienen viel unpraktischer. Mit zunehmender Komplexität und große brauchen sie zusehends zuverlässigere Bauelemente, sollen sie nicht laufend gegen Ausfallerscheinungen ankämpfen müssen. Und sie werden, klagt Matsumoto, auch mit der anfallenden Wärme nur schwer fertig: Die unerwünschten Kalorien wieder loszuwerden, die beim Rechnen frei werden, sei immer noch eines der Hauptprobleme bei Hochleistungs-Maschinen. Außerdem kann man hinzufügen, ist es auch um die Fehlertoleranz, die bestimmte, mit redundanter Hardware arbeitende Rechner in unterschiedlich hohem Maße bieten, in keinem Fall jemals so gut bestellt wie um die Fehlertoleranz des biologischen Denkapparates.

Hat also das Gehirn nichts als Vorzüge aufzuweisen, vergleicht man es mit Rechnern? - Natürlich nicht, denn sonst hätte Computerpionier Konrad Zuse ja gar nicht erst eine Maschine zu entwerfen brauchen, die ihm, seinerzeit, in den 30er Jahren, die monotone baustatische Rechnerei - Zuse ist Bauingenieur -abnehmen sollte. Computer arbeiten in vielen Anwendungen um Zehnerpotenzen schneller und ermüdungsfreier als das Gehirn ihrer Schöpfer; Nervenzellen benötigen Schaltzeiten von Millisekunden Dauer, moderne Rechner aber haben nur Nanosekunden lange Gatter-Verzögerungszeiten. Und damit sind Computer immer dann überlegen, wenn es darum geht, nach einem ein für allemal festgeschriebenen Plan Stunde um Stunde vor sich hinzukalkulieren.

Das alles bedeutet natürlich, daß es doch sehr wünschenswert wäre, die Vorzüge beider Welten mit neuen Konzepten in irgendeiner Weise miteinander in Verbindung zu bringen. Also Systeme zu erarbeiten, die die Schnelligkeit, die Ermüdungsfreiheit und auch die Fehlerfreiheit der Maschine mit den typischen Leistungen eines Gehirns vereinen - beispielsweise mit der Fähigkeit zu dessen müheloser Erkennung selbst komplexer Muster, dessen vielfältigen Fertigkeiten bei der Verarbeitung von Sprache und auch dessen Leichtigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun: Etwa einem Redner zuzuhören und sich gleichzeitig, was dessen rhetorische Fähigkeiten betrifft, sein Teil zu denken.

Und hier ist nun der Punkt, an dem die Tintenfische ins Spiel kommen. Wer nämlich je eine Maschine mit gehirnähnlichen Eigenschaften bauen will, tut gut daran, das Gehirn eines Lebewesens zunächst gründlich zu studieren. Und hierzu wiederum eignen Tintenfische sich besonders gut, denn die verfügen vielleicht nicht unbedingt über starke Nerven, bestimmt aber über außergewöhnlich große, also relativ leicht untersuchbare. Ihre

sind nämlich bis zu 0,8 Millimeter dick.

Für seine Tintenfisch-Arbeiten mußte der Festkörperphysiker Matsumoto nicht nur eine Reihe raffinierter Techniken entwickeln, die es ihm erlaubten, die empfindlichen Tiere über längere Zeit in Tanks auf zuziehen. Er mußte sich auch Methoden ausdenken, wie man hinter die elektrischen Aktivitäten ihrer Nerven kommen könnte. Eine davon besteht darin, Nervenzellen an ihrer Außenseite mit einem Farbstoff zu versehen, der seine Farbe wechselt, sobald die Nervenzelle "feuert", also elektrisches Potential zeigt. Denn auf diese Weise kann man, mit Hilfe einer Matrix von 100 mal 100 Photozellen, viele Nervenzellen gleichzeitig beobachten, ohne dazu Elektroden in sie einbringen zu müssen.

Bio-Computer ist nur der erste Schritt

Alle Arbeiten Matsumotos und seiner rund zehn Mitarbeiter dienen vorerst noch nicht dazu, konkret schon einen Bio-Computer zu bauen. Sie sollen lediglich helfen, über die grundlegenden Konzepte, auf die man mit einiger Aussicht auf Erfolg werde setzen können, Klarheit zu gewinnen. Doch schon im kommenden Jahr dürften die Pläne konkreter werden, und der Wissenschaftler hofft, seine Arbeitsgruppe könne dann ganz erheblich ausgeweitet werden. Dann sollen "Systemingenieure, Materialwissenschaftler, Informatiker und Biologen gefragt sein".

Wäre Matsumoto in Japan der einzige, der Arbeiten in der skizzierten Richtung vorantreibt, könnte man ihn vielleicht als singulären, überoptimistischen Utopisten abtun - doch das gäbe ein völlig falsches Bild. Denn ähnliche Arbeiten, so kann man einschlägigen Berichten aus dem Land der aufgehenden Sonne entnehmen, laufen auch in den Labors von Firmen wie NEC, Mitsubishi Electric und Hitachi. Und dabei kann man von einem führenden Manager der Firma NEC sogar noch zu hören bekommen, daß es gar nicht allein das Ziel ist, "nur" einen Bio-Computer zu bauen - denn "wir haben viel breiter gesteckte Absichten", wie NEC-Forschungsdirektor Michiyuki Uenohara verlauten läßt. Man darf gespannt sein.