Wenn aus Germanisten IT-Profis werden

Quereinsteiger - Personaler sind geteilter Meinung

24.12.1999
von Ingrid Weidner* Je knapper das Personal in der IT-Industrie ist, desto bessere Chancen haben Quereinsteiger. Dennoch haben die ehemaligen Philosophen und Soziologen mit Vorbehalten zu kämpfen. Viele Arbeitgeber akzeptieren sie nur als billige Notlösung.

Viele Jobs rund um das Internet eignen sich besonders gut für einen erfolgreichen Quereinstieg. Der studierte Germanist Harald Taglinger entschied sich Mitte der 90er Jahre, den Job als Pressesprecher gegen den eines Online-Redakteurs einzutauschen. Das Projekt Europe Online aus dem Burda-Verlag bot ihm die Chance, einen ersten Eindruck von der Internet-Welt zu bekommen. Damals gab es wenige Spezialisten und jeder, der sich mit dem Web beschäftigte, war mehr oder weniger ein Quereinsteiger.

Vor Taglinger lagen anstrengende Tage und kurze Nächte. "Anfangs, wenn man sich mit dem Medium beschäftigt, läuft das Hirn heiß. Das erste halbe Jahr war ein Horrortrip." Hilfreich für den erfolgreichen Einstieg war ein Netzwerk von Kollegen, die ebenfalls im Online-Umfeld arbeiteten, und die Erkenntnis, daß es nicht möglich ist, immer alles zu wissen. "Irgendwann mußte ich lernen, mit einer gewissen Unsicherheit zu leben. Je mehr ich wußte, desto mehr Fragezeichen entstanden."

Seit 1997 arbeitet der 34jährige bei Microsoft. Dort ist er für Design und Struktur der deutschen Site zuständig. Zu seinem Job als Producer gehören neben einer großen Portion Technikbegeisterung viel Organisationstalent und fundierte IT-Kenntnisse. "Ich brauche eine rasche Auffassungsgabe und die Fähigkeit, täglich alles wegzuwerfen, denn jede Innovation hält heute nur sechs bis neun Monate. Außerdem muß ich mich immer wieder selbst in Frage stellen können."

"Während meines Studiums Anfang der 80er Jahre habe ich gejobbt, Rechner herumgeschleppt und aufgestellt", so Andreas Wieland, 45, "irgendwann wurde ich gefragt, ob ich auch die Programme aufspielen kann." Er konnte. Und die Sache fing an, den angehenden Soziologen zu interessieren. In seiner Freizeit las er fleißig Fachbücher und schrieb kleinere Programme.

An der Universität sattelte Wieland auf Philospophie um, und nach dem Magister ging es mit einer Promotion weiter. Um sein Studium zu finanzieren, arbeitete er weiterhin in kleineren DV-Firmen. Aus dem Doktortitel wurde nichts, denn Wieland entschied sich gegen die akademischen Weihen und für die High-Tech-Karriere.

In den kleinen Firmen, in denen er jobbte, wollte er auf keinen Fall bleiben, denn da gab es zwar jede Menge Arbeit, aber wenig Geld. Seit 1986 arbeitet er im IT-Bereich der Hypo-, später dann Hypo-Vereinsbank. Inzwischen ist Wieland Projektleiter für NT-Programmierung und Systemsoftware.

"Entscheidend für mich waren Interesse und Geld", so seine lapidare Erklärung für die IT-Laufbahn. "Ich glaube, daß die IT intellektuell reizvoll sein kann."

Viele Geisteswissenschaftler suchen in der Informationstechnik ihr neues Glück. Allerdings funktioniert das nicht immer. Gerade die Bewerber ohne formale Qualifikationen nehmen die Personalabteilungen besonders genau unter die Lupe. Wilhelm Kahn von der Deutschen Bank äußert sich kritisch. Es komme sehr auf den Einzelfall an, denn die guten Gehälter lockten auch Leute an, die nicht über die geeigneten Qualifikationen verfügten.

Der Personaler erwartet eine breite Basis an DV-Kenntnissen. Neben den Erfahrungen kommt es besonders darauf an, ob der Bewerber in das Team paßt. Studierte Informatiker fühlen sich oft zu Management-Aufgaben berufen, so ist immer wieder von Personalchefs zu erfahren. Höhere Einstiegsgehälter und schnellere Aufstiegschancen sehen sie als natürliches Vorrecht an. So mancher talentierte Quereinsteiger läßt sich von solchen Auftritten beeindrucken, im schlimmsten Fall auch einschüchtern.

Bei den Basisqualifikationen sind sich die Personalexperten einig: Soziale Kompetenzen, Affinität zur Technik und fundierte Computerkenntnisse sind das Minimum. Trotzdem ist nicht jeder für die Herausforderungen gerüstet. "Es reicht uns nicht, daß der Bewerber das Wort Computer buchstabieren kann", so Sabine Hahn, Personalreferentin bei der Gesellschaft für Zahlungssysteme (GZS) in Frankfurt am Main.

