Big-Bang-Implementierung bei Langnese-Iglo

R/3-Einführung: Operation am offenen Herzen

11.07.1997

Mit zwei Milliarden Mark Umsatz und 5000 Mitarbeitern ist Langnese-Iglo, eine Gesellschaft der Unilever-Gruppe, deutscher Marktführer für Eiskrem und Tiefkühlkost. Drei Produktionsstandorte produzieren rund 2000 Fertigwarenartikel und liefern sie über 50 Verkaufsniederlassungen an etwa 150000 Kunden.

Zur Unterstützung von Verwaltung, Produktion und Logistik diente bis zum vergangenen Jahr eine heterogene, weil gewachsene Informationstechnik. Dazu zählten Mainframes, Midrange-Systeme und Unix-Maschinen von IBM ebenso wie Rechner von Digital Equipment und Hewlett-Packard (HP). Für Langnese-Iglo bedeutete das, eine Vielzahl von Betriebssystemen (MVS, OS/400, AIX, Ultrix, VMS, HP-UX) und Datenbanken (VSAM, DB400, Oracle, RDB) pflegen zu müssen.

Genauso vielfältig präsentierten sich die Anwendungen: Es waren zumeist Eigenentwicklungen in Cobol, Assembler und C++, die für Planung, Einkauf, Produktion, Materialwirtschaft und Fakturierung entwickelt worden waren. Ergänzt wurde diese Softwarelandschaft durch R/2 von SAP im Finanz- und Rechnungswesen.

Die Auswirkungen einer solchen Infrastruktur sind bekannt: Das Gebilde ist hochkomplex und schwer zu handhaben, es weist unterschiedliche Datenstände und sehr viele Schnittstellen auf, die Kosten für Hardware, Software und Support der proprietären Systeme steigen ständig. Hinzu kommen die mangelnde Flexibilität, die nicht zufriedenstellende Unterstützung der Geschäftsprozesse sowie die Unsicherheit bei der mittel- bis langfristigen Planung und Budgetierung.

Viele dieser Probleme lassen sich durch eine Client-Server-Architektur auf der Basis offener Computersysteme und durch moderne betriebswirtschaftliche Standardsoftwarepakete lösen.

Als R/2-Anwender im Finanz- und Rechnungswesen waren die Hamburger mit der Software der SAP AG vertraut. Außerdem gilt R/3 im Unilever-Konzern als strategische Software. Nachdem der Lebens- und Genußmittelhersteller die Entwicklung des R/2-Nachfolgeprodukts eine Weile verfolgt hatte, kam er zu der Überzeugung, daß R/3 seinen Anforderungen gerecht werden würde. Hauptkriterium für diese Entscheidung war der Wunsch, eine Integration "von Wand zu Wand" zu realisieren.

Zudem hatte SAP versprochen, in späteren Releases eine Reihe von Features nachzuliefern, die die Hamburger zunächst vermißten. Dabei handelt es sich vor allem um die Funtkionen der Module Sales and Distribution (SD) sowie Production Planning (PP). Für SD sind Verbesserungen des Workflow angekündigt sowie die Möglichkeit des Parallelisierens von Datenbankzugriffen, wodurch die Performance steigen soll.

Beim Modul PP hingegen sollen die Elemente der Produktionsplanung stärker an die Bedürfnisse der Prozeßindustrie angepaßt werden. Einige Schlüsseltransaktionen will SAP überarbeiten, um den Durchsatz zu beschleunigen.

Bei der Hardwareplattform entschied sich Langnese-Iglo für HP.

Probleme gab es bei der Suche nach kompetenten R/3-Beratern. Schließlich konnte aber doch ein Expertenteam aus Mitarbeitern zweier Beratungsunternehmen (CAS-Nord und SPO Consulting) sowie der Herstellerfirmen HP und SAP zusammengestellt werden, zu dem sich für Teilaufgaben weitere Spezialisten gesellten. Als "Kooperationspartner" übernahm HP die tragende Rolle in diesem Projekt. Im Rahmen des Migrationsvorhabens nutzte Langnese-Iglo die Gelegenheit, wo immer möglich auch seine Prozesse und Abläufe zu überarbeiten. Dabei orientierte sich das Unternehmen am von R/3 vorgegebenen Standard. Allerdings gelang das nicht überall. Auf mangelnde oder überhaupt nicht vorhandene Funktionalität stieß das Projektteam beispielsweise im Bereich Warenlager-Management (speziell bei der Palettenlagerplatz-Verwaltung), bei der werksübergreifenden Produktions- und Materialplanung sowie bei der Einkaufskontrakt-Verwaltung und -Steuerung. Auch für die Schichtplanung, die Konditionenbehandlung in der Fakturierung sowie die Jahresumsatz- und Transport-Rückvergütung fehlten entsprechende Funktionen. Zudem ist im Zuge künftiger Release-Wechsel Nacharbeit angesagt, da einige Prozesse wegen des enormen Zeitdrucks nicht optimal umgesetzt wurden.

