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Deutsches "Privatsphären-Paradox"

re:publica als Bühne für die Jeff-Jarvis-Show

14.04.2010
Jeff Jarvis arbeitet als Professor in New York, wählt die Demokraten und ist impotent.

Wer das wissen will, muss weder hinter dem Amerikaner in die Wahlkabine schleichen noch die Akte seiner Krebserkrankung lesen: Der 56-Jährige schreibt darüber offen in seinem Blog "Buzzmachine". Auf der Internet-Konferenz re:publica in Berlin hielt der Internet-Vordenker am Mittwoch ein engagiertes Plädoyer für mehr Offenheit im Internet. Die Blogger und Netz-Enthusiasten applaudierten kräftig - auch wenn einige Fragen offen blieben.

Wenn es um die Vorteile von Transparenz geht, nimmt der 56-Jährige seine eigene Krankheitsgeschichte als Beispiel. Im vergangenen Jahr diagnostizierten Ärzte bei ihm Prostatakrebs. "Männer sprechen nicht gern über ihren Penis, vor allem wenn er nicht richtig funktioniert", schrieb Jarvis. In seinem Blog machte er die Diagnose trotzdem öffentlich - und gibt sich heute froh. Er habe nicht nur zahllose gute Wünsche erhalten, sondern auch manchen nützlichen Tipp. Außerdem habe er andere Männer dazu motiviert, zum Arzt zu gehen.

In der Internet-Szene hat sich Jeff Jarvis den Ruf als Vordenker erworben. Gerade in Deutschland sorgt er mit seinen gegen den Strich gebürsteten Ansichten für Schlagzeilen - nicht zuletzt, weil er den oft kritisierten Internetkonzern Google fast vorbehaltlos verteidigt und in seinem Buch "Was würde Google tun?" sogar empfiehlt, von den Strategien des Suchmaschinen-Primus zu lernen. Wenn er zum größten deutschen Bloggertreffen kommt, ist ihm die Aufmerksamkeit sicher.

Der große Saal des Friedrichsstadtpalastes ist voll. Im Halbdunkel sieht man die Bildschirme der Laptops und Handys leuchten, mit denen viele Zuhörer in Echtzeit ihre Twitter-Kommentare abgeben - wenn es denn die ständig abreißende WLAN-Verbindung zulässt. Unten auf der breiten Bühne zelebriert Jeff Jarvis lässig seine Show.

Im Internet hört der Spaß auf

Nackte Tatsachen sorgen immer für Aufmerksamkeit - das weiß der ehemalige Journalist. Garniert mit Fotos entblößter schwitzender Leiber sagt er: "In Deutschland gehen die Menschen in die gemischte Sauna und lassen zu, dass ihre intimsten Körperteile von wildfremden Menschen gesehen werden - aber beim Internet hört der Spaß auf." Für viele im prüden Amerika ist so ein gemeinsamer Sauna-Gang undenkbar - daher spricht Jarvis vom "deutschen Privatsphären-Paradox".

Jarvis wirbt für die Vorteile der Offenheit: Für Privatpersonen, die dank Google und Facebook alte Schulkameraden wiederfinden, aber auch für die Öffentlichkeit, die so die Regierung kontrollieren kann. Das Problem sei nicht ein Mangel an Privatsphäre, sondern ein Mangel an Kontrolle. "Mit der Privatsphäre ist es wie mit einem Videorekorder: Weil er schwierig zu programmieren ist, nutzen die meisten die Standardeinstellungen."

"In der Gesellschaft von Nackten ist niemand nackt", spitzt Jarvis seine These zu. Er selbst lebe das vor: "Mein Schatten bei Google ist so groß wie Utah, mein Ego ist genauso groß", sagt er augenzwinkernd. Viel detaillierter werden seine Thesen allerdings nicht, die Probleme der völligen Offenheit wischt er weg. Aber was passiert, wenn die Berufsunfähigkeitsversicherung einem kranken Blogger keine Police mehr gibt?

Jarvis hat es dieses Mal leicht. Auf die Frage, wer blogge, hebt fast die Hälfte der Zuhörer im großen Saal die Hand; auch das "Cluetrain Manifest" - das den Einfluss digitaler Technologie auf Unternehmen beschreibt - wollen etliche gelesen haben. Der Applaus der digitalen Avantgarde ist warm, die meisten Twitter-Kommentare sind wohlwollend bis enthusiastisch.

Jarvis' Mission ist damit nicht zu Ende. Der Medienexperte ist als solcher mittlerweile auch ein Medienphänomen - dank seines vehementen Einsatzes für Google, seiner harschen Kritik an den deutschen Verlegern und seines medientauglichen Auftritts. Das zeigt sich auch in Berlin: Nach dem Vortrag schart sich eine Traube von Bloggern und Journalisten um den Amerikaner. Eine ganze Stunde gibt er im Foyer des Friedrichsstadtpalastes Interviews. Die Jeff-Jarvis-Show geht weiter. (dpa/tc)