Sie sucht für das Dienstleistungsunternehmen vor allem Organisationsprogrammierer und Systemanalytiker. Entscheidend für die Einladung zum Vorstellungsgespräch ist nicht der formale Abschluß, sondern die Fachkenntnis. "Wie und wo der Bewerber diese erworben hat, ist für uns nicht entscheidend", so die Personalexpertin, "aber dasein müssen sie". Dazu gehört Know-how in unterschiedlichen Betriebssystemen und mindestens einer Programmiersprache.

Im Umgang mit Quereinsteigern sei eine fundierte und gezielte Personalführung wichtig, so der Abteilungsleiter einer Münchner Bank, die ebenfalls gute Erfahrungen mit Nichtinformatikern in der IT-Abteilung gemacht hat. Diese Mitarbeiter müsse man besonders fördern, damit sie ihre fachlichen Kenntnisse auch entfalten können. Die hauseigene Entwicklungsabteilung beschäftige durchaus auch Autodidakten und sehe die studierten Informatiker nicht als einzig interessante Kandidaten an.

Werner Dostal, Direktor am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, erkennt hier eine Ursache für zukünftige Schwachstellen der Software-Entwicklung. 1998 waren 78 Prozent der IT-Fachleute angelernt. Dostal hält dadurch die Professionalisierung des Berufes für gefährdet und fordert verbindliche Standards, um die Qualität der Arbeit zu sichern. Sein Analogieschluß ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Ein Arzt muß eine gewisse Ausbildung durchlaufen, bevor er eine Approbation erhält. Klare Aus- und Weiterbildungskonzepte seien nötig, denn schließlich möchte niemand von einem Klempner operiert werden.

Die Motive vieler Unternehmen sind einfach umschrieben: Sie brauchen Mitarbeiter, damit ihr Laden läuft. Personalbeschaffungs-Konzepte fehlen in den meisten Fällen. Schnelligkeit ersetzt eine langfristige Strategie. "Die Branche lebt von der Hand in den Mund", so Dostal, und darunter leidet vor allem die Qualität.

Beim Münchner Softwarehaus sd&m schaffen es nur wenige fachfremde Kandidaten, die Verantwortlichen von ihrem gewünschten Richtungswechsel zu überzeugen. "Es gibt eine Handvoll Beispiele, wo es geklappt hat", so Geschäftsführer Dirk Taubner. Bringt ein Bewerber gute Noten, Programmierkenntnisse und eine Portion Begeisterung mit, kann ein Zeitvertrag mit reduziertem Gehalt beiden Seiten als Testphase dienen.

Einfacher haben es Naturwissenschaftler, in der IT-Branche Fuß zu fassen. Ernst Denert, Mitglied der Geschäftsleitung bei sd&m, ist besonders kritisch, wenn es um Seiteneinsteiger geht. "Aus einem guten Turner wird mit 25 Jahren kein erfolgreicher Fußballer mehr", so seine Einschätzung. "Bei Mathematikern und Physikern kann ich mir einen Einstieg bei uns gut vorstellen, denn sie lernten im Studium strukturiertes und mathematisches Denken. Bei den Geistes- und Sozialwissenschaftlern sehe ich das sehr kritisch."

Aber ist ein diplomierter Physiker mit einem umfangreichen theoretischen Wissen in einem IT-Unternehmen überhaupt ein Quereinsteiger, nur weil ihm eine bestimmte Programmiersprache fehlt? Matthias Kügel, Software-Entwickler bei der Markant Software GmbH in Kaiserslautern, arbeitet seit Dezember 1996 in der Abteilung Softwaredesign. Nach dem Diplom in Physik an der Universität Erlangen waren die Jobs für Physiker dünn gesät. Ein sechsmonatiger Vertrag war zwar ein guter Anfang, aber dann ging die Suche für den heute 31jährigen wieder los. Ein einjähriger Weiterbildungskurs für Akademiker mit dem Titel "Innovations-Management und Systementwicklung" bot ihm eine gute Möglichkeit, seine Computerkenntnisse auszubauen. Nach dem Kurs war bereits die dritte Bewerbung erfolgreich.

"Momentan arbeite ich an einem Warenwirtschaftsprogramm; mit Physik hat das nichts mehr zu tun, dafür sehr viel mit abstraktem Denken, selbständigem und strukturiertem Arbeiten. Ich muß komplexe Zusammenhänge erkennen, darstellen und erklären", so Kügel. Und das sind Fähigkeiten, die er im Studium gelernt hat.

Nicht jeder Quereinsteiger strebt das höchste Treppchen der Software-Entwicklung an. Dazwischen gibt es ein breites Spektrum an Jobs, für die echte Enthusiasten und talentierte Autodidakten gefragt sind. Für ein IT-Dienstleistungsunternehmen kann ein passionierter Atari-Spielefreak, der sich mit viel Eigeninitiative Hard- und Softwarekenntnisse angeeignet hat, der ideale Bewerber sein. Oft ist der studentische Nebenjob das Sprungbrett in den Beruf. Allerdings gibt es Aufgaben, zu deren Lösung ein Informatikstudium unumgänglich ist. In jedem Fall stehen vor dem Erfolg harte Arbeit und eine fundierte Schulung, sonst bleibt der hochdotierte Job eine Fata Morgana.

*Ingrid Weidner ist freie Journalistin in München.