SAP hat für das Release 4.0 Verbesserungen hinsichtlich der Funktionalität in Aussicht gestellt. Langnese-Iglo wird im Hinblick auf die erwarteten Funktionserweiterungen einige seiner Prozesse überarbeiten, um seine Anforderungen optimal abzubilden.

Was das Vorhaben erschwerte, war die selbstauferlegte Forderung, das System nach einer Projektlaufzeit von nur zwölf Monaten, sprich: am 1. Januar 1997, in Betrieb zu nehmen. Grund für diese Eile waren die hohen Kosten, die der Mainframe und die zugehörige Betriebssoftware verursachten. Durch die kurze Laufzeit ließen sich zudem die Fremdberatungshonorare gering halten, denn Langzeitprojekte neigen erfahrungsgemäß dazu, ihre Budgets zu überschreiten. Durch die zügige Systemintegration blieben auch die Kosten für Support, Maintenance und Schnittstellen-Betreuung im Rahmen.

Zudem hätte sich das enorme Engagement aller Beteiligten wohl kaum über eine noch längere Zeitspanne aufrechterhalten lassen. Der Druck zum Handeln förderte schnelle Entscheidungen.

Noch im Januar 1996 wurden zunächst zwei Nicht-R/2-Applikationen - die zentrale Produktionsplanung und der Zentraleinkauf - auf die neue Plattform unter R/3 portiert. Die Ablösung der proprietären Systeme für Produktionsfeinplanung, Materiallogistik, Fertigungsaufträge und Fertigungs-Controlling erfolgte in einem Projektschritt mit der Umstellung der Fakturierung auf SD sowie der Migration der vorhandenen R/2-Applikationen.

Zwischen Weihnachten 1996 und Neujahr 1997 ging Langnese-Iglo an die schwierigste Phase des Projekts - die Gesamtintegration. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind im obenstehenden Kasten zusammengefaßt.

Migrationen von R/2 nach R/3 sollten mehrmals als Test durchgespielt werden, um ein Gefühl für den benötigten Zeitaufwand zu bekommen. Langnese-Iglo benötigte in fünf Testmigrationen zwischen 60 und 98 Stunden. Die Produktivmigration - einschließlich Datensicherungen und Abstimmungen - dauerte 94 Stunden.

Bei Massendaten gilt höchste Alarmbereitschaft - das traf aber auch schon auf R/2 zu. Wenn der Datenumfang gering ist, sieht alles oft recht gut aus - aber dann! Auch hier hilft nur testen, testen und nochmals testen. Das Bild von der Operation am offenen Herzen ist zumindest aus der Sicht eines IT-Profis keineswegs übertrieben.

Wie sogar im SAP-Geschäftsbericht 1996 angemerkt, war Langnese-Iglo der erste Anwender weltweit, der das R/3-Release 3.0 installiert hat. Die Gesamtinvestitionen für das Projekt lagen bei 13 Millionen Mark, wovon rund fünf Millionen auf Sach- und acht Millionen auf Personalkosten entfielen. Demgegenüber stehen Einsparungen, die folgende Ursachen haben:

-Effizienzverbesserungen und Kostensenkungen bei Hard- und Software sowie Personal,

-Reduzierung der Komplexität (in einem Bereich waren zuvor nicht weniger als sechs unterschiedliche Stammdatensätze zu pflegen),

-Wegfall von mehreren hundert Schnittstellen,

-Verbesserung der Support- und Maintenance-Struktur,

-höhere Flexibilität und die Möglichkeit, dem jeweiligen Bedarf entsprechend skalierbar zu investieren oder zu de-investieren.

Eigener Planung zufolge kann Langnese-Iglo auf diese Weise allein im IT-Bereich 25 Prozent ihrer bisherigen Kosten einsparen.

Aber die finanziellen Vorteile sind nicht allein ausschlaggebend. Was ebenfalls zählt, sind die Möglichkeiten für weitere Entwicklungen, die die neue Umgebung bietet: so die Realisierung eines optischen Archivs mit schnellen Zugriffen auf Geschäftsvorfälle, intelligente Disaster- und Recovery-Lösungen - angesichts der hohen IT-Abhängigkeit, der starken saisonalen Spitzen des Eisgeschäfts und der empfindlichen Produkte ein wesentlicher Punkt - sowie die bessere Adaption von Geschäftsprozessen und die Zukunftssicherheit.

Tips für die Einführung von R/3

- Unterschätzen Sie keinesfalls den Komplexitätsgrad von Client-Server-Umgebung im allgemeinen und R/3 im speziellen.

- Suchen Sie Ihre Partner - ob Berater oder Hardwarehersteller - sorgfältig aus. Nur wenige haben wirklich hinreichende Erfahrungen.

- Stellen Sie sicher, daß die beteiligten Unternehmen auch zur engen Kooperation bereit sind.

- Testen Sie die R/3-Funktionen sorgfältig. Überraschungen werden nicht ausbleiben (siehe nebenstehenden Kasten).

- Arbeiten Sie mit exakten Datenprofilen. Client-Server-Konfigurationen stehen nicht im Rezeptbuch.

- Betrachten Sie die Systemoptimierung als redundanten Prozeß. Systemeinstellungen und Tuning sind anfangs oft Glückssache. Da sich die Systemumwelt immer wieder verändert, muß regelmäßig getuned werden. Hier hilft nur testen.

- Akzeptieren Sie das Wort "Table Space" als ständigen Begleiter und dimensionieren Sie Budgets für Plattenerweiterungen möglichst üppig.

- Achten Sie auf ein exzellentes System-Monitoring, sonst wird die Migration beziehungsweise die R/3-Installationen zum Russischen Roulette.

- Rechnen Sie beim Umgang mit der grafischen Benutzeroberfläche von R/3 mit potentiellen Problemen. Das GUI-Handling hat sich als nicht trivial herausgestellt.

- Sorgen Sie für eine exakte Spezifizierung schneller und stabiler Netze sowie Netzwerkkomponenten. Sie sind die Voraussetzung für einen befriedigenden R/3-Betrieb im Remote-Modus.

Surprise, surprise

Für den Anwender hält R/3 die eine oder andere unangenehme Überraschung bereit. Beispiele dafür liefern die Module Produktionsplanung (PP) und Material-Management (MM). So hatte Langnese-Iglo nicht erwartet, daß PP nur eingeschränkte Möglichkeiten der Produktionsplanung aufweisen würde - insbesondere dann, wenn Fertigungslinien neu entworfen werden müssen. Zudem offenbarte die Applikation Schwächen bei der Darstellung von Kapazitätsbelegungs-Tableaus. Auch im Umfeld der Schichtplanung erforderte die Software erhebliche Ergänzungen. Die Serienplanung mit retrograder Materialverrechnung und die Abrechnung von Fertigungsaufträgen sind noch nicht voll ausgereift.

MM hingegen mangelt es derzeit an Funktionen für den Materialdurchfluß in den Fabriken. Dazu zählen: Chargenverfolgung, Stellplatzverwaltung/Lagertypen, Performance von Standardtransaktionen, Materialverteilung, Lohnverteilung, mehrstufige Abweichungsanalyse, Materialsperrungen, retrograde Materialverrechnung, Chargenfindung,Chargen-Handling und Inventurdifferenzen sowie Schichtplanung und Wareneingangs-Sperrfristen. Add-ons sind eher die Regel als die Ausnahme.

Angeklickt

Kostengründe ließen es der Langnese-Iglo GmbH ratsam erscheinen, ihre neue Standardsoftware-Umgebung in der für ein Unternehmen dieser Größenordnung rekordverdächtigen Projektlaufzeit von zwölf Monaten einzuführen. Dabei stießen die Mitarbeiter auf eine Reihe von unliebsamen Überraschungen. Projektleiter Hans-Dieter Credé schildert, wie er und sein Team diese Hürden gemeistert haben. Seine aus Erfahrung gewonnenen Ratschläge können anderen Betrieben helfen, einige der produktspezifischen Fußangeln von vornherein zu umgehen.

*Hans-Dieter Crede ist Information Technology Group Manager und Gesamtleiter des R/3-Projektes bei der Langnese-Iglo GmbH in Hamburg.